Wisława Szymborska: Vokabeln

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wisława Szymborska: Vokabeln

Szymborska/Hahn-Vokabeln

REZENSION EINES UNGESCHRIEBENEN GEDICHTES

In den ersten Worten des Werks
stellt die Autorin fest, die Erde sei klein,
der Himmel hingegen groß bis zur Maßlosigkeit,
und an Sternen reich, ich zitiere, „mehr als
aaaaavonnöten“.

Die Beschreibung des Himmels zeigt Ratlosigkeit,
die Autorin verliert sich im schrecklichen Raum,
die Leblosigkeit vieler Planeten verschlägt ihr die Sprache,
und bald beginnt sich in ihrem Verstand (der ist ungenau, fügen
aaaaain Klammern wir zu)
abzuzeichnen die Frage,
ob wir nicht doch allein sind, allein
unter der Sonne, unter allen Sonnen des Alls?

Der Wahrscheinlichkeitsrechnung zum Trotz!
Und der allgemein verbreiteten Meinung!
Entgegen unwiderlegbarem Beweis, der nahezu jeden Tag
in menschliche Hände gelangen könnte! Ach, Poesie.

Inzwischen freilich kehrt unsre Dichterprophetin zur Erde zurück,
auf den Planeten, der möglicherweise „ohne Zeugen sich dreht“,
einzige „Science-fiction, zu der der Kosmos es brachte“.
Die Verzweiflung Pascals (1623-1662, Anm. unsere) findet,
so meint die Autorin, keinerlei Konkurrenz,
nicht auf der Kassiopeia noch der Andromeda.
Ausnahmedasein signalisiert Übertreibung, und es verpflichtet,
stellt das Problem, wie leben mit den Problemen et cetera,
denn „die Leere nimmt uns die Lösung nicht ab“.
„Mein Gott, schreit der Mensch zu SICH SELBER,
erbarme dich meiner, gib mir ein Licht“…

Die Autorin betrübt der Gedanke an das so leicht vergeudete Leben,
als wäre da ewiger Quell für Ersatz.
Der Gedanke an Kriege zermürbt sie, die – nach ihrer widerspenstigen Meinung –
immer verloren sind, verloren auf beiden Seiten.
An „Leibeigenschaft“ (sic!) von Menschen an Menschen.
Durch das Werk schimmert moralischer Anlaß.
Unter weniger naiver Feder vielleicht würde er leuchten.

Leider, was solls. Diese grundauf riskante These
(ob wir nicht doch allein sind
unter der Sonne, unter allen Sonnen der Welt),
ihre logische Argumentation in lesbarem Stil
(Gemisch aus Pathos und Alltagsjargon)
bewirken sie wirklich, daß jemand dem Glauben schenkt?
Mit Sicherheit niemand. Na eben.

 

 

 

Nachwort

Handeln läßt sich aus vorbehaltloser
Bejahung heraus; denken nicht.

Walter Benjamin

Die Dichtung, sagt ich, meiner Sache
gewiß, ist der Anfang und das Ende der
Philosophie.

Friedrich Hölderlin

Eine Voraussetzung für jede Dichtung ist,
daß die Verbindung mit der Vergangenheit
aufrecht erhalten wird, daß etwas vom Leben
früherer Generationen darin weht. Vielleicht
hängen alle Dichtungen – alle Gedanken −
zusammen und bilden ein Gebäude, in dem
kein Stein ohne Bedeutung ist.

Olof Lagercrantz

Noch nie ist Dichtung von diskutierbarem Belang mit dem Anspruch aufgetreten, es allen recht zu machen. Und sie ist sich der Grenzen ihrer Wirksamkeit durchaus bewußt. „Nicht Boxer sein, Muse, heißt nichts sein“, resümiert Wisława Szymborska realistisch und ironisch zugleich in dem „Dichterlesung“ überschriebenen Text die Erfahrungen eines heutigen Dichters, wenn er sich offenäugig einläßt auf die Fortsetzung tradierter Volksbelustigung mit seinen untradierten poetischen Mitteln.
Im erhöhten Ring, in der versenkten Arena hat Dichtung zumindest gegenwärtig nichts verloren und darum nichts zu suchen. Ihren Platz beansprucht sie im Menschen, nicht unter und nicht über ihm. Und Popularität ist kein verläßlicher Gradmesser für den Wert irgendeiner Leistung, allenfalls für das Ausmaß kollektiver Suggestibilität. Die jedoch kann gefährlich werden, wenn nichts ihr entgegenwirkt und sie den einzelnen sich selbst vergessen läßt und ihn vergessen macht, daß niemand anderer als er allein einzig erfahren, empfinden und verantworten kann, was es mit ihm, der Welt und seinem Leben in ihr auf sich hat. In „Von oben gesehen“ sieht es die Dichterin Szymborska so:

Das Wichtige hängt wahrscheinlich mit uns zusammen.
Mit unserem eigenen Leben und unserem eigenen Tod,
dem Tod, der erzwungenen Vorrang genießt.

Sind Sätze wie dieser, der in der Sprache der Philosophie mutmaßt, Ausdruck von Dichtung? Die Frage ist rhetorisch und liefert im Einschub eine von vielen möglichen Definitionen für das manchen noch immer befremdende Phänomen zeitgenössischer Dichtung, die längst nicht mehr nur in den Grenzen des Nationalen, aus dem sie unbedingt kommt, zu fassen und zu deuten ist.
Unbegrenzt mutmaßen, mutig maßnehmen in der unverbrämten Sprache der Logik, der Philosophie – reimt sich das auf die herkömmliche Vorstellung von dem, was Poesie zu sein hat? Im raschen, strikten und leider unüberhörbaren Nein auf diese Frage verraten sich nicht allein Unkenntnis und Mißverständnis von Literatur, sondern, was allemal schwerer wiegt, Unkenntnis und Mißverständnis von Leben. Der treuherzige Verneiner hat vermutlich bis heute nicht begriffen, was die zweiundzwanzigjährige Wisława Szymborska 1945 an damals fast unbegreiflicher Realität begreifbar ins Wort hob:

Früher griffen wir stückweis die Welt −
sie war so klein, daß sie ein Händedruck faßte,
so leicht, daß ein Lächeln sie wog,
alltäglich wie das Echo alter Wahrheit im Gebet.

Aus dem Krieg unsere Beute ist das Wissen von dieser Welt.
Sie ist so groß, daß sie ein Händedruck faßt,
so schwer, daß ein Lächeln sie wiegt,
einmalig wie das Echo alter Wahrheit im Gebet.

In diesem Gedicht werden sowohl für Zeitgenossen als auch für Nachgeborene der Prozeß einer globalen Ernüchterung und deren Wirkung auf das Empfinden und Denken des einzelnen Überlebenden aufgehoben, aufbewahrt. Auschwitz und Hiroshima, das „Schema Israel“ der Juden in den Gaskammern, das „Ave Maria“ der polnischen Partisanen sind da erinnerbar in jedem Wort. In Worten einer umgreifend genau gespannten Empfindsamkeit, die mit Sentimentalität nichts, aber auch gar nichts gemein hat. Denn Barbarei und Sentimentalität – auch das hat der deutsche Faschismus bis zur Unerträglichkeit kenntlich gemacht – gehen sehr gut, das heißt: sehr schlimm, zusammen. Beider Wurzel ist die Irrationalität.
Allerdings, wer so definiert, bis auf den philosophischen Kern kommt, hat es schwer, sich im erst allmählich dämmernden Tag verständlich zu machen. Denn noch streut das Schrot vermeintlich lyrischer Sprechweisen flott gereimt und unbedacht ins dunkle Weite und Breite.
Zeilen wie

Schmerzhafter traf dich
der Rose Stich,
und größer war deine Angst,
als du sahst, wie ein Blatt zur Erde sank

können auf eine bestimmte Gefühls- und Stimmungslage ihres Lesers getrost verzichten, jedoch nicht auf seine Bereitschaft zum Denken und zur bedachtsamen Selbsterfahrung. Identifikation mit allem, was ist, als ein Grundgefühl verantwortlichen menschlichen Lebens – dies ist eine der dominierenden Haltungen im Werk Wisława Szymborskas.

Selbst das vereinbarte
Treffen fand statt.
Weit jenseits
von unserer Anwesenheit.

Und:

Nicht beschuldige mich, Seele,
daß du nur selten in mir weilst.
Alles mag mir verzeihn,
daß ich nicht überall sein kann.

Nüchterner und ergreifender läßt sich kaum sagen, was als durchaus unbefriedigende Bilanz bleibt, wenn der Blick sich eben nicht abwendet und das Bewußtsein sich wachhält für die Realien und Realitäten einer unbefriedeten Welt.
Kein mir bekanntes Gedicht über den Völkermord in Vietnam hat mich so betroffen und aufgestört wie das diesbezügliche Gedicht der Szymborska. In seinem katastrophalen „Ich weiß nicht“ bleibt als Letztes, als letzter Vers, nur ein Gewisses: das möglicherweise im vordergründigen Sinne der Frage nur bedingt zutreffende, unbedingte Ja zum Besitz an den Kindern und zur kreatürlichen Verantwortlichkeit gegenüber allen Nachgeborenen.
Wer so definiert, bis auf den einzig gewissen Kern kommt, hat es schwer, schnell verbraucht zu werden. Gott sei Dank. Denn genau das ist, wogegen Dichtung – unbehebbarem Mißverständnis zum Trotz – angeht mit aller bescheidenen Macht ihrer Klarheit. Die Szymborska weiß und bekennt es unverblümt:

Die Freude zu schreiben.
Die Chance, unvergänglich zu machen.
Rache der sterblichen Hand.

Wer die hier versammelten, überwiegend dem 1973 in Polen erschienenen Band Ausgewählte Gedichte entnommenen Texte aufmerksam gelesen hat, ist mit der Biographie Wisława Szymborskas gut vertraut. Der nichtgeschwätzige Gestus ihrer Gedichte lädt ein, ihren sparsamen Mitteilungen wortwörtlich zu vertrauen. Nicht allein der Text über „Die Zahl Pi“ verrät etwas von ihren naturwissenschaftlichen Kenntnissen und Neigungen. Ohne das entscheidende Vor- und Nachsinnen aller materialistisch verhafteten Philosophie Maximen von Heraklit, Leibniz und Sartre lassen sich im fast wörtlichen Zitat finden – ist das poetische Werk der Szymborska als eines der geschlossensten und überzeugendsten der heutigen polnischen Dichtkunst nicht denkbar. Ihr Studium der Soziologie, der polnischen Philologie, ihre redaktionelle Tätigkeit beim Krakauer Życie Literackie sind Momente ein und desselben Engagements, das sich allem exakten Wissen offen- und aller nur ungefähren Gewißheit fernhält. Nicht aus melancholischer oder grüblerisch resignativer Gestimmtheit, sondern aus tieferer, auch geschichtlich gebrannter Erfahrung und Einsicht. Wem dunkel bleibt, was damit gesagt sein soll, der lese zwei Texte nach.
Der eine, „Unschuld“ überschrieben, spricht von Empfindungs-Kontinuitäten, die als gegenwärtige geschichtliche Realität genauso anzunehmen sind wie die historisch zwar handhabbar gewordene, aber noch längst nicht als Selbstverständlichkeit zu lesende Tatsache vom Ende der faschistischen Barbarei.
Der zweite Text, 1976 veröffentlicht, verrät in der Negation etwas von der labilen Befindlichkeit dessen, der heute sehenden Auges und wachenden Sinnes Gedichte verfertigt. „Meine Schwester schreibt keine Gedichte“ und „Unter dem Dach meiner Schwester fühle ich mich sicher“, heißt es da. So wird im „Lob auf die Schwester“ auch die Fragwürdigkeit, das Paradoxon der eigenen dichterischen Existenz hörbar: der Verzicht auf alle sich stillschweigend bietende Sicherheit zugunsten eines verschärften Bewußtseins von der Un-Möglichkeit, „alles, alles, alles“ irgendwann einmal auch nur annähernd im Wort bewältigen zu können.
Kurz vor Abschluß der Arbeiten an dieser deutschsprachigen Ausgabe wurde Wisława Szymborska mit einem möglichen Titelvorschlag konfrontiert. „Wehrloser als das Laub im November“ sollte der Band heißen. Die Szymborska protestierte: „Ich schreibe doch. Und wer schreibt, ist nicht wehrlos!“
Dem bleibt nichts hinzuzufügen. Auch der Leser dieser Gedichte wird, wenn er sich erst einmal eingelassen hat auf ihre entsichernde Wirkung, mit größerer Sicherheit wissen, aus welcher Richtung und aus welcher Gerichtetheit ihm erwächst, was ihn möglicherweise bewehrt und bewahrt.

Jürgen Rennert, Nachwort, Oktober 1978

 

Wisława Szymborska

Obwohl das lyrische Werk der Wisława Szymborska nicht umfangreich ist  – seit 1952 sind 10 Bändchen ihrer Gedichte, darunter zwei repräsentative Auswahlen erschienen – gilt sie heute als die bedeutendste polnische Dichterin der letzten zwanzig Jahre. Und die Wertschätzung, die sie genießt, führt die Kritik nicht zuletzt auf ihre Zurückhaltung, auf die Sparsamkeit ihrer dichterischen Äußerungen zurück.
Ausgangspunkt für die 1923 geborene Dichterin war die Erfahrung des zweiten Weltkrieges, der ihre Mädchenjahre bestimmte. Die Ohnmacht, das Leiden der unzählbaren Menschen nachempfindbar machen zu können, geschweige denn die Statistiken der Toten vorstellbar, die Einsicht in die Ohnmacht der Dichtung führte Wisława Szymborska zur Erkenntnis, da die Aufgabe engagierter Poesie auch darin bestünde, dem Einzelnen, seiner einmaligen Existenz und seiner Unaustauschbarkeit Ausdruck zu verleihen und ihm damit den ihm gebührenden Platz zurückzugewinnen. Aus der Todeserfahrung gewinnt sie die Liebe zu allem Lebendigen, zum Menschen in seiner Verletzbarkeit, zum Tier, zum Bau, zum Stein, zum Sternenhimmel. Ihr dichterisches Programm: die Dinge zu benennen, nicht neu, sondern bei ihren einfachen Namen und damit gleichzeitig dem Wort Gewicht zu verleihen in einer von Wörtern überfluteten Welt. Die Suche nach dem Wort, nicht nach dem fremden, der Vokabel, sondern nach dem Nennwort, das die Vokabel als Vorwand verwirft, ist das eigentliche Anliegen der Moralistin Szymborska.

Verlag Volk und Welt, Beizettel, 1979

 

 

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Wisława Szymborska in memoriam.

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