Werner Söllner: Zu Peter Huchels Gedicht „Unter der blanken Hacke des Monds“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Huchels Gedicht „Unter der blanken Hacke des Monds“ aus Peter Huchel: Gedichte. –

 

 

 

 

PETER HUCHEL

Unter der blanken Hacke des Monds

Unter der blanken Hacke des Monds
werde ich sterben,
ohne das Alphabet der Blitze
gelernt zu haben.

Im Wasserzeichen der Nacht
die Kindheit der Mythen,
nicht zu entziffern.

Unwissend
stürz ich hinab,
zu den Knochen der Füchse geworfen.

 

 

Nicht wir rufen das Vergangne an

Ein Altersgedicht. Peter Huchel näherte sich den Siebzig, als er es schrieb. Es spricht von der Trauer dessen der weiß, daß er unwissend sterben wird. Es spricht wie aus der Ferne zu seinen Lesern. Und es ist aus einer großen Distanz des Verfassers zu sich selbst entstanden. Der Tod ist Peter Huchel gerade eine Zeile wert. Er klagt nicht darüber, also braucht er auch keinen Trost. Den Schmerz des Abschieds teilt er wortlos mit. Er weiß, daß der Tod wie der Traum vom Leben in der Kindheit beginnt.
1931 schrieb Huchel über sich selbst:

Er liebt die deutsche Sprache; sie ist das einzige, was er geerbt hat.

Er dem die Schrift als Mittel der Verständigung mit sich und der Welt vielleicht das Kostbarste war, vermißt die Kenntnis einer anderen Schrift. Das „Alphabet der Blitze“ Flammenschrift, Zeichen einer aus undeutlichem Ursprung wirkenden Gewalt – das Menetekel, das sich aus der Geschichte fortsetzt in die Biographie: Er kann es nicht entziffern.
Huchels Gedichte sind Gleichnisse seiner Zeit. Auch dieses. Gleichnis einer dunklen Epoche, erst von Kriegen verwüstet, dann bitter gemacht von der Lüge, schließlich versteinert von verordnetem Schweigen und von Einsamkeit. Wer hinausschaut ins Dunkel, hell von Gewittern sieht sie im Fenster: die „Wasserzeichen der Nacht“ die Urbilder, Muster. Ihr Ursprung, wie sie im Anfang entstehen – dies zu wissen wäre wichtig zuletzt. Auch eine Art von Weisheit. Aber kein Trost für die Gewißheit des Todes. Wer sich zeit seines Lebens nicht belogen hat, wird sich auch zuletzt nicht täuschen wollen. Huchel bleibt trostlos: Wer das Urbild von Hoffnung, Traum und Scheitern nicht entziffern kann, wird unwissend sterben.
In diesem Gedicht spielt Natur eine doppelte Rolle: Sie ist Scharfrichter und Schafott zugleich. Der Mond, vor und nach Matthias Claudius Glanzstück vieler deutscher Verse – auch dem verschlafensten Vorposten der Moderne geht da ein Lichtlein auf: Der Fallmeister zieht blank, hebt seine Hacke, bevor der tote Balg hinabstürzt, entfernt wird aus der Abdeckerei. Und für den Unwissenden gibt es keine Trauerfeier mit Schönschrift im Stein und Seitenblicken auf die Nachwelt, er wird auf den Friedhof der toten Tiere geworfen, zu „den Knochen der Füchse“. Man kann dieses Gedicht als lyrisches Dokument der Resignation lesen, als Gleichnis vom elementaren Verlust der Hoffnung, als Eingeständnis des Scheiterns eines Schriftstellers, der schon als junger Mensch von sich sagte:

Er fängt früh damit an, lebensuntüchtig zu denken.

Der schon sehr früh viel Zeit mit Erinnern verbrachte, mit dem Versuch, Vergangenheit zu entziffern: „Es wäre aber ein Irrtum, hierin nichts anderes sehen zu wollen als eine gewaltsame Auffrischung verblaßter Erinnerungen: denn nicht wir rufen das Vergangene an, das Vergangene ruft uns an“, heißt es 1932. „Unter der schwindenden Sichel des Monds“ – so fängt ein älteres Gedicht an. In der ersten, kurz nach dem Krieg geschriebenen Fassung heißt es:

In der schwindenden Sichel des Mondes
kehrte ich heim und sah das Dorf,
verödete Häuser und Ratten.

Über die Asche
gebeugt, brannte mein Herz.

Das Gedicht heißt „Heimkehr“. Fünfundzwanzig Jahre später ist der Mond eine „blanke Hacke“, die Ratten sind „den Knochen der Füchse“ gewichen; auch die Magd, helle Frauenfigur aus Huchels märkischer Kindheit, im frühen Gedicht gealtert und verwandelt in „die Mutter der Völker“, ist verschwunden. Und ist doch nicht vergangen. Ihre Umrisse sind noch sichtbar im „Wasserzeichen der Nacht“, noch zu entziffern in der „Kindheit der Mythen“.

Werner Söllner, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993

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