William Carlos Williams: Poesiealbum 112

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von William Carlos Williams: Poesiealbum 112

Williams/Pfeifer-Poesiealbum 112

DONNERSTAG

Ich habe meinen Traum geträumt, wie andere auch,
und er ist zu nichts geworden, und so
steh ich nun hier, sorglos,
die Füße in den Boden gestemmt
und schaue hinauf zum Himmel –
ich spüre an mir meine Kleider,
das Gewicht meines Körpers in meinen Schuhen,
die Krempe an meinem Hut, die Luft, die ein und aus
durch meine Nase geht, und sage mir: es ist ausgeträumt.

Übertragung Hans Magnus Enzensberger

 

 

 

William Carlos Williams

William Carlos Williams hat über fünfzig Jahre seines Lebens in seinem Geburtsort, dem Städtchen Rutherford/ N.J., im Nordosten der USA zugebracht. Er war Armenarzt. Diese biografische Einzelheit ist aufschlußreich für eine Poesie, die dem Einfachen, Unbeachteten mit Würde begegnet. Er gilt nach Walt Whitman als einer der großen Erneuerer der Dichtung seines Landes, und wahrscheinlich beginnt erst mit ihm das, was man eine spezifisch amerikanische Poesie nennen kann. Williams hat das amerikanische Idiom radikal zur Literatursprache erhoben und damit zugleich die lange genug als antipoetisch geltende Realität des Alltags ins Gedicht genommen. Sein stiller Einfluß ist noch heute weltweit.

Aus Oskar Davičo: Poesiealbum 111, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1976

Stimmen zum Autor

Williams ist der seltenen Species der Erfinder zuzurechnen, jenen Autoren, die einen Anfang setzen und Überlieferungen, statt sie aufzunehmen, stiften.
Hans Magnus Enzensberger

Ein Gedicht ist eine kleine (oder große) Maschine, hergestellt aus Worten. Nichts an einem Gedicht ist sentimentaler Natur; damit will ich sagen: es darf so wenig wie irgendeine andere Maschine überflüssige Teile enthalten. Seine Bewegung ist eine Erscheinung eher physikalischer als literarischer Art.
William Carlos Williams

Verlag Neues Leben, Klappentext, 1977

 

William Carlos Williams: die Demokratisierung der Metapher

Wenn William Carlos Williams, der Außenseiter unter den amerikanischen Lyrikern, in den fünfziger Jahren in den Mittelpunkt der literarischen Szene rückte, dann geschah dies nicht etwa, weil der Dichter sich entscheidend gewandelt oder gar Konzessionen an den allgemeinen Geschmack gemacht hatte, sondern im Zusammenhang mit den veränderten kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Die jungen Intellektuellen waren es müde, sich ihre Identität weiterhin von den Europäern zu borgen, wie das nach- und nebeneinander Henry James, Gertrude Stein, die Erzähler der lost generation sowie die Lyriker Pound und Eliot getan hatten. Die neuen amerikanischen Schriftsteller, allen voran die der beat generation, versuchten, ihr Land wieder zu entdecken. Und hierzu setzten sie als erstes die Regeln des new criticism außer Kraft, die den Autor mit seinen seelischen, sozialen und existentiellen Problemen total ignorierten und die in der Poesie nichts weiter aufzuspüren trachteten als implizite Formgesetze und sprachliche Schönheiten, rein ästhetische Kategorien also, die zu realisieren – jedenfalls der Ansicht John Crowe Ransoms nach – nicht einmal Shakespeare vermocht hatte, weil dieser „weder ein Aristokrat war noch auf der Universität technische Fähigkeiten entwickelte, sondern sich dem niederen Beruf des Schauspielers hingab, zusammen mit dem Drama aufwuchs und nie die Qual jenes schrecklichen Problems zu erfahren hatte: des Problems der poetischen Strategie“. Es geschah fast zwangsläufig, daß die jungen, um Neuorientierung bemühten Künstlertemperamente auf Williams stießen, den passionierten Amerikaner, der sich – nach einigen Studienjahren, die ihn bis nach Europa (nach Genf und Leipzig) führten – in seinem Geburtsstädtchen Rutherford, New Jersey, als Arzt niedergelassen hatte, um immer mehr mit seinem Ursprungsmilieu zu verwachsen.
Williams, der Dichten nicht als eine zerebrale und zelebrierende Angelegenheit, sondern als eine beiläufige, doch sehr intuitive Tätigkeit begriff, die auf schlichte unaufwendige Art neben der praktischen Arbeit herlief und bisweilen unmittelbar aus dieser hervorging, konnte den um ein neues Selbstverständnis ringenden jungen Lyrikern von echtem Nutzen sein. Die Beat-Autoren, vor allem aber Creeley und die anderen Repräsentanten der (sehr formbewußten) Black-Mountain-Gruppe, fanden in Williams einen Mann, von dem sie substantiell und auch methodisch etwas lernen konnten:

JUNGE FRAU AM FENSTER

Sie sitzt mit
Tränen auf

der Wange
die Wange auf

der Hand
das Kind

auf dem Schoß
seine Nase

gegen die Scheibe
gepreßt

In den besten von Williams’ lapidaren Arbeiten vereinigten sich fast alle Qualitäten, die sonst in der amerikanischen Dichtung nur singulär anzutreffen waren. Williams besaß den demokratischen Geist eines Walt Whitman, er verlor sich aber nicht wie sein Vorgänger, der Dichter „vom fischförmigen Paumanok“, in rhetorischen Figuren und additiven Konstruktionen, sondern praktizierte, was bei diesem lediglich Programm gewesen war; Williams, inhaltlich ein minuziöser Realist und handwerklich ein kaum weniger raffinierter Gestalter als E.E. Cummings, sang „das Selbst, den Einzelmenschen“ in faszinierender Detailfreudigkeit und schillernder Individualität:

EINE ARME ALTE FRAU

kaut eine Backpflaume auf
der Straße eine Tüte voll
davon in der Hand

Sie schmecken ihr gut
Sie schmecken ihr
gut. Sie schmecken
ihr gut

Das sieht man ihr an
wie sie sich hingibt
wie sie saugt an der halben
Frucht in der hohlen Hand

Wie sie sich labt
Ein reifer Pflaumentrost
schwebt in der Luft
Sie schmecken ihr gut

Gemeinsam mit Edgar Lee Masters und Carl Sandburg gebührt Williams das Verdienst, die Tradition Whitmans fortgesetzt und den amerikanischen Durchschnittsmenschen als ein Geschöpf mit einer wesentlich sozialen Komponente im Gedicht sichtbar gemacht zu haben. Doch während Masters in seiner Spoon River Anthology die Sprache nur als ein Vehikel benutzte, mit dessen Hilfe seine gestorbenen und auf dem Friedhof von Spoon River liegenden Protagonisten ihre bitteren Lebensgeschichten vor das Tribunal des Lesers transportieren konnten, und während Sandburg aus Begeisterung für Amerika sentimental wurde und sich um die präzise poetische Benennung kaum Gedanken machte, richtete Williams sein Augenmerk nicht nur auf das Sujet, sondern auch auf Idiom und Stil. Williams hat sich sein Leben lang die Erfahrungen des Imagismus zunutze gemacht, das heißt, er hat die Umgangssprache verwandt, sich nahe ans jeweilige Objekt gehalten, unnötigen verbalen Ballast vermieden, die präfigurierten Metren- und Strophenmuster durch spontane und adäquatere Lösungen ersetzt und sich der unmittelbaren Wirkung bildhaften Redens bedient. Pounds Formel „Nur die Emotion hat Dauer“ ist von keinem Dichter, Pound inbegriffen, so gründlich und über einen so langen Zeitraum hinweg befolgt worden wie von Williams, der durch die Anwendung des imagistischen Verfahrens sprachlichem Naturalismus zu entgehen vermochte, ohne daß er zugleich gezwungen war, auf die Realisierung seiner spezifischen amerikanischen Themen zu verzichten. Die Texte, die Williams frühzeitig schreiben wollte und die er – unbeirrt von allen literarischen Moden und Gruppierungen – tatsächlich schrieb, hatten nichts mit den (zunächst ästhetisierenden und später, nach dem Ersten Weltkrieg, immer mehr mythologisierenden) Bemühungen der an Europa und am abendländischen Erbe orientierten Emigranten Pound und Eliot zu tun; Williams schwebte eine Dichtung vor, die ihren Ursprung hatte „in halblauten Worten, wie ein Arzt sie jeden Tag von seinen Patienten vernehmen kann“.
Williams besaß eine für einen Lyriker ungewöhnliche Aufgeschlossenheit für die Dinge der Umwelt. Seine Subjektivität verharrte stets solange in ichloser Latenz, bis sie durch einen äußeren Anstoß geweckt wurde. Nun erst aktivierte sich das Ego. Es projizierte eigenes Empfinden, weIches es sodann im spontanen Akt des Erkennens bzw. im Prozeß poetischen Benennens gewahrte, nun bereits vom Ich getrennt, also (scheinbar) verobjektiviert:

DER ROTE HANDKARREN

so viel hängt ab
von

einem roten Hand-
karren

glasiert vom Regen
naß

bei den weißen
Hühnern.

Der Imagismus hat bekanntlich wesentliche Anregungen durch den Umgang mit fernöstlicher, speziell japanischer Lyrik erfahren. Und fraglos wäre Williams’ Technik des bildhaften Zugriffs auf Externes nicht möglich gewesen ohne gewisse Anregungen der Haiku-Poesie, wie hier durch ein Gedicht Bashôs (1644–1694) verdeutlicht werden soll:

So viele Dinge
Ruft ins Gedächtnis mir
Die Kirschblüte…

Wenn jedoch der Haiku, gemäß seiner essentiellen Abkunft vom Zen-Buddhismus, darauf abzielt, die Phänomene zu so etwas wie bedeutungslosen Wolken zu machen, die den – von Übung zu Übung freier werdenden – Geist durchziehen, dann entsteht bei Williams ein eher statisches Verhältnis zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem. Die Libido, einmal zum Gegenstand geronnen, bleibt in ihrer materiellen Kompaktheit beschlossen, sie ist ästhetisch gefangen wie in einem Stilleben. Die Fülle des Vitalen wird lediglich angedeutet, die menschliche Menge ist nur durch einzelne Vertreter repräsentiert, und der Raum erscheint in übersichtlicher Begrenzung. Williams’ Dinge – im Unterschied zu denen der Haiku-Meister – haben nicht die Aura des Ontologischen, sie wirken wie unwiderruflich im Entwicklungsbad der Geschichte gewässerte Photographien.
Die Lyrik Williams’ ist verortet. Sie entstammt einem definitiven Milieu, und sie ist in einer Sprache geschrieben, die ein für allemal diesem Milieu und der konkreten Zeit des Autors zugehört. Das konnte Eliot zu der boshaften Bemerkung hinreißen:

Williams ist ein Dichter, dem man eine gewisse lokale Bedeutung möglicherweise zubilligen kann.

Was in den zwanziger Jahren noch ein Anlaß zu einer Herabsetzung war, sollte sich jedoch schon dreißig Jahre später als ein Grund zur Bewunderung erweisen. Vermutlich allerdings verkannten die meisten der jüngeren Dichter, die in Williams plötzlich so etwas wie einen Vorkämpfer ihrer eigenen forcierten Bestrebungen sahen, den Poeten aus Rutherford kaum weniger, als Eliot ihn verkannt hatte. Williams war kein Mann der Revolte. Er hatte keine Ambitionen, die Verhältnisse radikal zu ändern. Und auch poetisch insistierte er nicht so sehr auf Kommendes, auf neue stilistische und geistige Abenteuer als auf eine Welt, die bereits vergangen war. Williams’ Regionalismus, seine illusionslose Liebe zu Amerika, hatte von Anfang an weniger futuristische als nostalgische Züge getragen. Dieser Dichter stand dem Empfinden eines Sherwood Anderson – oder auch eines Robert Frost – näher als den Überzeugungen der politischen Linken, mit denen er zwar sympathisierte, dies jedoch nicht, weil er für mehr gesellschaftlichen Dynamismus, für rigorose Umgestaltung der Lebensformen war, sondern vielmehr aus affektivem Protest gegen den unaufhaltsamen Verschleiß durch den zivilisatorischen Progreß:

Wenn ich heute durch Rutherford gehe, durch die Main Street mit ihren neonbeleuchteten Drug-Stores und ihren Maklerbüros, eins am andern, so fällt es mir schwer, mir das Dorf vorzustellen, in dem ich aufgewachsen bin. Damals gab es keine Kanalisation, keine Wasserleitung, nicht einmal Gas, und schon gar keine Elektrizität, weder Telefon noch Trambahn. Der Gehsteig bestand aus hölzernen Planken, auf Balken genagelt; Wespen hatten ihre Nester unter den Brettern und schwärmten zwischen den Ritzen aus, wenn wir darüberschritten […] Wir hatten Senkgruben im Hinterhof und Scheunen wie die Bauern – all dies zehn Meilen weit vom Herzen New Yorks !

Das Amerika, das der 1883 geborene Williams in seiner Lyrik beschwor, war wesentlich mitbestimmt durch die Komponente der Erinnerung, Williams, weit entfernt von selbstsuggerierter moralischer Unabhängigkeit, von gespielter geistiger und seelischer Autonomie, starrte voll unterdrückten Gefühls auf seinen Hinterhof oder er sah sich in den Straßen der Nachbarschaft um. Und von gewissen alten Dingen, die ihn umgaben und die fast schon das Stigma bloßen Gerümpels trugen, empfing er seine immensen, ihn zutiefst berührenden Impulse, die ihm wieder die Kraft gaben, dem ernüchternden Fortschritt eine Weile zu trotzen:

In meinen jüngeren Jahren
war es mir klar:
es galt aus mir etwas zu machen.
Älter geworden
geh ich durch Seitenstraßen
und bewundre die Häuser
der ganz Armen…

Dieses Gedicht, das den bezeichnenden Titel „Pastorale“ trägt, endet mit dem leidenschaftlichen Ausruf:

Niemand
will einsehen, daß all dies
von größter Bedeutung ist für die ganze Nation.

Anders als der sich an der freien Luft der noch jungen amerikanischen Demokratie entfaltende Walt Whitman, besaß Williams in der politischen Öffentlichkeit nur ein fragwürdiges Korrelat, ebenso wie er mit der Dichtung lediglich über ein unzulängliches Mittel der Kompensation verfügte:

Laß die Schlange warten
unter ihrem Kraut
und schreib mit Worten
ruhig, schnell, hart
im Schlagen, still im Warten,
schlaflos,

– Menschen und Steine versöhnt
allein die Metapher.
Stell zusammen, (Gedanken
sind nur in Dingen.) Erfinde!
Steinbrech ist meine Blume, die sprengt
den Fels.

Dieses Gedicht, „Eine Art Lied“ überschrieben, ist Williams’ verklausulierte Poetologie. Es ist das Credo eines Mannes, dem die Diskrepanz zwischen Sache und Sprachbild vollauf bewußt ist, der aber dennoch der Metapher nicht entraten mag, weil sie allein die emotionale Übersprunghandlung vollbringen, den notwendigen Brückenschlag zwischen Ich und Welt leisten kann.
Williams’ Methode zu dichten war überall dort erfolgreich, wo der Autor sich damit begnügte, der Wirklichkeit begrenzte Ausschnitte zu entnehmen. Wenn er konkrete Dinge ins Auge faßte, sie dem größeren Zusammenhang enthob und genaue Aussagen über ihre Topographie, ihre materielle Beschaffenheit und ihre sinnliche Qualität machte, gelangen ihm exemplarische Aussagen. Veränderte er jedoch die Sichtweise und wählte er die Totale, so erwies sich sein imagistisches Verfahren, der Welt mit glimpses, mit raschen Blicken beizukommen, als völlig unbrauchbar. Das zeigte sich vor allem in Paterson, Williams’ Versuch, mit der großen lyrischen Form umzugehen und hierdurch in eine Art Wettbewerb zu Dichtern wie Pound (Cantos), Hart Crane (The Bridge), MacLeish (Conquistador) und Eliot (Four Quartets) zu treten. Paterson ist das Konterfei einer Stadt. Als ein Dichter der kleinen Zeit- und Raumeinheit mußte Williams jedoch an diesem Projekt scheitern, denn die technische Komplexität moderner Urbanität ist nicht darstellbar ohne übergreifende Maß- und Ordnungsstrukturen, wie überhaupt das lange Gedicht wohl nicht plausibel zu realisieren geht ohne das Heranziehen metaphysischer oder historisch-politischer Ideen. Das lange Gedicht, will es nicht unübersichtliches Wirrwarr, nicht bloße Materialsammlung sein, bedarf zu seiner Konzeption eines (fiktiven) Beobachtungspostens außerhalb der temporären Kontinuität; es braucht etwas wie Eliots späte parmenidische Haltung, die Gültigkeit durch Verallgemeinerung zu erzielen versuchte und die alle Konkreta so gut wie ganz zugunsten absoluter Kategorien aufhob, wobei das Reale zu etwas quasi Irrealem degenerierte, das nur noch bedeutsam war in bezug auf anderes Real-Irreales:

Jetzige Zeit und vergangene Zeit
Sind vielleicht gegenwärtig in künftiger Zeit
Und die künftige Zeit enthalten in der vergangenen.

Paterson, zunächst als vierteiliges Gedicht geschaffen, wurde von Williams erweitert, doch war das Unternehmen, das streckenweise auf eine naive Personifizierung des Handlungsortes als Mr. Paterson hinauslief, auch jetzt nicht auf befriedigende Weise zu Ende zu bringen. Williams war eben kein Mann der Begriffe und Klassifikationen, kein Entdecker von abstrahierenden Regeln. Was für interessante Einzelheiten seine sensualistische Begabung an den Tag zu bringen wußte, es fehlte an einem die Vielfalt fassenden Rahmen. Williams, der (bevor er sich für Paterson – nebenbei gesagt: die Geburtsstadt Allen Ginsbergs – entschied) sogar daran gedacht hatte, Manhattan zum Schauplatz des Versepos zu machen, besaß nicht das Naturell, anderes zu kreieren als seine scharf konturierten Schnappschüsse, seine gefühlsstarken Projektionen auf alltägliche Dinge und einfache Menschen:

Krank wie ich bin
wirr im Kopf
ich denke ich habe

diesen April soweit
ertragen
Freunde besuchend

spät am Abend
als ich heimfuhr
sah ich

einen riesigen Neger
ein schmutziger Kragen
um seinen

enormen Hals
schien
ihn zu

erwürgen
ich wußte nicht
ob er

mich sah
obgleich er
mir direkt gegenüber

saß wie
sollen wir
dieser modernen Zeit

entkommen
und wieder atmen
lernen

Soweit und solange sich WilIiams’ Adepten, die jungen amerikanischen Dichter, darauf beschränkten, gewisse Offerten und Anregungen aus dem Erlebniskomplex des vorindustriellen Kleinstadt-Amerikas als komplementäre Möglichkeiten zur allgemeinen Vermassung gelten zu lassen, gab es – wie im Falle Creeleys – echte Übereinstimmungen. Aber als die meisten Dichter begannen, ihren Protest gegen den american way of life aktionistisch zu gestalten, als sie Subkulturen gründeten, Konsumgüter in unkritischer Pop-Manier fetischisierten und Sex und Rauschgift sowie Medien und Medienzitate zu ihren zentralen Motiven und Lebensinhalten machten, endete die Gemeinsamkeit.
Für Williams war Amerika niemals die Summe aller politischen und moralischen Mißlichkeiten gewesen, sondern eine – freilich nicht immer reine – Quelle. Es war ein Palimpsest, von dem der Dichter glaubte, daß er es in seiner Jugend bereits einmal entziffert gehabt hatte und das es nun, wenn auch ohne jegliches The-Ground-We-Stand-On-Pathos, erneut sichtbar zu machen galt, mit allen naturhaftrustikalen Valeurs:

Gelb, gelb, gelb, gelb!
Es ist keine Farbe.
Es ist der Sommer!
Es ist der Wind in einer Weide,
die Zunge der Wellen, der Schatten…

Williams’ Vorstellung von Amerika enthielt ein unübersehbares Repertoire ländlicher oder zumindest idyllisch-vorstädtischer Reminiszenzen. Und auch des Dichters Aussagen über Liebe und Ehe mußten, so antipuritanisch, so freimütig sie formuliert wurden, aus dem Blickwinkel derjenigen, die ihr lyrisches Auskommen nur noch mit four letter words bestritten, fast kleinbürgerlich wirken:

Was ich von Weibern wollte
ist schwierig
zu ermessen Flossie

nicht du
du lebtest mit mir
viele Jahre erinnerst du

dich des Jahres
wir hatten die prächtigen
Päonien

wie glücklich waren wir
deswegen
aber eines Nachts

wurden sie gestohlen
wir teilten den
Verlust dachten

an nichts anderes
einen ganzen Tag lang
nichts hätte uns

mehr verbinden können
wir waren
zehn Jahre verheiratet

Die Partnerschaft von Mann und Frau: nicht nur als lockere Sex- und Wohngemeinschaft, sondern als seelische Bindung, die mit ihren ästhetischen Empfindungen eingestandenermaßen tief in den materiellen Schichten gemeinsamen Besitzes wurzelte.
In einer Zeit rapider technologischer und soziologischer Umwandlungen und zunehmender Außenleitung hatte dieser Lyriker einen begrenzten individuellen Raum verteidigt und zu einer Enklave des Nicht-Utilitaristischen ausgebaut. Williams’ Gedichte waren Adaptionsversuche an die effektiv gegebene Lage. Sie klammerten auch Krankheit, Alter und Tod nicht aus, machten Verfall und Zerstörung sichtbar und beobachteten minuziös die Wechselwirkungen zwischen Frustration und Aggression:

DIE TATHANDLUNG

Da standen die Rosen im Regen.
Ich bitt dich, schneid sie nicht ab.
aaaSie werden sich nicht halten, sagte sie.
Aber sie sind so schön,
aaawo sie sind.
Ach, schön waren wir alle einmal,
aaasagte sie,
und schnitt sie und gab sie mir
aaain die Hand.

Williams, oft kritisch und bisweilen sogar explizit didaktisch, improvisierte zwischen den Normen, den Tabus, den divergierenden Interessen. In seiner Dichtung drückte sich das Verlangen nach einem Leben aus, das weitgehend verfehlt wurde, von ihm wie von allen anderen. Mitunter rettete Williams sich in die Rolle des Positivisten, so wenn er sagte:

Ein Gedicht ist eine kleine (oder große) Maschine, hergestellt aus Worten. Nichts an einem Gedicht ist sentimentaler Natur; damit will ich sagen: es darf sowenig wie irgendeine andere Maschine überflüssige Teile enthalten.

Williams, mochte er sich noch so kühl geben, schrieb dennoch aus gefühlsmäßigen Gründen. Das gab er indirekt auch selber zu, als er Auskunft darüber erteilte, wie er zu seinem spezifischen Stil, zu dem schlanken federnden Aufbau seiner Gedichte gekommen sei:

Wegen meiner nervösen Natur ging, ich nicht zu Langzeilen über. Ich konnte es nicht. Das rhythmische Maß meines Verses war der Schritt der Sprache, ein aufgeregtes Maß, denn ich war beim Schreiben erregt.

Dieser Dichter, der jahrzehntelang auf die Anerkennung seiner Leistungen hatte warten müssen und der, als der Beifall schließlich kam, mit dem Gang der Dinge abermals nicht zufrieden sein konnte, hat einem Reporter gegenüber mißmutig angedeutet, daß ihm seine Treue zu Amerika inzwischen selber in einem zweifelhaften Licht erscheine. Doch war es Williams auch nicht vergönnt, wenigstens sein Alter in einem gesellschaftlichen und kulturellen Milieu zu verbringen, das seinen Vorstellungen entsprach, so konnte ihm doch niemand das Verdienst streitig machen, den entscheidenden Schritt zur Demokratisierung der Metapher getan zu haben. Dadurch, daß er die Verfahrensweise der Imagisten auf die Situationen des täglichen Lebens angewandt hatte, war es William Carlos Williams gelungen, Bild und Wirklichkeit in einen ausbalancierten Zusammenhang zu bringen und die Gefahren des ästhetischen Purismus ebenso zu vermeiden wie die lastender stofflicher Dominanz.

Hans-Jürgen Heise, aus: Hans-Jürgen Heise: Das Profil unter der Maske, Claassen Verlag, 1974

 

BEGEGNUNG

Manchmal wird es immer kälter
und höchste Zeit, das Wichtigste zu lernen.
Auch bei W.C. Williams,
Armenarzt im Staate New Jersey,
ein ganzes Leben lang.

Als ich ihm das letzte Mal begegnete,
sagte er: Es ist ausgeträumt.
Ich notierte es. Eine Redewendung,
die mir brauchbar erscheint.

Elisabeth Borchers

 

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Hans-Jürgen Heise: Willliam Carlos Williams: die Demokratisierung der Metapher
Die Tat, 15.9.1973

Fakten und  Vermutungen zum Autor + IMDbPennSound +
MAPS 1, 2 & 3 + Internet Archive + Poets.org + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口

 

William Carlos Williams – Eine kurze biographische Dokumentation.

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + IMDb +
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Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Höhenenzensberger“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Enzensberger, der“.

 

 

Hans Magnus Enzensberger – Trailer zu Ich bin keiner von uns – Filme, Porträts, Interviews.

 

Hans Magnus Enzensberger Der diskrete Charme des Hans Magnus Enzensberger. Dokumentarfilm aus dem Jahre 1999.

 

Hans Magnus Enzensberger liest auf dem IX. International Poetry Festival von Medellín 1999.

1 Antwort : William Carlos Williams: Poesiealbum 112”

  1. Ingrid Welsch sagt:

    Danke für diesen Artikel. Er hat mir meine Studienzeit 1976 in Amerika,Providence, Rhode Island, ins Gedächtnis zurückgerufen. Dort habe ich modern poetry courses besucht und auch ein Buch von W.CWilliams erstanden. Er trug einen schwarzen Hut, schräg aufgesetzt, auf dem cover des Taschenbuches..
    und eben sah ich einen Film, der mir gut gefallen hat, mit einem Namensvetter von ihm, C.K. Williams, der auch Gedichte schreibt und den Pulitzer Preis dafuer bekam…Titel: The color of Time, sehr zu empfehlen…hoffe, es gibt in zukunft noch mehr solche
    Filmbiographien mit Zitaten der Poeten…(war übrigens ein Gemeinschaftswerk von 8 Filmstudenten!!)

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