Wladimir Majakowski: Tragödie Wladimir Majakowski / Wölkchen in Hosen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wladimir Majakowski: Tragödie Wladimir Majakowski / Wölkchen in Hosen

Majakowski-Tragödie Wladimir Majakowski / Wölkchen in Hosen

… Schon schlepp ich mein Herz
von Kummer zerrüttet,
schon heule ich,
der Dunkle, Devote.
So trägt
ein winselnder Köter
zur Hütte
die
von der Lok plattgefahrene Pfote.

Mein Blut sei der Straße ein Labsal mehr,
Blumen klebt sie dem Staub der Sutane an.
Und die Sonne umhüpft als Salome
die Erde,
das Haupt des Iokanaan.

Und findet mein Lebenstanz
schließlich sein fades Aus,
führt die Spur der verschütteten Blutsubstanz
in meines Vaters Haus.

Schmutzig
(vom Schlafen in Straßengräben)
komme ich zu ihm, der so bigott,
beuge mich vor
und will Tacheles reden:

− Hören Sie mal, Herr Gott!

Immer nur glotzen
ins Wolkendessert,
vor lauter Güte fast eingedöst?
Warum nicht lieber
ein Karussel
am Baum der Erkenntnis von Gut und Bös?

Jeder Schrank beweist deine Allgegenwart,
dann lassen wir derart knallen den Korken,
daß auch Petrus, der sonst dagegen war,
beginnt, im Tango zu torkeln.
Wir besiedeln Eden mit kleinen Evchen,
und willst du
gar hübschere Mätressen,
schlepp ich dir an – die feschsten Äffchen
von der Straße,

Da grollst du?

Kein Interesse?

Schüttelst die struppige Mähne? −
Denkst du wirklich,
es weiß
auch nur einer von denen,
die da flattern,
was Liebe heißt?

Bin selbst ein Engel, zumindest gewesen –
blickte drein als putziges Zuckerlamm.
Doch nie wieder schenk ich den Stuten Gefäße
aus schmerzgehärtetem Porzellan.

Deine Allmacht, die uns zwei Arme leiht,
einen Kopf,
ein Knochengerüst,
vermag sie es nicht,
daß man ohne Leid
immer küßt, immer küßt, immer küßt?! …

 

 

 

Wladimir Majakowski fühlte sich stets

zu großen Formen hingezogen

Bereits nach den allerersten Schreibversuchen widmete er sich der „Tragödie Wladimir Majakowski“ sowie dem Poem „Wölkchen in Hosen“. Als seine frühesten Langgedichte bilden sie gleichsam ein Fundament für all seine weiteren Wortschöpfungen. Darum sind gerade diese Werke besonders dazu geeignet, die spezifische Poetik des Dichters zu entdecken: seine Inhalte, seine Gestaltungsprinzipien und seine Sprache.
Beide Texte liegen bereits in mehreren deutschen Übersetzungen vor, die allerdings kaum etwas von der Kunstfertigkeit des Originals ahnen lassen. Die neue Übertragung von Alexander Nitzberg stellt sich zur Aufgabe, sie als sprachliches Kunstwerk wiederzugeben. Besondere Aufmerksamkeit wird der charakteristischen Klanglichkeit und Rhythmik Majakowskis sowie der Komplexität seiner Bilder geschenkt. Im übrigen berücksichtigt die Übersetzung zum ersten Mal die eigenwillige Form des Originals: seine avantgardistischen Techniken des Metrum- und Reimgebrauchs. Nitzbergs Übersetzungen dieser Meilensteine der russischen Avantgarde verstehen sich als Ansätze zu einem neuen Majakowski-Bild, dessen Akzent nicht auf der politischen Ideologie, sondern auf der sprachlichen Gestaltung liegt. Ganz im Sinne des Dichters, dessen Autobiographie mit den Worten beginnt: „Ich bin ein Dichter. Nur das macht mich interessant. Nur davon schreibe ich. Vom übrigen – nur dann, wenn es sich sprachlich gesetzt hat.“

Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2002

 

Apostel der Revolution

Wölkchen in Hosen: Wladimir Majakowski in neuer Übersetzung. –

Ursprünglich habe er nichts als Ich sagen können, lautet die Charakterisierung des russischen Avantgarde-Dichters Majakowski durch seine Kollegin Marina Zwetajewa. Das schien zunächst nicht eben viel. Doch mit dem Anwachsen seiner lyrischen Gestalt schien es beinahe alles zu beinhalten. Majakowski fand und erfand sich als Gegenentwurf zu der schönheitstrunkenen Dekadenzkultur vor dem Ersten Weltkrieg, der Spätblüte des „Silbernen Zeitalters“. Der Dichter fühlte sich von einer Kraft besessen, die den stummen, nichtigen, schmutzigen Dingen Stimme und Bedeutung verlieh. So wurde die bolschewistische Revolution geradezu zwangsläufig zur persönlichen Sache des Dichters, an deren Verbürgerlichung und Bürokratisierung auch er selbst zugrunde ging. Doch während Majakowskis klassische Propagandapoesie der Sowjetzeit zum Goldschatz des russischen Literaturkanons gehört, schätzt man im Westen vor allem das Frühwerk, wo der Kampf um neue Worte und Formen noch nicht entschieden, sondern als schöpferisches Drama mitzuverfolgen ist. Den bisherigen Übertragungen von Majakowskis erstem Poem, der „Wolke in Hosen“, und der Tragödie „Wladimir Majakowski“ hat nun Alexander Nitzberg eine neue hinzugefügt, in welcher er auf Bedeutungsgenauigkeit, vor allem aber auf eine deutsche Nachahmung von Majakowskis Reimtechnik, besonderen Wert legt.
Das Stück „Wladimir Majakowski“, das ursprünglich den Titel „Aufstand der Dinge“ tragen sollte, schildert in freien, durch unregelmäßige Reime gebündelten Versen, wie die Erzeugnisse der technisierten Welt sich aus ihrer Zweckordnung losreißen und die Menschen zu verstörten Strichmännchen machen. Pulsierende Satzfetzen künden von Hexentänzen technischer Geräte, Revolutionsängsten und Aufbruchspathos. Majakowskis Dichter-Ich, eine Mischung aus Narr, Sündenbock und Prophet, macht sich zu deren Sammelbecken. Zum Lohn sieht er sich beladen mit den grotesk verdinglichten Tränen und Küssen der vielen Erniedrigten und Beleidigten, die er einem gottfreien Glauben darbringen will.
Das im Kriegsjahr 1915 entstandene Poem „Wolke in Hosen“, dessen eigentlicher Titel „Der dreizehnte Apostel“ von der zaristischen Zensur verboten wurde, formuliert in seinen vier lyrischen Exkursen über Liebe, Revolution, Poesie und Religion ein neues Evangelium. Mit kräftiger Umgangssprache im hohen Odenton verwandelt der Dichter seine Liebesklage in die Klage aller Leidenden, preist das Leben über alle Buchweisheit, rebelliert gegen Gottes menschenfeindliche Ordnung und sagt nebenbei die russische Revolution voraus. Majakowskis Markenzeichen, die vielfältigen Stamm-, Binnen-, Stabreime, welche die vom rhetorischen Impuls getragenen Verse zusammenhalten, verleihen dem Werk eine zwingende Wucht, die in einer Übersetzung nachzuahmen ebenso wichtig wie problematisch ist. Dies hat mit seiner Neuübertragung nun Alexander Nitzberg unternommen, der beansprucht, Majakowski endlich als Sprachneuerer zur Geltung kommen zu lassen, im Gegensatz zu dem biederkommunistischen Hugo Huppert oder dem verhaltenen Karl Dedecius. Der sprachliche Einfallsreichtum Nitzbergs, der „Überschwang erschafft“ auf „Schwangerschaft“ reimt, vermittelt tatsächlich etwas von der expressiven Magie des Originals. Freilich, jede Sprache ist eine eigene Welt. Sprachschöpfungen, die im Russischen folkloristische Wärme haben, etwa die Wendung „Morsch werden im Mund der Worte krepierte Krüppel“, klingen auf deutsch expliziter, beinahe überanstrengt. Und wenn Nitzberg den Titel des Poems, ein Bild für den vergeistigten Mann, mit „Wölkchen“ statt „Wolke“ übersetzt, weil das russische Wort „oblako“ nur die Schäfchen-, niemals die Gewitterwolke meint, so hat er philologisch nicht unrecht, verleiht dem Werk aber einen Namen, der biedermeierlich und satirisch klingt, aber nicht wie Majakowski.

Kerstin Holm, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.2002

In neuen Hosen

– Alexander Nitzberg übersetzt Wladimir Majakowski. –

Mit der hohen Ambition, im deutschen Sprachraum einem „neuen Majakowski-Bild“ zum Durchbruch zu verhelfen, legt der umtriebige Übersetzer Alexander Nitzberg – Vermittler so unterschiedlicher Autoren der russischen Moderne wie Abram Efros, Michail Senkewitsch oder Anna Achmatowa – eine weitere bemerkenswerte Arbeitsprobe vor. Es handelt sich dabei um die Eindeutschung zweier futuristischer Frühwerke von Wladimir Majakowski, nämlich einer Vers-Tragödie, die als Titel den Namen des Autors trägt („Wladimir Majakowski“, 1913), sowie eines vierteiligen Langgedichts mit Prolog („Wolke in Hosen“, 1915). Beide Texte sind dominiert von einem grotesk überhöhten, zwischen Grössenwahn und Zerknirschung ständig schwankenden lyrischen Ich, das bald für Majakowski als Person, bald für den Autor als künstlerische Instanz – hier als Prototyp des radikalen Neuerers und Einzelgängers – zu sprechen scheint. Und beide Texte können als beispielhaft gelten für die „zukünftlerische“ Poetik, die von der Moskauer Fraktion der russischen Futuristen ab 1910 erarbeitet und zu einem eigenständigen Konzept dichterischen Redens entwickelt wurde.
In seinem ersten Drama wie in seinem ersten grossen Poem hat Wladimir Majakowski die futuristischen Postulate, die damals in zahlreichen Programmschriften mit revolutionärem Furor vorgetragen wurden, produktiv umgesetzt. Traditionsbruch, Innovationswille und Prioritätsanspruch waren auch für ihn die Voraussetzungen einer Dichtkunst, bei der es mehr auf das Sagen der Sprache als auf die Aussage des Autors ankam, die das „Wort als solches“ – das Wort als Klangereignis oder als bildhaftes Skriptum – dem Wort als Bedeutungsträger vorzog, die den kühnen Reim ebenso wie die kühne Metapher kultivierte und die im Übrigen mit Gott und dem Zaren, mit Spiessern und Akademikern gleichermassen erbarmungslos ins Gericht ging.
„Ich flehte, / fluchte, / das Messer zückte, / verbiss mich in Schenkel, / schrie permanent … / Vibriert meine Stimme / – ein rohes, tristes / Geläster – fortwährend / durch alle Säle, / schnuppert womöglich Herr Jesus Christus / am Vergissmeinnicht meiner Seele.“ Scharfe Satire und larmoyantes Pathos, Witz und Zärtlichkeit, Dissonanz und Melos verbinden sich bei Majakowski zu einem unverwechselbaren lyrischen Parlando, dem kein Register zwischen Gassenhauer, Gebet und arationaler Wortakrobatik fremd ist.

Hoher Anspruch
Texte von derartiger rhetorischer und semantischer Komplexität adäquat zu übersetzen, ist gewiss kein Leichtes. Im Unterschied zu allen bisherigen Majakowski-Übersetzern, denen er nicht bloss sprachliche und sachliche Inkompetenz, sondern auch ideologische oder psychologische Voreingenommenheit ankreidet, erhebt Nitzberg den Anspruch, nun erstmals Nachdichtungen zu liefern, die der verstechnischen Virtuosität wie auch der innovativen Metaphorik des Autors gerecht werden. Diesen Anspruch kann nur erfüllen, wer den jeweiligen Originaltext in der Zielsprache nachbaut, das heisst seine Entstehung unter sprachlich ganz andern Bedingungen rekonstruiert. Dabei ist naturgemäss mit grossen, vorab inhaltlichen Abweichungen und Verlusten zu rechnen, doch wird so der übersetzte Text dem Original insgesamt am ehesten entsprechen – in seiner formalen Struktur, seiner Intonation, seiner Bild- und Sinnhaftigkeit.
Alexander Nitzbergs Neuübersetzungen erbringen gegenüber früheren Versuchen einen deutlichen Mehrwert in Bezug auf die Nachbildung von Majakowskis äusserst vielfältigen Assonanzen und Reimen, dabei vernachlässigen sie allerdings die ebenso variantenreiche Rhythmik und Strophik, verfahren zu frei mit den poetischen Bildern, so dass im Effekt nur eine partielle formale Übereinstimmung gewonnen, nicht jedoch die Analogie zwischen allen relevanten Elementen und Ebenen der vorliegenden Texte hergestellt wird. Daraus erklärt sich wohl auch die Tatsache, dass Nitzbergs deutsche Versionen durchweg sehr artifiziell, bisweilen geradezu verquält wirken, während Majakowski noch den ungewöhnlichsten Formulierungen und den kunstvollsten Konstruktionen eine Natürlichkeit, eine Ungezwungenheit verleiht, wie man sie sonst nur aus der Alltagssprache kennt.

Unter Originalitätszwang
Wie jeder Zweit- oder Drittübersetzer scheint sich auch Nitzberg unbedingt von seinen Vorgängern (Huppert, Reich, Müller, Dedecius u.a.) emanzipieren zu wollen, was ihn selbst dort zu immer noch artifizielleren Versionen zwingt, wo überzeugende Lösungen bereits gefunden sind. Der Eigensinn des Nachdichters macht auch vor den schlichten Werktiteln nicht Halt. Wenn der im Deutschen längst eingebürgerte, sprachlich durchaus korrekte Titel des Poems „Wolke in Hosen“ nun als „Wölkchen in Hosen“ daherkommt, ist das eine ganz und gar unnötige Demonstration übersetzerischer Originalität, abgesehen davon, dass die Verkleinerungsform eine Putzigkeit und Biederkeit evoziert, zu der es im Text keine Entsprechung gibt. Auch die Titelei des Versdramas vermag in der deutschsprachigen Neufassung – „Tragödie Wladimir Majakowski“ – nicht zu überzeugen. Das russische Original (Erstdruck 1914) bringt als Titel „Wladimir Majakowski“, als Untertitel „Tragödie von Wladimir Majakowski“, stellt also den Gegensatz zwischen Autornamen und gleich lautendem Werktitel deutlich heraus. Dieser für das Stück und dessen Verständnis essenzielle Gegensatz, der bei der Uraufführung zusätzlich verstärkt (und problematisiert) wurde dadurch, dass Wladimir Majakowski selbst in der Rolle des „Wladimir Majakowski“ auftrat, wird bei Nitzberg ohne Not ins Unverbindliche aufgehoben. Wo der Übersetzer zu viel für sich selbst will, kommt in der Regel der Autor zu kurz.

Felix Philipp Ingold, Neue Zürcher Zeitung, 16.11.2002

Rauschbereites Ich

– Müssen Wolken Wölkchen werden? Wladimir Majakowski, neu übersetzt. –

Unter den bedeutenden Literaturübersetzern aus dem Russischen ist der Dichter Alexander Nitzberg gewiss der streitlustigste. Wer sich die derben Angriffe ansieht, die der 1969 in eine Moskauer Künstlerfamilie hineingeborene Autor seinen Kollegen widmet, kann den prekären Eindruck gewinnen, hier werde mutwillig ein Verdrängungswettbewerb gestartet. Die meisten kanonischen Übersetzungen moderner russischer Poesie – von Ralph Dutli, Peter Urban oder Felix Philipp Ingold – verwirft Nitzberg als mehr oder minder fehlerhafte Freveleien am Urtext.
In einem bislang noch unveröffentlichten Essay hat Nitzberg in stolzer Apodiktik definiert, worauf es ihm – etwa bei der Übersetzung von Gedichten Anna Achmatowas – ankommt: nämlich auf die „exakte prosodische Nachbildung der Textvorlage (in Rhythmus, Melodik, Reim)“. Die Kühnheit dieses Glaubens an die semantische und phonetische Texttreue manifestiert sich nun auch in seiner jüngsten Übersetzungs-Tat, der Übertragung zweier futuristischer Frühwerke von Wladimir Majakowski. Nicht weniger als eine kongeniale Mimesis der „gänzlich neuartigen Reimtechnik“ Majakowskis hat sich Nitzberg vorgenommen, nebst der überfälligen Revision der „zahlreichen Missverständnisse und Bezugsfehler“, die nach Nitzbergs Ansicht in den bislang existierenden Übertragungen zu finden sind. Tatsächlich gibt es in Sachen Majakowski einen markanten Revisions-Bedarf, basiert doch das Bild des Dichters noch immer auf den Vermittlungsbemühungen des österreichischen Essayisten Hugo Huppert, der den Lebensweg Majakowskis als glücklichen Reifungsprozess vom verworrenen futuristischen Feuerkopf zum klassischen Revolutionär idyllisierte.
Den bilderhungrigen Avantgardisten aus der georgischen Provinz, der schon unter Stalin zur Ikone des autoritären Sowjetkommunismus umfunktioniert wurde, will nun Nitzberg gegen alle ideologischen Vereinnahmungen als virtuosen Sprachartisten retten. Tatsächlich fallen die ersten Werke des tragischen Dichters – die Verstragödie Wladimir Majakowski und das lange Poem Wolke in Hosen, die Nitzberg nun in neuer Übersetzung vorlegt – noch in die Jahre 1913 bis 1915, da sich Majakowski mit allen Mitteln der exzentrischen Selbstinszenierung in die Spektakel des russischen Futurismus stürzte. Der zwanzigjährige Dichter agierte damals als hochbegabter lyrischer Bürgerschreck, der in seinen Gedichten die Multiperspektivität der kubistischen Malerei in eine bizarre Metaphorik übersetzte. Sein erstes poetisches Lebenszeichen war im Mai 1913 die Veröffentlichung des vierteiligen Poems Ich!, das wegen seines hochfahrenden Gestus so manchen literarischen Zeitgenossen zu einem drastischen Urteil veranlasste. „Vorsicht! Da brüllt ein Menschenfresser!“ , urteilte etwa Alexey Krutschonych, und Marina Zwetajewa mokierte sich über den Ich-Exhibitionismus des jungen Kollegen. Auch Wolke in Hosen beginnt mit einer Hypostasierung des Ich, das als enttäuschter Liebhaber der verlorenen Geliebten hinterher trauert, aber die Trauer in eine heftige Anklage gegen alle religiösen, ästhetischen und politischen Normen ummünzt. Der Verzweiflungsschrei nach Liebe fraternisiert in den insgesamt vier Teilen des Poems mit dem typisch avantgardistischen Gestus des Bildersturms. Ein erklärter „Schreihals-Zarathustra“ räumt auf mit der traditionellen Kunst und Poesie.
Im furiosen Schlusskapitel von Wolke in Hosen inszeniert das liebesnärrische und rauschbereite Ich den Angriff auf Gott. Es ist schon erstaunlich, dass dieses ketzerische Evangelium eines Rebellen, dieses stilistische Wechselbad aus überhitztem Expressionismus, larmoyantem Liebes-Pathos, blasphemischem Wutschrei und alltagssprachlicher Derbheit, auch noch fast hundert Jahre nach seiner Niederschrift seine poetische Frische bewahrt hat. Dass die poetische Hass-Energie und die ästhetische Virtuosität des frühen Majakowski uns auch heute noch erreichen, ist ein unzweifelhaftes Verdienst der Nitzberg-Übersetzung. Tatsächlich gelingt es dem Übersetzer, für die von ihm präzis analysierte Reimtechnik Majakowskis mit ihren vielfach verschlungenen Binnenreimen und Assonanzen sehr dynamische und bildkräftige Entsprechungen zu finden. An einigen Stellen führt die Artifizialität der Reim-Übertragung aber zu manieristisch verschwitzten Nachbildungen. Majakowskis lyrische Antizipation der großen politischen Umwälzung von 1917 liest sich in einer früheren Übertragung von Alfred Edgar Thoß poetisch schlüssig: „Ich, das Gespött der Menschheit von heut, / lang und scharf wie ein schlüpfriges Lied, / ich sehe jenseits des Gebirges der Zeit, / einen Schreitenden, den niemand sieht. / Wo die stumpfen Blicke der Generationen / an den Häuptlingen hungriger Horden verlechzen, / geht, geschmückt mit dem Dornenkranz der Revolutionen, / das Jahr neunzehnhundertsechzehn.“ In seinem Verlangen nach eigensinniger Reimkunst hat Nitzberg die gleiche Stelle in ein recht preziöses Deutsch transferiert, wobei klanglich reizvolle und metaphorisch sehr taube Partien miteinander kollidieren: „Ich, / umgreint von Menschensippen, / ein langer / obszöner Witz, / nehme selbst über zeitliche Klippen / von dem, was da kommt, Notiz. / Denn fern, wo die Augen schlecht sehn, / da schreitet im Dornenkranz / das Jahr neunzehnhundertsechzehn, / als Haupt eines hungernden Aufstands.“ Hier bewährt sich der Übersetzer Nitzberg zwar als jener „Rastelli der Reimkunst“, auf den Peter Rühmkorf schon so manche Eloge gesungen hat. In seinem Anspruch auf lyrische Kongenialität riskiert der Übersetzer aber viele waghalsige Fügungen, die – wie das ungelenke „umgreint von Menschensippen“ oder die Wahl des Diminutivs im Poem-Titel Wölkchen in Hosen – nur dem übersetzerischen Überbietungszwang geschuldet sind, nicht aber der Poesie.

Michael Braun, Frankfurter Rundschau, 15.2.2003

„Mein Blut sei der Straße ein Labsal“

Eine schockierende Inszenierung von Selbsterhöhung, Selbsterniedrigung und Selbstbeweinung nennt Nyota Thun die „Tragödie Wladimir Majakowski“ in ihrer Monographie Ich – so groß und so überflüssig über den Futuristen und Revolutionssänger Majakowski. Mit dem Poem „Ich“ hatte er sich im Mai 1913 in einem selbst gestalteten Poesiebändchen (Auflage 300) seinem Publikum präsentiert. Ohne literarischen Erfolg freilich. Erst die „Tragödie“ hinterließ einige nennenswerte Eindrücke. Roman Jakobson, renommierter Literaturwissenschaftler, bezeichnete den Auftritt des skandalumwitterten Wolodja als Szenarium, nachdem er den Film seines Lebens abspult. In ihm gäbe es einen Hauptdarsteller und „einige übrige Darsteller, die unmittelbar während der Handlung angeworben werden“. In der Tat, wer die erste Seite der „Tragödie“ aufschlägt, findet ihn als Hauptdarsteller, während die Nebenrollen in skurrile Männer und fragwürdige Frauen aufgeteilt sind. Und am Ende der zwei Akte? Majakowski im Epilog: „Ihr seid es, die ich hier / beschrieb, / arme Rattenviecher…“, die er gerne ernähren würde, wenn er einen Busen hätte.

Das Jahr 1913, in dem der Zweiakter entstand, war auch in der russischen Literaturszene von Umbrüchen, Skandalen und Mythenbildungen geprägt. Vom italienischen Futurismus mit der Zentralfigur Marinetti beeinflußt, hatte das bereits 1912 verkündete Manifest der russischen Futuristen dem Dichter eine Funktion zugewiesen. Er war es, der die kulturellen Traditionen über den Dampfer der Geschichte werfen wollte, der sein Kunst-Ich stilisierte, sich an dem Schock der braven Bürger ergötzte. Majakowski, wie Burljuk und Krucenych damals noch Futurist, inszenierte in seiner „Tragödie“ nunmehr den Bruch mit der futuristischen Losung, in der das Dichter-Ich zur persona non grata erklärt wurde. Dichtung entfaltete sich jetzt in ihm als Widerspruch zwischen dem selbst-erfundenen Mythos von der Dichter-Vita und der Verbindung von Biographie mit Wortkunst. In der „Tragödie“, heißt es:

Als Dichter
radierte ich aus
die Grenzen von ,und‘ und ,euch‘.
Suchte Schwestern im Leichenschauhaus
küßte solche, die scheckig verseucht.

Zweifellos ist hier der Dichter selbst das Thema seiner Poesie. In ihr entwirft er für sich alle Rollen, ist er selbst real, im Gegensatz zu den symbolgeladenen Gedichten von Aleksandr Blok, bei dem die Menschen Schachfiguren sind. Doch das poetisierte Leben, das Majakowski inszeniert, treibt er nicht bis an den Rand der Selbstzerstörung. Das gelingt ihm erst am Ende der 1920er Jahre.
In den ersten Monaten des Jahres 1914 begann Majakowski mit der Arbeit an dem Poem „Wolke in Hosen“ („Oblako w stanach“), das Aleksander Nitzberg (im Gegensatz zu den bisherigen Nachdichtungen von v. Guenther, Huppert, Toss und Dedecius) in ein „Wölkchen in Hosen“ verwandelt. Mit einer beinahe einleuchtenden Erklärung. Das Russische kenne zwei verschiedene Ausdrücke für ,Wolke‘: tuča und oblako, der zweite bedeute zartes Wölkchen (Obwohl eher die Diminutivform ,oblatschko‘ zutreffend ist).
Doch Majakowski liefert nach Nitzberg in seinem Essay„ Wie macht man Verse“ einen klärenden Beweis. Er, Majakowski, habe einer Nachbarin im Zug von Saratow nach Moskau erklärt, er sei ein Wölkchen, um ihr seine Loyalität zu demonstrieren. Quod demonstrandum est: Im Prolog des Poems donnert der Dichter:

Wollt Ihr,
ich werde vom Fleisch ganz wild sein.
himmlisch wechselnd die Farbnuance,
wollt Ihr,
ich werde tadellos mild sein,
ein Wölkchen in Hosen, statt eines Manns.

Das Poem ist, nach Ansicht des amerikanischen Russisten Brown, „das erste Gedicht, in dem das Leiden des lyrischen Helden die konventionelle urbane Bühnenszenerie transzendiert, hinübergeht in das Universum auf der Suche nach einem Vater und einem Urgrund.“ Es entsteht zwischen dem Sommer 1914 und dem Frühjahr 1915. Sein Inhalt bezieht sich auf eine katastrophale Erfahrung, die in vier Aufschreien (das Poem wurde auch als Tetraptychon bezeichnet!) erzählt wird. Nitzberg charakterisierte sie als „eine triviale Liebesgeschichte mit unglücklichem Ausgang“, die der Dichter zum kompletten Scheitern, „zu einer totalen Ich-Verbrennung hyperbolisiert“.
Der Hauptschuldige in dieser Katastrophe ist ein alttestamentarischer Gott, der das Ich zerstört, die Sprache der Menschen verwirrt, den Traum von der Revolution zerschlägt und schließlich auch die Ursache für das Scheitern der Liebe, die zu Beginn des Poems thematisiert wird. Das lyrische Ich begehe deshalb den Gottesmord und bleibe, so Nitzberg, wie in der Tragödie allein zurück.
Die Anerkennung als Dichter war ihm nach seinen fulminanten Auftritten in Moskau und Petersburg sicher. Ossip Brik steuerte nach der Drucklegung des Poems eine begeisternde Rezension bei, in der er aus der Perspektive des Lesers schrieb:

Wir Gefangene Leprosoriens haben endlich unseren Dichter-Propheten bekommen.

Es war ein Dichter, der sein Publikum endlich wieder mit Brot, und nicht mit scheußlichem Süßgebäck versorgte.
In der Zwischenzeit wissen wir, daß es nicht nur die „prophetischen“ Aussagen waren, die die Bewunderung hervorriefen, sondern eine Reimtechnik, die Nitzberg in seinem Nachwort ausführlich als Stammreim (als klanglicher Kern eines Wortes) bezeichnet. Dieser neue Reim lasse die Wörter in ihrer Totalität miteinander verschmelzen.
Die von Nitzberg in vieler Hinsicht zu Recht kritisierte Übertragung des Majakowskischen Poems durch Huppert gewinnt in der hier vorgelegten Version nunmehr an Dynamik. Sie wird auf Grund der strafferen Rhythmisierung der Verse und der genaueren Semantisierung erreicht. Trotzdem neigt der Übersetzer noch zu einer Stilisierung, die stellenweise komisch wirkt. So heißt es im 4. Aufschrei:

Mein Blut sei der Straße ein Labsal mehr,
Blumen klebt sie dem Staub der Sultane an.
Und die Sonne umhüpft als Salome
die Erde
das Haupt des Iokonaan

Aber solche Konstrukte entstehen immer dann, wenn Nitzberg Endreime bewahren will, und sie auf Kosten der narrativen Klarheit opfert. Doch solche kleineren Mängel können den überzeugenden Gesamteindruck nicht schmälern. Eine gelungene Ausgabe, die auch durch das typographische Design von Urs Engeler markiert wird.

Wolfgang Schlott, die horen, Heft 208, 4. Quartal 2002

Ein Versuch über die Farbe der Fremdheit

„Wir wissen eigentlich noch gar nicht, was eine Übersetzung sey“, schrieb der Romantiker Friedrich Schlegel im Jahr 1797 – und stolperte damit über ein Dilemma, das bis heute fortbesteht. Denn das Übersetzen von Poesie ist immer mit der Erfahrung eines Verlusts verbunden. Wer große Dichtungen aus ihrem Urtext in eine andere Sprache übertragen will, dem widerfahrt unvermeidlich das prinzipielle Ungenügen des eigenen Tuns. In seinen Kritischen Fragmenten hat Schlegel bereits vor über zweihundert Jahren dieses literarische Defizit beschrieben:

Was in gewöhnlichen guten oder vortrefflichen Übersetzungen verloren geht, ist grade das Beste.

Was kann also der Übersetzer wirklich leisten? Ist er tatsächlich jener polyglotte Brückenbauer, der überschaubare Textsegmente von einer Sprache in die andere transportiert? Oder ist er nicht vielmehr ein permanent Schiffbrüchiger, der das scheinbar sichere Gestade einer Sprache verlassen hat, ohne je das feste Ufer des gesuchten Eilands zu erreichen? Glaubt man dem Dichter Peter Waterhouse, dann geht es nicht darum, ein Gedicht aus einer Fremdsprache benutzbar zu machen für einen deutschen Leser. Es geht nicht um die Heimholung des Fremden ins Vertraute, sondern darum, diese Fremdheit als poetische Ressource zu erkennen:

Übersetzen: nicht ,aus dem Italienischen‘ ins ,Deutsche‘ übersetzen, sondern eine italienische Sprache oder eine fremde Sprache in der deutschen finden, das ungesprochene Deutsch vielleicht, das unbekannte, das vergessene. Das Deutsche wieder unbekannter machen.

Das Terrain des literarischen Übersetzers ist also nicht das Bekannte und Vertraute, sondern das Fremde und die Differenz. Jede gelungene Übersetzung, so schrieb Friedrich Schlegels Zeitgenosse Wilhelm von Humboldt, trägt „eine gewisse Farbe der Fremdheit“ in sich. Eine Fremdheit, die nicht zu tilgen, sondern zu bewahren ist. Man kann noch weiter gehen und festhalten: Großen Übersetzungen ist paradoxerweise immer ein Scheitern eingeschrieben. Denn je ambitionierter sie einen poetischen Urtext in ihre Zielsprache überführen wollen, desto weiter entfernen sie sich von den Baugesetzen des Originals. Je virtuoser ein Übersetzer seine Fähigkeiten zur Nachdichtung entfaltet, desto stärker schiebt er sein eigenes sprachliches Zeichensystem über das des Urtextes.
Dennoch hat diese Arbeit nahe am Scheitern nichts von ihrer ästhetischen Faszination eingebüßt. Und auch wenn das Abenteuer der Übersetzung sich immer mit den Begrenzungen dieser Arbeit herumschlagen muss, gibt es doch immer wieder beglückende Versuche, Poesie und Übersetzung in ein symbiotisches Verhältnis zu bringen.

(…)

Ein einzigartiger Enthusiast der Poesie und der Übersetzung ist der in Wien lebende Alexander Nitzberg. Unter den bedeutenden Literaturübersetzern aus dem Russischen ist Nitzberg seit je der engagierteste und auch streitbarste. Mittlerweile hat er über 1.000 Gedichte aus dem Russischen und dem Englischen übersetzt, von denen er viele mühelos aus dem Gedächtnis vorzutragen weiß.
Der 1969 geborene Nitzberg ist Abkömmling einer russischen Künstlerfamilie und hat seine immensen Kenntnisse der russischen Moderne für seinen eigenen Umgang mit den Kunstmitteln von Reim und Metrum fruchtbar gemacht. Auch das Zirzensische, das er zudem in leichthändig vorgeführten Seiltricks zu demonstrieren weiß, hat Nitzberg aus der Familien-Tradition in seine poetisch instrumentierte Sprachlust hinübergerettet. Diese poetische Kunstfertigkeit hat bereits vor 15 Jahren der große Peter Rühmkorf erkannt und den jungen Nitzberg als „Musenjüngling, der einfach zu gut ist“ qualifiziert und ihn zudem als „Rastelli der Reimkunst“ geadelt. Wenn Nitzberg seine Übersetzungen vorträgt, erscheint er wie eine Reinkarnation der von ihm vorgetragenen Poeten. Auf der Frankfurter Buchmesse konnte man vor einigen Jahren beobachten, wie der zirzensische Poet und begnadete Vortragskünstler auf einen Tisch stieg, um den legendären Avantgardisten und „Schreihals-Zarathustra“ Wladimir Majakowski frei zu rezitieren.
Die stürmische Geste des Futuristen Majakowski, sein avantgardistischer Ehrgeiz, seinen rückständigen Zeitgenossen einen angriffslustigen Katechismus der Moderne vorzulegen, überträgt Nitzberg in barocker Sprachlust in ein Feuerwerk aus kühnen Bildern und aggressiven Metaphern. Wladimir Majakowskis 1914 entstandenes Poem Wölkchen in Hosen bringt er als sprachmusikalisches Kunstwerk zum Leuchten. Das aus vier Teilen bestehende Werk hat Majakowski als poetische Symphonie angelegt, in der vier große Appelle oder Aufschreie verpackt sind. Es ist eine Abrechnung des Dichters mit der Alten Welt. Er will nicht nur die alte Gesellschaftsordnung mitsamt ihrer Ideologie, Kunst und Religion zum Einsturz bringen, sondern auch in revolutionärem Furor den „Schädel der Welt“ zerbersten lassen. Alexander Nitzberg:

Ich schätze Dichter von eurem Schlag gering
Gebt ihr als Wachteln einen zum Besten?
Wir lassen
heute
mit einem Schlagring
den Schädel der Welt zerbersten!

Ihr
fragt euch einzig: „Ist mein Cancan
nicht noch graziler?“
Seht,
wie ich
mich vergnügen kann,
ein Straßenzuhälter und Spieler!

Auf! Steine, Messer; Bomben geschnappt,
ihr Flaneure und rasch herüber!
Hat einer von euch beide Arme ab,
benutze er als Rammbock die Rübe!

Auf! Ihr kleinen Hässlichen,
Miefigen
Darbenden
im gammlig verlausten, Hässlichen!
Die Werktage
tünche mit blutiger Farbe man,
so werden’s freie und festliche!

Die Erde, unter dem Schlachtermesser,
erinnert sich unser!
Die Erde,
fett gedunsen wie eine Mätresse,
die Herrn Rothschild beehrte!

Um seine übersetzerische Methode zu verdeutlichen, mit der er den von ihm aufgespürten „Geist des Werks“ mit dem „Text des Werks“ in Übereinstimmung bringen will, verweist Nitzberg auf ein programmatisches Gedicht des im deutschsprachigen Raum gänzlich unbekannten Poeten Dmitri Ussow. Auch in diesem 1928 entstandenen Gedicht reflektiert der Lyriker, der einen Text aus einer fremden Sprache in seine eigene „herüberheben“ will, die Begrenzungen des Übersetzens. Die Zeilen des von ihm zu übersetzenden Gedichts vermag er nicht „wortwörtlich wiederzugeben“, und dennoch findet er eine Form der poetischen Transposition, die dem Urtext gerecht wird.

DIE ÜBERTRAGUNG

Der Uhrenzeiger will sich kaum beeilen
an diesem Abend wandellos und fahl.
Da strahlt mich an mit vier geraden Zeilen
das aufgeschlagene Original:

„Zur Dämmerung verstummt das laute Treiben.
Die Stille wird zu einem langen Ton.
Ein goldner Vollmond schillert durch die Scheiben,
ich aber seh nur seine Reflexion.“

Die Zeilen möchte ich herüberheben,
doch unverrückbar stehen sie vor mir.
Ich kann sie nicht wortwörtlich wiedergeben,
und dennoch, weiß ich, bleiben es nur vier:

„Des Tages Lauf verliert sich in der Ferne,
und alles Lärmen läutet klar und lau.
Am Fenster flimmert eine Mondlaterne,
während ich sie im Spiegelglas erschau.“

In diesem Gedicht und seiner Übertragung verwischen die Sphären: Poesie und Übersetzung tauschen ständig die Plätze und am Ende ist kaum mehr zu unterscheiden, was das Original und was die Übersetzung ist.
Und da ist also plötzlich etwas, so erläutert Alexander Nitzberg,

wo die Form plötzlich selbst zum Inhalt wird, wo sich diese Kategorien plötzlich decken (…) Was ist jetzt eigentlich was? Bin ich jetzt das Original? Und was ich da lese, ist das meine Übersetzung? Oder ist das das Original und ich bin die Übersetzung? Also, das ist so ein Knäuel, ja, (…) und das ist genau das, womit man sich als Übersetzer und auch als Lyriker beschäftigt.

Und diese symbiotische Verbindung von Poesie und Übersetzung entspricht auch jenem romantischen Ideal, wie es Friedrich Schlegel und – noch wirkungsmächtiger – Friedrich von Hardenberg alias Novalis beschrieben haben. In einem Brief an August Wilhelm Schlegel hat Novalis eine bündige Formel für diese Symbiose gefunden:

Übersetzen ist so gut dichten, als eigene Werke zustande bringen, nur schwerer, seltener… am Ende ist alle Poesie Übersetzung.

Michael Braun, Volltext, Heft 3, 2013

 

Der Autor in Stücken Wladimir Majakowskij

Stückwerk und Zeilen,
als sei es das Ganze.

Rainer Maria Rilke

1
Ende 1912 erschien in Moskau unter dem polemischen und zugleich programmatischen Titel Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack das erste Manifest des russischen Kubofuturismus. Zu den Mitverfassern der radikal traditionsfeindlichen, bewußt auf Schock- und Propagandawirkung angelegten Deklaration der „Dichterrechte“ (prava poètov) gehörte, neben Chlebnikow, Krutschonych und Dawid Burljuk, auch der damals neunzehnjährige Kunststudent Wladimir Majakowskij, welcher kurz zuvor „völlig unverhofft zum Dichter“ geworden war und sich bereits auch als ebenso witziger wie aggressiver Wortführer der futuristischen Avantgarde einen Namen gemacht hatte.
Auf die „Ohrfeige“, die den „zukünftlerischen“ (budetljanskij) Traditionsbruch rhetorisch besiegeln, den „gesunden Menschenverstand“ und den „guten Geschmack“ durch die „Neue Heraufziehende Schönheit des Selbstwertigen [samovitogo] Wortes“ definitiv überwinden sollte, ließ Majakowskij im Verlauf des Jahres 1913 außer dem privat gedruckten Poesiefaszikel „Ich“ (Ja) eine Reihe von Programmschriften und Vorträgen folgen, in denen er den „Großmüttern der Akademien“ seinen „Fehdehandschuh“ drastisch vor Augen hielt und die „Errungenschaften des Futurismus“ als „wertvollen Beitrag zur laufenden Menschheitsgeschichte“ glaubhaft zu machen versuchte. Dieser Beitrag bestand, nach Majakowskij, insbesondere darin, daß der Futurismus „im Namen der Zukunftskunst in allen Bereichen der Schönheit einen großen Bruch [velikaja lomka]“ herbeigeführt und somit der Malerei wie auch der Dichtung zur „Freiheit“ verholfen habe, zur Befreiung von konventionellen, außerkünstlerischen Bindungen und Zwängen zugunsten ästhetischer Selbst- und „Eigenziele“ (samoceli). Für die Malerei seien „Farbe, Linie und Form als selbstgenügsame [samodovlejuščie] Größen“ zum Eigenziel geworden, für die Dichtung – „der Schriftzug [načertanie], die lautliche Seite“ des Worts.
Angeregt von Burljuk, belehrt von Chlebnikow und Malewitsch, unternahm Majakowskij, der die Poesie – in striktem Gegensatz zu den Symbolisten – nicht mehr bloß zur Evokation einer höheren Wirklichkeit (realiora), sondern zu deren Erforschung und Erschließung einzusetzen gedachte, den Versuch, das analytische Verfahren des „Verbalkubismus“ (kubizm v slove) mit dem Kunstgriff kinematographischer Dynamisierung zu verbinden. Schon in seinen frühsten Texten hat er denn auch den „großen Bruch“ – Voraussetzung der avantgardistischen Montagetechniken – metaphorisch thematisiert und ihn gleichzeitig in der Faktur, der Fraktur des poetischen Materials realisiert, was einerseits zur „Zerrüttung der Syntax“, zur Fragmentierung des Vers- und Strophenbaus, zur Brechung rhythmischer und melodischer Strukturen im Gedicht, zur Ablösung der Wort-„Form“ vom Wort-„Inhalt“, mithin zur Freisetzung des „Worts als solchen“ (slovo kak takovoe) und zu dessen semantischer Erneuerung (etwa durch morphologische oder phonetische Dissektion) geführt hat, anderseits, auf der Ebene der diskontinuierlich dargestellten Gegenständlichkeit, zur Desintegration, zur Neubenennung und damit zur Umfunktionalisierung sowohl der Dingwelt wie auch des Menschenbilds; und dem wiederum entsprach die von Majakowskij mehrfach – bald provozierend, bald ironisierend – festgehaltene Tatsache, wonach der Ich-Autor als Diskursinstanz ausgedient habe und durch ein kollektives, der „Scholle des Worts ,wir‘“ verhaftetes Autoren-Ich abgelöst worden sei, durch eine Reihe „verschiedener Majakowskijs“, denen der „Unflat“, der „Zyniker“ oder ein referenzloses „Ich“, „der Dichter Majakowskij“ und „ein junger Mann von zweiundzwanzig Jahren“ gleichermaßen zugehörten. Statt der stereotypen Maske des „Poeten“, die ihn auf eine bestimmte, auf eine bestimmte soziale Rolle – sei’s als „Genie“ oder „Prophet“, sei’s als „Dandy“ oder als „Revolutionär“ – festgelegt hätte, trug Majakowskij eine Vielzahl von Masken, die ihm, der das eigene Gesicht als Ikon, den eigenen Namen als Typenbezeichnung verwendete, die Möglichkeit gab, sein individuelles Ich zu exhibieren und es gleichzeitig im Sozium des Nicht-Ich aufgehen zu lassen, obwohl er als Autor konsequent auf seinem gesellschaftlichen Außenseitertum – „so ward ich denn zum Hund“ – beharrte.
Der Dichter steht für alle; er spricht für alle, er „weint für alle“, und er wird „für alle büßen“, wie es in Majakowskijs Gedicht „Darüber“ (Pro èto, 1923) heißt. Doch selbst dort, wo er im Namen all seiner namenlosen Landsleute spricht, vermag sich der kollektive Autor, der zugleich kollektiver Held – „ganz / Rußland / ein einziger Iwan“ – sein soll, nur schwer vom poetischen Ich Majakowskijs zu lösen; in den Entwürfen zum Poem „150‘000’000“, das 1920 – anonym – erschien, scheint der Dichter, gegenüber allen Andern, als der Eine sich behaupten zu wollen, bevor er schließlich hinter das Wir des Texts zurücktritt.

Neuer Name
Reiß dich los
flieg hoch
ins Gehäus des Weltenraums
Tausendjähriger
mieser Himmel
hau ab du Blauarsch
Das bin Ich
ich, ich
ich
ich
ich
der begeistert die Erde saniert.

„Wenn wir Majakowskijs Mythologie in die Sprache der spekulativen Philosophie übersetzen wollten“, meint Jakobson in seinem Nachruf auf den Autor, wäre die Antinomie ,Ich/Nicht-Ich‘ eine genaue Entsprechung dieser Feindschaft [zwischen dem empirischen Alltags-Ich und dem schöpferischen Dichter-Ich]. Eine adäquatere Bezeichnung für den Feind läßt sich nicht finden. – So wie das schöpferische Ich des Dichters sich nicht mit dem empirischen deckt, so deckt sich umgekehrt dieses nicht mit jenem. In der gesichtslosen Parade der mit häuslichen Spinnweben umsponnenen Bekannten

erkannte er
aaain einem
aaaaaa– wie Zwillinge ähnlich –
sich selbst –
aaadas Selbst
aaaaaaIch.

Der weder psychologisch noch dramaturgisch motivierte Gebrauch wechselnder Masken im poetischen Text ist bei Majakowskij Prämisse für ein neues Sehen, das die reale Gegenständlichkeit auf der Darstellungsebene dynamisiert, relativiert, vielleicht sogar auflöst, indem es, der Wechseloptik des analytischen Kubismus oder auch des Einsteinschen Bahnpassagiers vergleichbar, eine mobile Autorenposition vortäuscht, welche nicht mehr die Dinge selbst in ihrem gewohnten Realitätskontext zur Erscheinung bringt, sondern das Verhältnis zwischen den Dingen in ungewohnter, oftmals exzentrischer Perspektive veranschaulicht, sich also primär um die sinnliche Erfahrbarkeit (und nicht um die künstlerische Darstellbarkeit) einer total objektivierten, ästhetisch nivellierten Alltagswelt bemüht, deren Paradigma Majakowskij in den Höllenkreisen der modernen Metropole – in Moskau ebenso wie in New York – zu erkennen glaubt: „In allen Bereichen der Kunst sind wir mit dem neuen Wort unterwegs. – Doch neu kann heute nicht irgendein beliebiges, in unserer grauen Welt noch niemandem bekanntes Ding [vešč’] sein, sondern nur die gewandelte Sicht auf die Wechselbeziehungen zwischen all den Dingen, die unter dem Einfluß des gewaltigen und wahrhaft neuen Lebens der Stadt ihr Antlitz schon längst verändert haben.“
Nicht bloß die Dinge, auch die Worte mußte Majakowskij, um sie erneut (und neu) wahrnehmbar zu machen, zertrennen, zerlegen; denn Wort und Ding, Kunst- und Lebenstext waren für ihn grundsätzlich analoge, ja isomorphe Erscheinungsformen einer und derselben Wirklichkeit, was der kubofuturistischen Gleichsetzung von Werk und Welt, von Kunst und Nicht-Kunst, von Ideologie und Empirie entspricht. Aufgrund solcher Gleichsetzung konnte Majakowskij die jeweils spezifischen Eigenschaften von Worten und Dingen als gleichwertig behandeln, wodurch er überdies die Möglichkeit erhielt, Wort-Dinge und Ding-Worte frei zu schaffen, zu verwenden, zu vertauschen: semantische Verdichtung durch Verdinglichung der Semantik; ein Verfahren, das für den literarischen Kubofuturismus insgesamt kennzeichnend ist und das im wesentlichen darin besteht, den Signifikanten als Signifikat, die Metapher als Realgebilde, das „Wort als solches“ zu objektivieren.
Indem sich die Futuristen von der fast ausschließlich mit Sinn-Produktion befaßten Dichtung des Symbolismus polemisch absetzten und die Sprache dahingehend zu rehabilitieren versuchten, daß sie sie „vor allem als Sprache“ verwendeten, als ein Werk-Zeug, welches – „der Säge oder dem vergifteten Pfeil des Wilden“ vergleichbar – nicht primär Bedeutung, vielmehr Wirkung haben sollte, eröffneten sie „eine inhaltlich neue Welt“ (mir s novym soderžaniem), in der „die Schwere der Dinge“ durch „die Schwere der Klänge“ aufgehoben, neue „Inhalte“ durch neue „Formen“ hervorgebracht, Wörter als Gegenstände begriffen und benutzt werden konnten. „Wir begannen, Da und Dort zu sehen“, heißt es in Krutschonychs Programmschrift über „Die neuen Wege des Worts“ (1913):

Das Irrationale [zaumnoe] ist uns ebenso unmittelbar gegeben wie das Rationale [umnoe]. – Wir brauchen kein Medium, weder Symbol noch Gedanken, wir liefern unsere eigene neue Wahrheit und dienen nicht etwa der Widerspiegelung irgendeiner Sonne (oder eines Balkens?).

Die „neue Wahrheit“ des russischen vorrevolutionären Futurismus war nichts anderes als das durch Verdinglichung gewonnene „neue Wort“, dessen Realitätskorrelat sich von der wahrgenommenen Welt auf die Wahrnehmung der Welt verlagert hatte, eine Wahrheit übrigens, die ihren Objektivitätsanspruch durch erklärte Subjektivität legitimieren konnte:

Je subjektiver die Wahrheit, desto objektiver [ist sie]. Die subjektive Objektivität ist unser Weg.

Die von den frühen Futuristen – wiederum namentlich von Chlebnikow, Krutschonych, Majakowskij – sowohl am „Wort als solchem“ wie auch im Bereich der dargestellten Gegenständlichkeit konsequent betriebene Verdinglichung der poetischen Wortwelt hatte nicht zuletzt die für den Kubofuturismus charakteristische Annäherung zwischen literarischer und bildnerischer Praxis zur Folge, was zur Kanonisierung (und faktischen Dominanz) künstlerischer Doppelbegabungen sowie, im Zusammenhang mit der Aufwertung des Manifests zu einem literarischen Faktum, zu zahlreichen metaphorischen Analogiebildungen zwischen Poetik und Kunsttheorie führte.

In diesem Sinn hat Majakowskij, der unter den russischen Kubofuturisten wohl als die stärkste literarisch-bildnerische Doppelbegabung gelten kann, in seinen theoretischen Schriften von allem Anfang an (und immer wieder) auf die gemeinsamen „Selbstziele“ der malerischen und der dichterischen „Konzeption“ hingewiesen, auf die Parallelität „der Wege, die in Malerei und Dichtung zur Erlangung der künstlerischen Wahrheit führen“. Die von Schklowskij geforderte „Auferweckung des Worts“ hat Majakowskij nicht nur für die Belebung (oživlenie) und die dinghafte Verdichtung (oveščestvlenie) des sprachlichen Zeichens nutzbar gemacht; er hat sie auch als notwendige Voraussetzung für jenen analytischen „Verbalkubismus“ erkannt, den er damals durch „Zerstückelung“ (razdroblenie) und Neumontage des Wortmaterials in zahlreichen poetischen Texten erprobte. So lautet, beispielsweise, Majakowskijs „Erschöpfendes Frühlingsbild“, eine anagrammatisch strukturierte Textminiatur aus dem Jahr 1913, wie folgt:

[1] Listočki.
[2] Posle stroček lis-
[3] točki.

In wörtlicher Übersetzung ergibt sich dazu das folgende deutsche Äquivalent:

Blättchen,
Nach den Zeilen Blätt-
chen.

Doch weder Syntax noch Semantik sind für den Text und dessen Verständnis konstitutiv; der Sinnzusammenhang des schlichten Dreizeilers ergibt sich allein aus seiner klanglichen Struktur, aus der Verwendung von homophonen, assonantischen und anagrammatischen Fügungen, durch die die konventionelle Bedeutung des eingebrachten Wortmaterials („Blättchen“; „nach“; „Zeilen“) verfremdet, ins Wanken gebracht, auf schillernde Mehrdeutigkeit hin geöffnet, also erweitert wird. Majakowskijs verbales „Frühlingsbild“ ist „erschöpfend“ insofern, als es sämtliche darin vorkommenden Wörter in mehrfacher Weise – gleichsam in all ihren möglichen Bedeutungen – lesbar, sie als Wort-Dinge sichtbar macht. Durch Verschiebung der Wortgrenzen und durch entsprechende Wortzerlegung kann beispielsweise „Blättchen“ (listočki) als „Füchse (lis-; Gen. Pl.) und „Punkte“ (točki) gelesen werden [1], so daß die Zeilen [2] und [3] nunmehr zu übersetzen wären mit „nach den Zeilen der Füchse – / Punkte“. Dazu kommt die zwischen Kultur und Natur fluktuierende semantische Doppeldeutigkeit aller drei Begriffe: „Blättchen“ kann sich im Russischen ebenso auf Pflanzenblätter wie auf Papier- beziehungsweise Schreibblätter beziehen; „Zeilen“ und „Punkte“ lassen sich – wo von „Füchsen“ die Rede ist – mit Fährten, Spuren assoziieren, und selbst die Präposition „nach“ (posle) hat, wenn man das Wort anagrammatisch auflöst, Anteil an Majakowskijs „Frühlingsbild“, enthält es doch, je nach Arrangement der gegebenen Buchstabenfolge, die russischen Wörter für „Feld“ (pole) und für „Wald“ (les). Der freie spielerische Umgang mit dem „Wort als solchen“ – mit seiner Laut- oder Schriftgestalt – ermöglicht, auf Kosten semantischer Eindeutigkeit und instrumenteller Verwendbarkeit, eine offene, assoziativ sich entfaltende Lektüre, die ihrerseits poetische Qualität haben kann.
In ähnlicher Weise wie im „Erschöpfenden Frühlingsbild“ macht Majakowskij das Prinzip der Wort-, Satz- und Verszerlegung für die anagrammatische Konstruktion einer neuen („selbstgenügsamen“) textuellen Totalität nutzbar, wenn er, mit implizitem Bezug auf die kubistische Ästhetik, sein Großstadtgedicht „Von Straße zu Straße“ (1913) typographisch so präsentiert, daß die vielfach gebrochenen, meist sehr kurzen Zeilen eine in der Vertikalen perspektivisch gestaffelte, sich selbst immer wieder überschneidende Reihe von Laden- und sonstigen Reklameschildern darstellen, ohne daß der Leser darauf angewiesen wäre, ihren Bedeutungsgehalt zu erschließen, um sich die Situation bildhaft vorstellen zu können:

U                                                   (St-
lica.                                              Raße.
Lica                                              Rasse
u                                                    bei
dobov                                           Hunden
godov                                           hundertmal
rez-                                               schärf-
če.                                                 fer.
Če-                                                For-
rez                                                 scher
železnych konej                        Eisenpferden nach
s okon beguščich                      aus Pforten flüchtiger
domov                                          Häuser
prygnuli pervye kuby              sprangen erste Kuben
…                                                   …)

Hier wird der „Verbalkubismus“ im Gedicht und durch dieses selbst – in seiner phonetischen Instrumentierung, durch seine syntaktische und typographische „Zerstückelung“ – als strukturbildendes Verfahren realisiert; auf der Darstellungsebene wiederum findet die „Zerstückelung“ des autonom gesetzten Worts ihre Entsprechung darin, daß die alltägliche Dingwelt in disparate Partialobjekte auseinanderfällt, welche sodann – zumeist als Körperteile, als Kleidungs- oder Möbelstücke – ungewohnte, über die Welt der Objekte hinausgreifende Beziehungen eingehen, wodurch sie, etwa in der Form von Dingmetaphern oder Katachresen, poetisches Eigenleben und damit auch eine neue Identität, neue Totalität gewinnen:

Trat ein beim Frisör, sagte ruhig:
„Seien Sie so lieb und stutzen’s mir die Ohren.“

[…]
Das Geschimpf schwappte von einem Gequieke zum andern,
und la-a-a-ange-lang
kicherte jemandes Kopf,
den man wie ’ne olle Radiese aus der Menschenmenge gezupft hatte.

… schrie ein Aeroplan und fiel dorthin,
wo der wunden Sonne das Auge ausgeflossen war.

… wie ein Soldat,
verstümmelt im Krieg,
überflüssig,
verlassen,
sein einziges Bein.

… entliefen dem toten Schneider die Hosen…

Und Korsette krochen, voller Angst vorm Fallen,
aus den Ladenschildern für Kleider und Moden.

Die Autonomisierung beziehungsweise Personifizierung der aus den praktischen Funktionszusammenhängen der Alltagswelt ausbrechenden (oder herausgebrochenen) Teilstücke bewirkt die weitgehende Nivellierung der Wesensunterschiede nicht nur zwischen den Dingen, sondern auch zwischen Dingen und Menschen, die nunmehr als vermenschlichte Objekte und verdinglichte Subjekte unterschiedslos ineinandergreifen, sich zu neuen Ganzheiten formieren.
Wie Malewitsch und Chlebnikow war auch Majakowskij der Ansicht, daß „die seltsame Gebrochenheit der Welten in der Malerei“ nicht zuletzt für die Dichtung und deren „Befreiung von den Fesseln“ vorbildlich, ja verbindlich sein mußte, und daß es Aufgabe der futuristischen „Redeschöpfer“ (rečetvorcy) sei, in Übereinstimmung mit den bildenden Künstlern, die sich willkürlich diverser „Körperteile und Schnittfiguren“ (razrezami) bedienten, „durch zerhackte Wörter, durch Halbwörter und deren staunenswert scharfsinnige Neufügung“ der „Sprache der dynamischen [stremitel’noj] Gegenwart“ ihre „höchste Ausdruckskraft“ zu verleihen. Im poetischen wie im bildnerischen Kubofuturismus wird denn auch durch die Gleichsetzung von Mensch und Ding verdeutlicht, daß die Darstellung anthropomorpher Leiblichkeit über die äußere Erscheinungsform des Menschen hinaus auf die dingliche Umwelt verweisen muß, durch welche das Menschen-Bild erst eigentlich als ein Ganzes konstitutiert wird.

2
Mit besonderem Engagement hat sich Majakowskij – als Kritiker wie auch als Dramatiker – für die Erneuerung des russischen Theaters eingesetzt, das er von den „Fesseln“ illusionistischer oder utilitärer Wirklichkeitsbezüge zu befreien und durch eine „besondere Schauspielkunst“ abzulösen gedachte, deren Anliegen nicht mehr die theatralische Darstellung sein sollte, sondern der allein aus „Intonation- und reiner „Bewegung“ gewonnene, von der Textbedeutung unabhängige theatralische Ausdruck:

Der von uns in sämtlichen Domänen der Schönheit im Namen einer künftigen Kunst – der Kunst der Futuristen – eingeleitete große Bruch wird und kann auch vor der Tür des Theaters nicht haltmachen

Um diese seine wiederholt vorgetragene Überzeugung zu bekräftigen, entschloß sich Majakowskij schon im Sommer 1913 zur Niederschrift einer dramatischen Dichtung, welche den „großen Bruch“ des futuristischen gegenüber dem naturalistischen und symbolistischen Theater markieren sollte. Unter wechselnden Arbeitstiteln – Die Eisenbahn, Der Aufstand der Dinge – verfaßte er, in direkter Fortsetzung und in auffallender motivischer wie auch struktureller Analogie zu seiner frühen urbanistischen Lyrik, ein streng symmetrisch gebautes, in zwei Akte gegliedertes, mit Prolog und Epilog versehenes Versdrama, das er in eigener Inszenierung am 2./4. Dezember 1913, abwechselnd mit Matjuschins und Krutschonychs futuristischer Oper Der Sieg über die Sonne, als „Tragödie“ im Petersburger Luna-Park-Theater zur Aufführung brachte.
Mit der eher klassizistisch denn futuristisch anmutenden dramaturgischen Gesamtanlage der „Tragödie“, die als Titel den Namen des Autors – Wladimir Majakowskij – trug, kontrastierte in auffälliger Weise sowohl die Inkohärenz des Handlungsablaufs wie auch die Diskontinuität des Dramentexts und dessen rhetorische Konkretisation durch den Autor, welcher, die phänomenale Absenz – den „Tod“ – des Schriftstellers überwindend, sich selbst in der Hauptrolle des „20- bis 25jährigen Dichters Wladimir Majakowskij“ auf der Bühne präsentierte, was ihn, den Schauspieler, zugleich der Notwendigkeit enthob, ein Nicht-Ich zu werden, um „ich“ sagen zu können. Der auktoriale Authentizitäts- und Totalitätsanspruch wird damit vom Darsteller (Majakowskij als Person) auf den Dargestellten („Majakowskij“ als Rolle) verlagert; allein in der Rolle „Majakowskijs“ kann Majakowskij glaubhaft machen, was er in Wirklichkeit ist, im Leben. Der Titel der „Tragödie“, so heißt es in Pasternaks autobiographischem Geleitbrief (1929/1931), „enthielt die genial einfache Entdeckung, daß der Dichter nicht Autor, sondern Gegenstand [predmet] einer Lyrik ist, die in der ersten Person zur Welt spricht. Der Titel war nicht der Name des Verfassers, sondern der Familienname des Inhalts.“ Dadurch, daß Majakowskij seinen Namen zum Titel des Werks machte, identifizierte er sich gleichsam mit dem „Körper“ – corpus – seines Texts und objektivierte seine Biographie als literarisches Faktum. Um dies zu erreichen, konnte er sich freilich nicht damit begnügen, „ich“ zu sagen und sich selbst, durch die Re-Zitation des eigenen Texts auf der Bühne, als Ich darzustellen. Er wußte, daß man seinen wirklichen, wirklich individuellen Eigennamen nicht durch integrales Selbstbewußtsein, sondern einzig durch totale Selbstentäußerung erwirbt, und eben diesen höchst dramatischen Vorgang vollzog er in seiner „Tragödie“ als Depersonalisierungsprozeß, der – Initiation und Opfergang zugleich – bis zur leiblich-körperlichen „Zerstückelung“ des Protagonisten („ich“) getrieben wurde und seine Sinnerfüllung letztlich nur in der Auferstehung des Ich zum „Wir“ (ja na glybe my) finden konnte, in der Vernichtung des Ich und seiner Vereinigung mit dem kollektiven Nicht-Ich.
Die multidimensionale und multifunktionale Erweiterung der Ich-Instanz des Autors, die nun als komplexe, wiewohl allseitig offene Neukonstruktion auch zu der sie umgebenden Dingwelt in ein neues Verhältnis treten mußte, hatte, unter anderm, zur Folge, daß die Grenzen zwischen humaner Leiblichkeit und materieller Körperlichkeit fließend wurden; daß die Dinge – im Text wie auf der Bühne – leibliche Gestalt annehmen, sich verselbständigen, sich gar gegen den Menschen erheben konnten, während dieser in Teilstücke zerfiel und seinerseits, als ein loses Konglomerat anthropomorpher Partialobjekte, Dingcharakter anzunehmen begann.
In genauer Übereinstimmung mit Boccionis Thesen zur futuristischen Bildhauerkunst war Majakowskij bemüht, seine „Tragödie“ als mehrdimensionales Modell einer „neuen inneren Wirklichkeit“ zu inszenieren, „an deren Aufbau die Elemente der äußeren Wirklichkeit auf Grund des Gesetzes der bildnerischen Analogie“ mitwirken, so daß also „die Umwelt als eine Welt für sich und mit eigenen Gesetzen am bildnerischen Komplex teilhaben muß; daß der Bürgersteig auf euren Tisch steigen und daß euer Kopf die Straße überqueren kann, während eure Lampe zwischen dem einen und dem anderen Haus ihr Gipsstrahlengewebe spinnt“.
Die automatisierte, ästhetisch kaum noch erfahrbare Subjekt-Objekt-Beziehung – „… wo der Mensch seinen Mundschlitz hat, / ist manchen Dingen / ein / Ohr / aufgenäht“ – wird durch die alogische Verschränkung von Teilstücken der „inneren“ mit solchen der „äußeren Wirklichkeit“ schockartig verfremdet und nicht selten in ihr Gegenteil verkehrt. Die Dinge sind nicht mehr bloß Befehlsempfänger („Ohr“), die sich vom Menschen („Mund“) nominal und kategorial festlegen lassen; sie entfalten, indem sie „die Klamotten ihrer ausgetragenen Namen abwerfen“ und aus dem hierarchisch strukturierten System der Objekte ausbrechen, ein expansives, für die Diktatur des Autors bedrohliches Eigenleben, das ihnen gleich auch zu neuen Eigennamen – und das heißt: zu neuen Eigenschaften – verhilft:

Weinvitrinen,
wie auf Satans Wink,
selbst pinkelten den Flaschen auf den Grund.
Einem erstorbnen Schneider
enteilte ein Paar Hosen,
haute ab –
allein! –
ganz ohne Menschenschenkel
Besoffen –
den schwarzen Rachen offen –
kollerte aus dem Schlafgemach ’ne Kommode.
[…]
Strümpfe wie Kokotten
zwinkern kokettierend.
Wie ’n Fluch flog ich dahin.
Das eine Bein
holt mich erst in der Nachbarstraße ein.
Na ja,
ihr,
die mich einen Krüppel schimpft?! –
ihr alten
feisten,
aufgedunsnen Feinde!
Heutzutage
gibt’s doch weltweit keinen Menschen
mehr, der
zwei
gleiche Beine
hätte!

Die Dinge sind bedrängend geworden, bedrohlich; daß es die Dinge waren, die „austraten“ und ihr „Nicht-Einverstanden erklärten“, „Dinge um Existenz ringend, zuckend, beschwörend, beschworen“, „Dinge, die fragen: Was bin ich? und: Bin ich?“, hat gleichzeitig mit Majakowskij – um 1913 – Marcel Duchamp durch seine ersten objets trouvés dokumentiert, denen er, indem er sie aus der alltäglichen Dingwelt abzog und einem ungewohnten Realitätskontext einordnete, die verlorene Autonomie zurückgab. In der Tat scheint die künstlerische Moderne – so hat es Erhart Kästner einst notiert – „nichts Dringenderes zu kennen als die Not, in welche die Dinge gerieten“: Dinge im Notstand.
Der aus solchem Notstand erwachsende „Aufstand der Dinge“ vollzieht sich bei Majakowskij als ein semantischer Materialisierungsprozeß, durch den die „Dinge als solche“, befreit von fremdbestimmter Nomination und Funktion, signifikant werden und als autoreferentielle materialisierte Quasizeichen in den künstlerischen Text eingehen, der dem realen Lebenstext gleichgesetzt und folglich zu seinem eigenen Wirklichkeitskorrelat wird.
In Majakowskijs „Tragödie“ wird der Dingaufstand simultan auf der Ebene der dargestellten Gegenständlichkeit und durch die Darstellung als solche vorgeführt; der dargestellten Dingbelebung entspricht das poetologische Prinzip der Darstellung durch Wortbelebung, und die Körperfragmentierung (beziehungsweise die Verselbständigung von Körperteilen), aber auch die Verdinglichung von Körperfunktionen („auf dem Sofa liegt ein Kuß, / mächtig / und fett“) und Seelenzuständen („aus meiner Seele / kann man auch ganz / nette Röckchen nähen“) findet ihren adäquaten Ausdruck in der rigoros betriebenen Textzerstückelung sowie im auffallend häufigen Gebrauch realisierter Metaphern, welche allerdings weniger zur Feststellung als vielmehr zur Herstellung von Ähnlichkeiten zwischen Unähnlichem eingesetzt wird. So kann Majakowskij in quasirealistischem Diskurs von der „unrasierten Backe der Plätze“ sprechen, von der riesigen „Trommel des Bauchs“, auf dem die Massen tanzen und stampfen, vom „gestreiften Gesicht einer gehenkten Sehnsucht“, von Nerven-Drähten und Draht-Muskeln, von der Schwierigkeit, „die Hände rauszuziehn / aus dem weißen Gebiß wutentbrannter Klaviertasten“, von tanzenden Kaminen, von Gestirnen, die als Abzeichen (oder als Broschen) „am Kleid“ getragen werden.
Die poetische Funktion der Metapher bleibt hier nicht darauf beschränkt, durch semantische Kontrast-Montage übertragene Bedeutungen zu produzieren, sondern hat zum Ziel, sprachliche in empirische Realia zu verwandeln, den Text also jenem Verdinglichungsprozeß (und damit auch jenem „großen Bruch“) auszusetzen, den Berdjajew – mit Blick auf Picasso und Belyj – schon 1914 als das „Todesprinzip“ (Adorno) der künstlerischen Moderne erkannt und eingehend analysiert hat. „Die Malerei ist mit den Kristallen gestalteter Leiblichkeit ebenso verbunden wie die Poesie mit den Kristallen des gestalteten Wortes. Die Zergliederung und Auflösung des Wortes muß den Eindruck erwecken, die Poesie sei am Ende. Und in Tat und Wahrheit sind ja die Kristalle des Wortes gleichermaßen in Auflösung begriffen wie die Kristalle der Körpergestalt.“ Und:

Es scheint, als sei in der Welt materieller Verkörperung und Leiblichkeit alles schon endgültig eingerissen, détraqué. Auf dieser Ebene des Daseins ist das organische, synthetisch-ganzheitliche Glück, ist die Schönheitstrunkenheit unmöglich geworden.

Stets erinnert der fragmentierte Körper – etwa in Form von Reliquien, Ex-voto-Bildern, anatomischen Modellen, heraldischen Möbeln oder Restbeständen antiker Skulpturen – an den Verlust einer Ganzheit, den Zusammenbruch integraler Gestalthaftigkeit, mithin an die dekonstruktive Fatalität von Krankheit und Tod, doch ebenso verweist er auf das Heilsversprechen der Auferstehung und die daraus neu zu gewinnenden „Kristalle der Körpergestalt“.
Auf durchaus innovative Art und Weise hat Majakowskij, die Objekt- und Fetischinszenierungen der Surrealisten souverän vorwegnehmend, in seiner „Tragödie“ die dionysischen Zerstückelungsrituale des antiken Trauerspiels reaktualisiert, indem er – „vielleicht / der letzte Poet“ – realiter aus sich herausging, den „Unterschied zwischen / seinen eigenen Gesichtern und den fremden tilgte“, das auktoriale Ich in ein verdinglichtes Wir zerlegte und es in Form von monumentalisierten Körperteilen als dramatis personae am Bühnengeschehen beteiligte.
Als einziger mit einem Namen versehener Protagonist – und schon dadurch von den grotesken Masken sich abhebend, mit denen er sich auf der Bühne umgab – stand bei der Aufführung Majakowskij persönlich in der Rolle „Majakowskijs“ einem Kollektiv von Krüppeln, Puppen und Komparsen gegenüber, zu denen nebst „seiner Bekannten“ (einem stummen weiblichen Riesenidol von vier bis sechs Metern Höhe) je ein anonymer Mann „ohne Auge und Bein“, „ohne Ohr“, „ohne Kopf“, ein „Mann mit zerdehntem Gesicht“, ein „Mann mit zwei Küssen“, ein „gewöhnlicher junger Mann“, ein „mehrere tausend Jahre alter Mann mit schwarzen trockenen Katzen“ sowie drei Frauen mit unterschiedlich großen Tränen gehörten, welche insgesamt ein Wir bildeten, durch das der Autor sein Ich offenbaren und verklären, aber auch in die Anonymität weggleiten, sich verdunkeln und in einer uniformen „majakomorphen“ Welt sich verlieren lassen konnte, „wo alle – / als Last / – dieselben Gesichter tragen…“

An dieser Stelle sei – ohne daß damit ein direkter Einfluß behauptet werden soll – auf die bemerkenswerte konzeptuelle Übereinstimmung zwischen Majakowskijs „Tragödie“ und der bereits 1912, somit ein Jahr früher erschienenen Bühnenkomposition Der gelbe Klang von Wassilij Kandinskij hingewiesen. Auch bei Kandinskij treten in einem weitgehend leeren Szenenraum diverse, grotesk verzeichnete und überhöhte Figurinen auf, darunter fünf gelbe, „möglichst große“ Riesen, mehrere „rote, undeutliche Wesen, die etwas an Vögel erinnern“ und deren Köpfe nur noch „entfernte Ähnlichkeit mit menschlichen haben“, außerdem ein ganz in Schwarz gekleideter Fettwanst, ein kleines engelhaftes Kind in weißem Hemdchen sowie zahlreiche, in der Art von „Gliederpuppen“ hergerichtete Tänzer, welche – wie alle übrigen Figurinen auch – auf den Protagonisten des Stücks, den „weißen Menschen“, ausgerichtet sind, dessen Solotanz den dramatischen Höhepunkt der Komposition bildet. Der gigantische hellgelbe Riese, der im Schlußbild sich erhebt und dessen Körper wie ein Baum allmählich expandiert, bis er die Bühne zur Gänze ausfüllt, bildet so etwas wie die männliche Entsprechung zu Majakowskijs Riesenweib, das als stumme Göttin dem jungen – und „vielleicht letzten“ – Dichter assistiert. Die Ähnlichkeiten im Figurativen und Szenischen werden noch unterstrichen durch die hintersinnigen (oder auch schlicht unsinnigen) Reden, die auf der Bühne geführt werden. Daß Kandinskij in diesem Zusammenhang bereits auch von der irrationalen, rein ästhetischen, rein klanglichen, nicht mehr bedeutungsgebundenen Funktion des „Worts als solchen“ spricht, ist deshalb zu vermerken, weil dieser Begriff – nachmals ein zentraler Topos des Futurismus und Formalismus – in Rußland erst ab 1913 in Gebrauch kam und nicht zuletzt von Majakowskij oftmals verwendet wurde.
Sowohl die Verdinglichung sprachlicher Zeichen wie auch, auf der Darstellungsebene, die Demontage der gegenständlichen Alltagswelt – mithin ein künstlerisches Verfahren – hat Majakowskij im poetischen Raum der Schaubühne dadurch realisiert, daß er, Autor und Akteur in einem, das protagonistische Ich der „Tragödie“ nicht nur vertrat, sondern es, noch in der Zerstückelung, durch seine Person verkörperte; der Titel des Stücks – Wladimir Majakowskij – ist deshalb nicht zuletzt als Signatur des Autors zu lesen.

Ich schrieb von euch
all dies,
ihr armen Ratten

heißt es im Epilog des Dichter-Helden:

Manchmal kommt’s mir vor –
ich bin ein holländischer Hahn
oder auch
König, ein Pskowskij.
Und dann wieder
gefällt mir vor allem
mein eigener Name,

Wladimir Majakowskij.

Nicht der Autor also hat das letzte Wort; das letzte Wort im Text – es beschließt und besiegelt die „Tragödie“ – ist der Name des Autors. Und dieser Name – „Majakowskij“ – wird von Majakowskij in der Buchausgabe des Stücks in einer Art und Weise inszeniert, die der Gesamtanlage der „Tragödie“, der Körper- und Satzfragmentierung genau entspricht. Die Dekonstruktion des Autornamens – Zerstückelung und anagrammatische Neumontage – wird typographisch diskret eingespurt durch die Hervorhebung einzelner Lettern im Wort „Pskowskij“, welches den eigentlichen Eigennamen vorab ankündigt: in „Pskowskij“, aber auch im russischen Wort für „König“ (korol’, gesprochen „karóll“) sowie in „mein“ (russisch moja, gesprochen „majá“) ist der Name Majakowskij anagrammatisch verstreut, um dann als Schlußfigur aus der Zerstreuung noch einmal integral zu erstehen. Außerdem wird aber auch, explizit und implizit, mit andern Versatzstücken des Autornamens operiert, so mit dem russischen Buchstaben ja (Я), der in „Majakowskij“ ebenfalls vorkommt und der, als Wort gelesen, „ich“ bedeutet. Im weitern lassen sich aus dem Letternbestand von „Wladimir Majakowskij“ die Wörter mir (für „Friede“, „Welt“), majak (für „Leuchtturm“) und maj (für „Mai“) ableiten – eine Tatsache, die sich Majakowskij in seinen poetischen Texten verschiedentlich nutzbar gemacht hat.
Seinen polyphon instrumentierten Ich-Diskurs ließ Majakowskij auf der Bühne durch ein Kollektiv von Laienschauspielern vortragen, die ihrerseits jedoch nicht als handelnde Personen, sondern, versteckt hinter lebensgroßen Kartonschildern, auf denen die ihnen fehlenden Körperteile aufgezeichnet waren, als wandelnde Masken in Erscheinung traten, „weil der Autor sie lediglich als bildhaft umgesetzte Intonationen seiner eigenen Stimme gelten ließ“ und, indem er mit demiurgischem Impetus die ihn bedrängende Dingwelt „fragmentierte, fruktifizierte und multiplizierte“, sich selbst aus den Teilstücken neu erschuf. Ohne Zweifel hat Majakowskij für die dramaturgische Konzeption seiner „Tragödie“, welche dem autonomen Protagonisten ein maskiertes Kollektiv zuordnet, die archaische Darbietungsform der Dyas – die Konfrontation des kyklischen Chors mit dem in der Mitte stehenden Gott oder Helden – zum Vorbild genommen, wobei er sich auf die damals vieldiskutierten einschlägigen Arbeiten Wjatscheslaw Iwanows gestützt haben dürfte. – Mag sein, daß Majakowskij bei der Niederschrift seiner „Tragödie“ sich auch an Aleksandr Bloks Grundsatzerklärung von 1910 „Über den gegenwärtigen Zustand des russischen Symbolismus“ erinnert hat, einen Text, in dem – wiewohl metaphorisch verbrämt – manches vorweggenommen wird, was erst Jahre später durch die Protagonisten der futuristischen Theaterkunst realisiert werden sollte; jedenfalls ist schon bei Blok die Rede von einer Art Schaubude, die der Dichter mit seinen „Puppen“ zu bespielen, zu beleben sucht:

So ist es denn in Erfüllung gegangen: Meine eigene Zauberwelt wurde zur Arena meines persönlichen Wirkens, zu meinem ,anatomischen Theater‘ oder zu meiner Schaubude, wo ich neben meinen wundersamen Puppen eine Rolle spiele (ecce homo!)… Das Leben wurde Kunst, ich vollführte Beschwörungen, und vor mir erstand schließlich das, was ich (persönlich) die ,Unbekannte‘ nenne; eine schöne Puppe, eine blaue Erscheinung, ein irdisches Wunder.

In Bloks wundersamer Puppe scheinen jene grotesken Figurinen vorgebildet zu sein, die später bei Kandinskij, dann bei Majakowskij die Bühne dominieren werden.
Die versehrte Welt, der sich Majakowskij bald als Führer und Erlöser verpflichtet, bald als Prophet und Märtyrer verfallen fühlt, ist – im Präsens – eine Welt von gestern, ein fragmentarisches, rätselhaftes, vom Zufall bestimmtes „Es war“, der der frei „schaffende Wille“ sein totalisierendes „Es werde“ entgegenzusetzen hat. „Ist er ein Dichter?“ läßt Nietzsche das kollektive Ich des Zarathustra fragen: „Oder ein Wahrhaftiger? Ein Befreier? Oder ein Bändiger? Ein Guter? Oder ein Böser?“. Worauf Zarathustra, einlenkend, selbst antworten kann:

Ich wandle unter Menschen als den Bruchstücken der Zukunft: jener Zukunft, die ich schaue. – Und das ist all mein Dichten und Trachten, daß ich in eins dichte und zusammentrage, was Bruchstück ist und Rätsel und grauser Zufall.

Denn:

Dies ist meinem Auge das Fürchterliche, daß ich den Menschen zertrümmert finde und zerstreut wie über ein Schlacht- und Schlächterfeld hin. – Und flüchtet mein Auge vom Jetzt zum Ehemals: es findet immer das Gleiche: Bruchstücke und Gliedmaßen und grause Zufälle – aber keine Menschen!

Doch:

Das ist mir das Geringste, seit ich unter Menschen bin, daß ich sehe: „Diesem fehlt ein Auge und jenem ein Ohr und einem dritten das Bein, und andre gibt es, die verloren die Zunge oder die Nase oder den Kopf.“… Menschen, welche nichts weiter sind, als ein großes Auge oder ein großes Maul oder ein großer Bauch oder irgend etwas Großes – umgekehrte Krüppel heiße ich solche.

Für Nietzsche freilich – wie für den jungen Majakowskij, der ihn zweifellos genau gelesen und von ihm wohl auch die „umgekehrten Krüppel“ übernommen hat – ist „der in Stücke geschnittne Dionysos … eine Verheißung des Lebens: es wird ewig wiedergeboren und aus der Zerstörung heimkommen“.
Ob und inwieweit Majakowskij auch mit den Texten der Vorsokratiker vertraut gewesen ist, braucht hier nicht erörtert zu werden; zumindest sei aber auf einige Fragmente aus dem 2. Buch der Natur von Empedokles („Stadien der Zoogonie“) aufmerksam gemacht, in denen dargelegt wird, daß die ersten irdischen Geschöpfe „überhaupt keine vollständigen Gebilde gewesen“ seien, sondern lediglich aus „getrennten, nicht zusammengewachsenen Gliedern“ bestanden hätten, und daß die zweiten, höher entwickelten Wesen aus der Verbindung einzelner Teile hervorgegangen seien. Empedokles unterstreicht das phantastische Aussehen dieser rudimentären Mischwesen aus dem ersten und zweiten Stadium der Zoogenese, und er gibt davon die folgenden Beschreibungen:

Viele Wangen wuchsen ohne Nacken auf, und nackte Arme, der Schultern beraubt, irrten hin und her, und einsame Augen, der Stirne bar, trieben sich herum.

Und:

Vieles bildete sich mit doppeltem Antlitz und doppelter Brust: Kuhgeschlechtliches mit menschlicher Galionsfigur; umgekehrt tauchten wieder andere auf wie Menschen gewachsen, mit Kuhköpfen, Mischlinge, mit schattenhaften Gliedern versehen…

Auf diesen ursprünglichen Zustand der Vereinzelung, der jeglichem Ding sein Eigenleben zugesteht, scheint auch Majakowskijs orphische Utopie ausgerichtet zu sein, auf eine vorgeschichtliche, eine vorsprachliche Befindlichkeit, in der Subjekt und Objekt nicht mehr – noch nicht – geschieden sind; in der die Dinge keiner höheren Ordnung oder Einheit sich unterwerfen müssen, in der es noch keine Namen, also auch keine Bedeutungen, keine Zeichen gibt, welche die Differenz zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem kenntlich machen:

Und plötzlich
sprangen alle
Dinge hervor,
mit verschlissener Stimme
schmissen sie die Klamotten ihrer abgetragnen Namen fort.

So läßt Majakowskij seinen Mann ohne Aug und Bein berichten, für den es zwischen Hose und Bein, zwischen Schädel und Zeit keinen Unterschied gibt.
Daß Majakowskijs vielfach amputierte Krüppelwesen nicht nur diverse Vorfahren und zeitgenössische Verwandte hatten, sondern auch – etwa in der Wort- und Theaterkunst des Surrealismus – über namhafte Nachkommenschaft verfügten, sei hier lediglich an einem kurzen absurdistischen Text aus den dreißiger Jahren veranschaulicht, in dem die Körperfragmentierung buchstäblich bis zum Gehtnichtmehr radikalisiert wird; es handelt sich dabei um einen von Daniil Charms aufgezeichneten „Fall“ mit dem Titel „Blauheft Nr. 10“. Der „Fall“ lautet wie folgt:

Es war einmal ein rothaariger Mann, der keine
Augen und keine Ohren hatte. Er hatte auch keine
Haare, man nannte ihn also nur symbolisch den
Rothaarigen.
Sprechen konnte er nicht, da er keinen Mund
hatte. Auch eine Nase hatte er nicht.
Nicht einmal Arme und Beine hatte er. Und er
hatte auch keinen Bauch, und er hatte keinen
Rücken, und er hatte kein Rückgrat, und kei-
nerlei Innereien hatte er. Nichts war da! So
bleibt denn auch unklar, wovon die Rede ist.
Besser, wir reden nicht weiter von ihm.

Aus verschiedenen zeitgenössischen Berichten geht im übrigen hervor, daß Majakowskij die „Tragödie“ in der Art eines karnevalesken Mysterienspiels zur Aufführung brachte und dementsprechend die Zuschauer, über die Bühnenrampe hinweg, durch gezielte Provokationen aktivierte und in das theatralische Geschehen einbezog; die direkte Kontaktnahme mit dem Publikum vermochte Majakowskij um so leichter herzustellen, als er unter seinem eigenen Namen – unkostümiert und ungeschminkt – auftrat, wobei er sich, im Gegensatz zu seinen Mitspielern, völlig zwanglos verhielt, auf offener Bühne „rauchte und sich so bewegte, wie alle Leute zu rauchen und sich zu bewegen pflegen“. – Majakowskij war, wie Meierhold einmal anmerkte, „als Typ zu sehr Majakowskij“, um irgendeine andere Rolle als sich selbst authentisch zur Darstellung bringen zu können, was offenbar durch die intensive auratische Wirkung bedingt war, die von Majakowskij als Person ausgegangen ist und von der, nach dem weitgehend übereinstimmenden Urteil der Kritik, die Aufführung der „Tragödie“ in besonderem Maß geprägt war:

All das Hitzige, das aus ihm herausbrach und in sein Schaffen überging, durchwaltete sein Gesicht so stark, daß es geradezu seltsam war, ihn ganz ruhig über irgend etwas reden zu hören. Seine Körpergestalt, sein Gesicht, seine Bewegungen besagten: „Die Tragödie Wladimir Majakowskij – das bin ich.

In solchem Verständnis ist die Tragödie Wladimir Majakowskij nichts anderes und nichts weniger als ein aus disparaten Bruch- und Versatzstücken komponiertes biographisches Szenarium, ein erster Entwurf zur Lebens-„Tragödie“ Wladimir Majakowskijs, die 1930 mit dem Freitod des Dichters – einem letzten „großen Bruch“ – zu ihrem Ende und damit zur Vollendung kam. Doch repräsentiert das Schau-Spiel weder ein persönliches noch ein geschichtliches Geschick als Vergangenes; es präsentiert das Selbst-Bewußtsein des Autors als ein minoritäres Bewußtsein (Künstlertum als Außenseitertum) im Status seiner Emanzipation zur Universalität:

„Der unbeugsame Geist der ewigen Rebellion“ hat sich in seine Muskeln gekleidet, der unzurechnungsfähige Geist ohne Name und Vatersname, „einfach ein Mensch aus der künftigen Zeit“. – „Und ich fühle – ich bin mir zu klein. Jemand reißt sich eigenwillig aus mir los.“

In der permanent strapazierten Totalität eines zentrifugalen Sich-aussagen-Wollens verbindet sich bei Majakowskij das Kunst-Werk mit dem Lebens-Werk, wobei das Eine, Ganze sich ergibt aus der (von Sartre am Beispiel Flauberts aufgezeigten) „imaginativen Totalisierung der Welt durch die Sprache“, aus der programmatischen Gleichschaltung (beziehungsweise Gleichbehandlung) von Wort- und Dingwelt, Text und Wirklichkeit. „Majakowskijs Tragödie hielt“, wie Benedikt Liwschiz schon 1933 zutreffend, wenn auch durchaus kritisch feststellte, letztlich nur „als sprachliche Ganzheit zusammen, als Dichtwerk.“ Aber in diesem Dichtwerk, im Körper des Texts, war der Autor nicht nur repräsentiert, er war präsent; seine Stimme war identisch mit dem Text (der zum Zeitpunkt der Uraufführung der „Tragödie“ noch nicht gedruckt vorlag), und der Name des Autors war das erste und das letzte Wort des Werks, war Titel und Signatur zugleich. Für die kurze Zeit der Aufführung fiel für Majakowskij die gespielte mit der gelebten Zeit, der Kunsttext mit dem Lebenstext zusammen, und kraft dieser realen Verkörperung des Autors im Werk konnte aus disparaten Versatzstücken noch einmal ein Ganzes werden. Und ebendies ist, nach Kracauer, „die Mindestleistung der künstlerischen Existentialität: daß sie aus den blind umgetriebenen Elementen einer zerfallenen Welt ein Ganzes bildet, das, mag es auch diese Welt scheinbar nur widerspiegeln, sie eben doch in ihrer Ganzheit auffängt und damit die Projektion ihrer Elemente auf die wirklichen Gegebenheiten erlaubt“.

Felix Philipp Ingold, aus Felix Philipp Ingold: Der Autor am Werk, Carl Hanser Verlag, 1992

Ein Jahrhundert nach Goethe

lieferte der russische Avantgardedichter Wladimir Majakowskij seine eigene Vision vom Ende, die freilich mit Grabesruhe nichts gemein hat:

He, du! Himmel!
Lüfte den Hut!
Ich komme!
Schweigende, dumpfe Kälte.
Sein Riesenohr auf den Pfoten, ruht
das von Sternenmilben wimmelnde Weltall.

So endet das Poem Wolke in Hosen (1915), mit herrisch-provokativer Geste, die erst vor dem als Riesenhund imaginierten Weltall verstummt.
Majakowskij liebte Metaphern, drastische Bilder, grelle Übertreibungen, er reimte „Hundegebell“ auf „Bordell“, „Garten Eden“ auf „Boulevardmädel“, „Kakophonie“ auf „Notre-Dame de Paris“. Seine Gedichte trug er am liebsten selber vor, mit sonorer Stimme und so, dass die schockierend-blasphemischen Reime saßen. Revolution war angesagt, er machte sich mit allen Mitteln seiner stupenden Begabung zu ihrem Sprachrohr. Wieweit es zum Kerngeschäft der Lyrik gehört, rebellisch zu sein, weiß ich nicht. Doch selbst wenn, muss sich dies nicht zwangsläufig im Fortissimo von Parolen und im Bruch mit sämtlichen Traditionen äußern, da reicht auch subtile Subversion.

Ilma Rakusa, aus Ilma Rakusa: Mein Alphabet, Literaturverlag Droschl, 2019

„Der Alltag – unser erbittertster Feind“

Auch zu Hause, in Moskau ist sein Renommée nicht unangefochten, auch hier stößt er teilweise auf Unverständnis, gar Ablehnung; aber hier ist er in seinem Element, hier kann er – noch – über seine Kritiker hohnlachen; er kann sich mit dem ganzen Gewicht seiner ungeheuren Popularität zur Wehr setzen. Wie er das macht, schildern viele Augenzeugen seiner öffentlichen Lesungen. Zum Beispiel so:

Vor den Füßen Majakowskijs, vom Rand der Bühne an, auf den Stufen, in den Gängen, auf den Treppenaufgängen – bis zur Hinterwand des Hörsaals füllt sich alles mit heißsporniger Jugend. Die großen Augen Majakowskijs beginnen zu leuchten. Die Jacke weit zurückgeschlagen, steckt er die Hände in den Gürtel und wirkt beinahe wie ein Sportler.
„Heute werde ich…“ beginnt er. „Auf den Vortrag folgt eine Pause: mir zur Erholung, dem Publikum zur Bekundung seiner Begeisterung.“ – „Und wann kommen Ihre Gedichte?“ fragt ein Mädchen affektiert. „Sie möchten wohl das Interessanteste möglichst bald vorgesetzt bekommen?“ erwidert Majakowskij in einem ebenso affektierten tiefen Baß.
Erster Ausbruch lange unterdrückten Lachens. Begeisterung und Empörung, vorläufig noch latent, sammeln sich im Saal. Und nun beginnt Majakowskij mit seinem Vortrag. Eigentlich ist das kein Vortrag, es ist vielmehr eine glänzende Unterhaltung, eine packende Erzählung, eine zündende Rede, ein stürmischer Monolog.
[…]
Mit seinem großen Kopf und breiten Mund gleicht er manchmal einem zäh sich eingrabenden Bagger
[…]
Aus allen Ecken des Saals fliegen Zettel auf den Tisch. Die, die sich getroffen fühlen, lärmen. Man antwortet ihnen mit Zischen. „Lärm im Saale“, verzeichnet das Stenogramm
[…]
„Laßt gefälligst den Spaß sein! Habe ich einmal meinen Vortrag begonnen, werde ich ihn also auch beenden. Noch ist der Riese nicht geboren, der mich totbrüllen könnte. Sie da, in der dritten Reihe – ja, Sie meine ich – zücken Sie nicht so fürchterlich Ihren Goldzahn. Setzen Sie sich! Und Sie dort legen sofort Ihre Zeitung weg oder scheren sich aus dem Saal! Hier ist keine Lesehalle, hier sitzt man, um mich zu hören und nicht um Zeitung zu lesen. Was? Es ist Ihnen uninteressant? Hier haben Sie ihren Drei-Rubel-Schein zurück. Gehen Sie nur, ich halte Sie nicht!
Und Sie dort, machen Sie gefälligst die Klappe zu! Was haben Sie sie so weit aufgerissen?“
[…]
Er geht auf der Bühne herum wie ein Kapitän auf seiner Brücke und steuert das Gespräch auf den gewählten Kurs. Leicht und mühelos beherrscht er den Saal.

Natürlich hat Majakowskij im voraus genau kalkuliert, wie er mit dem jeweiligen Auditorium umzuspringen hat. Da zeigt er noch gänzlich unbekümmert seine beeindruckende Souveränität; denn er weiß, was er kann. Und das macht ihm so leicht keiner nach. Zwar wedelt er gern mit dem Etikett des „Soldatendichters der Revolution“ herum, aber im Grunde ist es seine artistische und seine rhetorische Brillanz, die die Menge begeistert, und nicht der ideologische Bodensatz. Deshalb distanziert er sich – u.a. in seinen zahlreichen Veröffentlichungen in der Zeitschrift LEF – von dem Gros der kommunistischen Autoren, die Poesie mit Politpropaganda verwechseln, und mokiert sich über den aufkommenden („Proletkult“: „Ein Teil der Proletkunst“, so hält er fest, ist „entartet zu bürokratischen Routineschriftstellern und übt Unterdrückung vermittels Kanzleisprache und ewiger Wiederholung politischer Binsenwahrheiten“. Ihm ist der Stallgeruch der braven Genossen zuwider, für dümmliches Nachbeten ideologischer Binsenweisheit ist er sich zu schade. Es fällt übrigens auf, daß kaum ein Vertreter des LEF Mitglied der Partei ist. Angesichts der verqueren Biographie Majakowskijs und angesichts seines Werkes, das oft von großartiger Kühnheit und nur selten von plappernder Banalität zeugt, ist man zuweilen in Versuchung, sich auszumalen, wie es sich außerhalb der Sowjetunion oder in einer anderen Epoche entwickelt hätte. Ein von Restriktionen nicht eingeengter Majakowskij mit dieser furiosen Sprachkraft, diesem bitteren Witz, dieser eleganten satirischen Begabung – was hätte daraus noch alles werden können! Allein, der Versuchung zu emigrieren ist er nie erlegen, trotz der sich häufenden Anfeindungen. Er war, wie Anna Achmatowa, wie Boris Pasternak der Überzeugung:

Ein russischer Dichter kann nur der sein, der in Rußland lebt.

Doch um welchen Preis?
Er ist nie zu Kreuze gekrochen, hat seine ästhetischen Überzeugungen selten verleugnet und muß dennoch darunter gelitten haben, daß man ihm immer größere Steine in den Weg warf. Wohlgemerkt: Er zweifelte auch angesichts der kommunistischen Realität nie an der Notwendigkeit einer Weltrevolution.
Daß sie nichts als eine Kopfgeburt war, ignorierte er, und so war er jedes Mal wieder tief enttäuscht, daß die vorgeblichen Apologeten der Weltrevolution sich als miese, kleinkarierte Exemplare erwiesen. Doch trafen ihn die verbalen Attacken der „Herren Spatzenheimer“, die im „Namen des Proletariats“ dahergeschwafelt wurden, oft bis ins Mark, auch wenn er die Kränkungen hinter Spott kaschierte.
Als praktizierender Futurist war er nicht wenigen Anfeindungen ausgesetzt gewesen. Die nahm er jedoch mit stolzer Genugtuung entgegen, denn er hatte sie bewußt provoziert. Jetzt aber, mit der Oktober-Revolution und der Etablierung des kommunistischen Regimes, hatten er und seine Mitstreiter im Grunde das erreicht, was sie mit ihren aufrührerischen Kampagnen gegen das etablierte Bürgertum erreichen wollten: die Neue Kunst. Doch der Neue Mensch bleibt ein Phantom. Das zeigt sich von Tag zu Tag mit immer schmerzhafterer Deutlichkeit. Indes, es gelang Majakowskij nicht, die Enttäuschung darüber zu verarbeiten. Stets rettete er sich in neue Illusionen, baute darauf, daß er und seine Mitstreiter als „Initiativtrupp“ (zuerst im Futurismus, dann im LEF) die träge Masse der auf den „Hinterhöfen der Kultur und Volksbildung“ agierenden Genossen aufrütteln könnten.
Heute, wo solche Wunschvorstellungen längst obsolet geworden sind, läßt sich leicht darüber spötteln. Allein, man wird Majakowskij nicht gerecht, wenn man an der Ernsthaftigkeit seiner Weltverbesserungs-Ideen zweifelt. Mochten die Prolet-Künstler auch versuchen, ihm und seinen LEF-Mitstreitern die Führungsposition innerhalb der russischen Künste abspenstig zu machen, weil sie ja „keine Kommunisten“ seien. Majakowskij beharrt – vorläufig – auf der Vorreiter-Rolle des LEF. Noch ist sein Sendungsbewußtsein ungebrochen.
Dennoch gibt es nach der Rückkehr aus Paris ziemlich verzagte Auslassungen. So schreibt er Anfang April 1923:

Der Alltag. Jene Lebensart, die sich fast gar nicht verändert hat, jener Alltag, der jetzt unseren erbittertsten Feind darstellt, weil er uns zu Spießern macht.

Diesem Alltag versucht er nun immer häufiger zu entfliehen. Im Sommer 1923 reist er wieder nach Deutschland, zunächst nach Berlin und dann – mit dem Ehepaar Brik – nach Norderney. Und hier, aus der beruhigenden Distanz zu den russischen Querelen, fühlt er sich wieder bemüßigt, den Sowjetbürger herauszukehren, zum Beispiel mit den Versen:

Doch noch ist es so, daß die Ober hier dienern,
behäbig die Bankherren saugen an Hummern,
Faschistenfräulein frech mussolinern
und satt im Dämmer der Nordsee entschlummern.
Weß Herz vom Oktober durchwettert worden,
dem schmecken nicht Berge, dem munden nicht Meere,
nicht Waldluft im Süden, noch Seeluft im Norden – ein Klima nur frommt ihm: das revolutionäre!

Gleichwohl reizt es ihn heftig, das revolutionäre Klima mit dem kapitalistischen zu vertauschen. Auf der Rückreise bemüht er sich in Berlin angelegentlich, ein Visum für die USA zu erhalten. Vergeblich übrigens. Das bekommt er erst knapp zwei Jahre später. Bei einem zweiten Paris-Besuch im Jahre 1924 stellt er von hier aus einen Einreise-Antrag und bricht im Mai 1925 zu einer mehrmonatigen Weltreise auf. Von St. Nazaire aus besteigt er einen Dampfer nach Mexiko, „20.000 Tonnen, ein stattlicher Onkel, wenngleich nur zweischlotig. Teuer.“ Auf dieser achtzehntägigen Schiffsreise verfaßt er mehrere Gedichte, die eher auf einen melancholischen Tenor gestimmt sind:

Mal im Ernst, ohne Scherz: wohin nun? […] hab gelebt und gemüht, schon grau übern Ohren […] So wird ein Leben vorbeigehn wie eben, als Tröpfchen, die Azoren.

Den ruhigen Ozean findet er reizlos, und erst in Havanna erwacht seine Neugier und seine Lust auf Abenteuer. Seine Reise-Eindrücke, die er später in einem Zyklus unter dem Titel „Meine Entdeckung Amerikas“ zusammenfaßt, sind kein literarisches Bravourstück. Aber dafür gibt es dort auch keine so abfälligen Platitüden, wie er sie in seinem Paris-Bericht fabriziert hat. Vergleichsweise unaufgeregt registriert er die verschiedensten Alltags-Details, zunächst auf Kuba, und dann – sehr viel ausführlicher – in Mexiko. Besonders impressiv schildert er einen Stierkampf, wobei er aus seiner Abscheu vor dieser brutalen Volksbelustigung keinen Hehl macht:

Doch schon beim Auftritt der Banderilleros, die das Tier mit ihren Wurfpfeilen wild machen, und hernach, wenn der Stier blutüberströmt und wutentbrannt den Gäulen seine Hörner in den Bauch rammt und diese Gäule der Pikadore eine Weile mit hervorgequollenem Gedärm umhergaloppieren, erst da erreicht die wilde Verzückung des Publikums ihren Siedepunkt. Ich sah vorn einen Mann vom Sitz aufspringen, ein Matadorentuch hervorziehen und dem Stier vor der Nase schwenken.
Ich empfand ein wahres Vergnügen, als der Stier seine Hörner dem Mann zwischen die Rippen stieß: Rache für die hingemordeten Stierkameraden.
[…]
Ich konnte und wollte nicht mit ansehen, wie dem Obermordgesellen der Degen gereicht wurde, damit er ihn dem Tier ins Herz stoße!

Majakowskijs Mitleid mit der wehrlosen Kreatur ist so elementar, daß er die Tötung eines Zuschauers sogar mit Genugtuung registriert. Ähnliches Entsetzen empfindet er auch bei der Besichtigung der riesigen Schlachthöfe von Chicago. Auch hier empört er sich über das Gemetzel, über die maschinelle Tötung mitten im „blutigen Herzen der Stadt“, Dabei war er keineswegs Vegetarier, aber der Anblick und der Geruch von Blut waren ihm unerträglich, was vermutlich auch von dem tragischen Tod des Vaters herrührt, obschon er solche Begründung nie ausgesprochen hat. Angesichts der Schlachthöfe von Chicago versteigt er sich gar zu der Behauptung, dies sei „eines der abstoßendsten Schauspiele“ seines Lebens gewesen. Ja, er wird geradezu pathetisch: Man sieht „Tausende von Hürden gedrängt voll mit Rindern, Ochsen, Kälbern, Schafen und Schweinen, die in Massen von überallher zusammengeströmt sind. Dazu hört man wildes Quieken, Blöken und Brüllern, unwiederholbar bis zum Weltuntergang, wo Felsgebirge in Bewegung geraten und Menschen wie Tiere zermalmen werden. […] Die wirkliche oder eingebildete Ausdünstung einer ganzen Meeresspringflut von Blut steigt einem schwindelerregend zu Kopfe.“
Immer wieder spürt man, wieviel Mitgefühl sich hinter dem munteren Maulheldentum verbirgt.
Insgesamt verschafft ihm die „Entdeckung Amerikas“ überwiegend positive Eindrücke. Seine Englischkenntnisse sind nach eigenem Eingeständnis zwar ziemlich gering, aber er sucht sich bewußt nur die Städte aus, in denen es größere „russische Kolonien“ gibt. Das sind New York, Chicago, Detroit, Philadelphia und Cleveland. Gemeinsam haben die Zeitung Novyj mir und die russisch-jiddische Zeitung der „Arbeiterpartei Amerikas“ für ihn achtzehn Veranstaltungen vorbereitet, Lesungen aus seinen Werken und Vorträge. Da dies in russischer Sprache geschah, ist von einer breiten Resonanz natürlich keine Rede.
Majakowskij hat die von ihm besuchten Städte mit vergleichsweise offenen Augen ins Visier genommen. Selbstverständlich kann er in seinen Reise-Skizzen das Sticheln und Hecheln auch hier nicht ganz lassen, aber dazu gibt es auch schließlich einigen Anlaß. Man liest das alles mit einigem Vergnügen, auch die eingestreuten Anekdoten, und man genießt seinen Hang zu Witzeleien und Übertreibungen. Eine Probe:

Die Beziehung des Amerikaners zum Dollar enthält einen Hauch von Poesie. Er weiß, daß der Dollar die einzige wahre Macht in seinem bürgerlichen Hundertzehn-Millionen-Land ist, […] und ich bin überzeugt, daß der Amerikaner außer den allbekannten Eigenschaften des Geldes auch die ästhetische Qualität des grünen Dollarscheins schätzt und liebt. Er setzt ihn mit dem Frühling gleich, und der im Oval abgebildete Jungstier ist für ihn Sinnbild der Kraft und der eigenen Zufriedenheit.

Sehr viel anders würde auch ein vom Kommunismus nicht infizierter Tourist den American way of life nicht wahrnehmen. Zu bedenken ist überdies, Majakowskij kommt – Politik hin oder her – aus einem Land, das durch den Ersten Weltkrieg und den anschließenden Bürgerkrieg gewaltige Zerstörungen der Infrastruktur hinnehmen mußte und zuvor auch nur dürftig industrialisiert war. Und hier nun der gleißendste Kontrast! Er muß sich richtig mühen, seine Faszination nicht allzu dick aufzutragen. Das merkt man seinen Reise-Skizzen durchaus an, die ja – das darf man nicht vergessen – zur Publikation bestimmt waren und sich also ein bißchen Selbstzensur gefallen lassen mußten. Aber er hat sich vorsorglich abgesichert mit der Bemerkung:

Was lobenswert ist, das lobe ich stets.

Zu loben gab es nun wahrlich genug.
Vor allem New York, dem ein waschechter Ideologe nur ein „Apage, Satanas!“ entgegenschleudern dürfte, beeindruckt ihn sichtlich. Den Broadway liebt er besonders, weil er das überaus akkurate Straßennetz „eigensinnig und frech durchbricht, mit seinem Querzug des Systems“. Genüßlich beschreibt er überdies die Lichterflut, die den Broadway streckenweise nachts heller erscheinen läßt als bei Tage. Natürlich kommt Majakowskij hier zupaß, daß er ein ausgemachter Technik-Fan ist, und der kommt hier nun weiß Gott auf seine Kosten. Schönster Beweis dafür ist sein berühmt gewordenes Gedicht: „Die Brooklyn-Brücke“!
Hier ein Auszug:

Ich bin stolz auf diese stählerne Meile!
Lebendig erstand hier aus Ziffern und Nullen
meine Vision: die Berechnung der Teile,
die Konstruktion – statt stilistischer Schrullen.
Und wird einst am letzten von allen Tagen
der Planet vom Chaos wieder abgeräumt –
und bleibt überm Staub der Zerstörung noch ragen
diese einzige Brücke, ins Nichts aufgebäumt, –
so wird ( wie aus feinsten Skeletten von Echsen
das Tierreich der Vorwelt aufscheint in Museen)
aus der Brücke durch archäologisches Hexen
das Antlitz der Gegenwart auferstehn.
[…]
Hier bettete das Leben die Einen auf Rosen,
die Anderen hielt es hungrig und knapp.
Von hier aus stürzten sich die Arbeitslosen
kopfüber in den Hudson hinab.
[…]
Ich sehe – wie einst von hier Majakowskij
silbenweis Worte zu Versen warf.

So wird sogar die entvölkerte Nachwelt sich an ihn erinnern – dies Fünkchen Selbstvergötterung, gepaart mit Selbstironie, kann er sich nicht versagen. Aber mag man es ihm übelnehmen? Er hat zu hinreißenden Versen komprimiert, was unsereins angesichts dieses technischen und ästhetischen Wunderwerks nur unzulänglich artikulieren kann. Nun aber dazu ein pikanter Nachtrag: Geschrieben wurde das Gedicht im August oder September 1925 in New York. Und hier trug es der Dichter einem – offenbar größeren russischen – Publikum vor. Aber die Zeilen „Hier bettete das Leben die Einen auf Rosen“ bis „kopfüber in den Hudson hinab“ finden sich nicht in der Urschrift seines Notizbuches, sondern wurden auf einem Extrablatt später ergänzt. Der Grund: Als Majakowskij dieses Gedicht in der Urfassung einem Arbeiter-Auditorium vortrug, kam ein Zwischenruf vom Balkon:

Vergessen Sie nicht, Genosse Majakowskij, daß sich von ebendieser Brücke oft Arbeitslose ins Wasser stürzen.

Erst nach diesem Zwischenruf also scheint ihm das soziale Gewissen geschlagen zu haben; ohne diese Mahnung wäre offenbar seine Technik-Begeisterung mit ihm durchgegangen. Es ist indes nicht so, daß er die soziale Wirklichkeit insgesamt in New York ignoriert hätte. Da gibt es genug Hinweise in den Gedichten und Reise-Skizzen, einige sind da reichlich platt und parteiisch. Vieles hat er indes sehr genau und gescheit analysiert.
Und die Rückkehr? Wie war ihm da zumute? Es gibt ja – wie bereits erwähnt – keine Tagebuchaufzeichnungen. Alles, was er über die Amerika-Reise geschrieben hat, war für die Publikation bestimmt. Die Schere im Kopf müssen wir dabei stets mitbedenken. Richtig freuen auf die Heimkehr konnte er sich nämlich nicht. Denn er wußte, daß ihm weitere Querelen mit den schreibenden Genossen bevorstanden. Von Hurra-Patriotismus jedenfalls zeugen die letzten Seiten des Amerika-Berichts nicht, hingegen von einiger Hellsicht. Da heißt es zum Beispiel:

Es kann geschehen, daß die Vereinigten Staaten zum letzten bewaffneten Verteidiger der hoffnungslosen Sache des Bürgertums aufrücken; dann kann die Historie einen schönen Roman im Stile von H.G. Wells schreiben, etwa unter dem Titel: Der Kampf zweier Welten.

Das ist die Prognose des Kalten Krieges. Hätte Majakowskij sich über seinen Ausgang gewundert? Vermutlich ja.
Eine Pikanterie am Rande: Mit einer gewissen Elli hat der Dichter in den USA eine Tochter gezeugt, für die er brav Alimente bezahlte. Aber eine Beziehung entwickelte er nicht zu dem Sprößling und hielt seine Vaterschaft auch geheim, von Lilja abgesehen. Schließlich war das – wie man in den Biographien nachlesen kann – eine reine Zufallsbekanntschaft, mehr nicht.
Im Jahre 1926 unternimmt er eine große Lese-Reise durch die Union, die ihn bis Baku, also bis zum Kaspischen Meer, führt. Hier besichtigt er Ölfelder, ist entzückt über den technischen Aufschwung, den die ganze Region zu nehmen scheint, aber es fällt bei diesen Notizen auf, daß er die Kirche im Dorf läßt und nicht euphorisch daherschwadroniert, Er gibt sich nicht zum Propagandisten des kommunistischen Industrialisierungswunders her. Dafür schätzt er sein dichterisches Genie zu hoch ein. Ausdruck dieser Selbsteinschätzung ist ein ungemein witziges Gedicht aus eben diesem Jahr 1926, aus dem einige Passagen zitiert werden sollen. Es hat den Titel: „Gespräch mit dem Steuerinspektor über die Dichtkunst“:

Genosse Steuerinspektor, wolln Sie die Störung nicht verdenken!
Danke… ist nicht nötig… ich kann stehn… Ich bat,
meiner delikaten Frage Ihr Gehör zu schenken:
wo ist der Platz des Dichters im Arbeiterstaat?
[…]
Man verbraucht, um ein einziges Wort zu ersinnen,
Tausende Tonnen Schutt oder Schlamm.
Doch neben dem Erz, dem zerfallenden fahlen
brennt jenes Wort ur-elementar;
es setzt in Bewegung mit seinen Strahlen
Millionen Herzen durch tausend Jahr.
[…]
Man muß schon, wie’s heißt, ein Pud Kochsalz v
erzehren,
manch Hundert Zigaretten aufwölken im Rauch –
um jenes kostbare Wort zu erhören,
das aus artesischen Herztiefen taucht.
[…]
Und wenn Sie etwa meinen, es käm nur drauf an,
daß man fremde Wortbrocken schlichte, –
so nehmen Sie hier meine Füllfeder, Mann,
und machen Sie selber Gedichte.

Das sollten die proletarischen Schriftsteller, die nur den Einheitsbrei ihrer Arbeiter-Poesie gelten ließen, sich hinter die Ohren schreiben. Freilich, was hätte es Majakowskij genützt? Es wäre besser für ihn gewesen, er hätte sich in diese Kontroversen nicht allzu sehr verbissen. Denn die Proletkult-Anhänger beherrschten damals noch keineswegs die gesamte Literaturszene in Rußland. Zumindest bis in die Mitte der zwanziger Jahre hinein war die Literatur farbiger und vielgestaltiger als unmittelbar nach der Revolution. Trotz Lenins Gebelfer: „Nieder mit dem parteilosen Literaten! Nieder mit den literarischen Übermenschen!“, zeichnen sich zumal die frühen zwanziger Jahre durch einen erstaunlichen Pluralismus aus, sowohl in thematischem als auch in formalem Betracht. Der Begriff „Formalismus“ war noch keineswegs zu einem Schimpfwort degradiert, jedenfalls nicht unisono. Das geschah erst Mitte der zwanziger Jahre und später dann – ganz dezidiert – mit der Etablierung des alleinseligmachenden Sozialistischen Realismus Anfang der dreißiger.
Majakowskij hätte das Geschrei der Prolet-Künstler gut und gern ignorieren können, allein, es traf bei ihm einen besonderen Nerv: Denn sie okkupierten eben das Terrain, das er sich und seinen LEF-Mitstreitern vorbehalten wollte: Die Erziehung der breiten Masse zu besseren Menschen vermittels der Kunst. Auch darum mußte es ihn verletzen, weil sie noch nachträglich seine künstlerischen Anfänge als Futurist in Grund und Boden verdammten, zum Beispiel mit dem Verdikt:

Der Futurismus symbolisierte die Todeszuckungen und die Verrücktheit des bürgerlichen Geistes, der seinen nahenden Untergang fühlt.

Um sich den Kränkungen nicht ständig auszusetzen, unternimmt der Dichter nach der Amerika-Reise zahlreiche weitere Ausflüge, nach Warschau, nach Prag, Berlin und Paris, um die wichtigsten Stationen zu nennen. Ohne Frage, darin äußert sich ein großes Maß an Eskapismus. Die Flucht aus dem Alltag lenkt ihn ab. Aber es gibt noch einen weiteren Fluchtimpuls, und der rührt her von seiner unerfüllten Liebe zu Lilja Brik.

(…)

Elsbeth Wolffheim, aus Elsbeth Wolffheim: Wladimir Majakowskij und Sergej Eisenstein, Europäische Verlagsanstalt, 2000

 

 

IT’S EASY TO REMBER (MAJAKOWSKI)

Wladimir hat recht
Nur keine Erinnerungen
Schießt sich den ganzen Klimbim
Aus dem Hirn
Einig am Ende
Mit so vielen
Sogar mit Serjoscha

Dieter Leisegang

 

 

Christine Gölz: Wladimir Majakowski

 

Moritz Fehrle im Gespräch mit dem Schriftsteller und Übersetzer Alexander Nitzberg: Man muß Sprache Gewalt antun.

Anne-Cathrine Simon und Eduard Steiner im Gespräch mit Alexander Nitzberg: „Ich übersetze lieber politisch unkorrekt“.

Michael Wurmitzer im Gespräch mit Alexander Nitzberg: „Sprache hat viele Schatzkammern“.

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Susanne Schleyer +
Brigitte Friedrich Autorenfotos

 

Alexander Nitzberg rezitiert Wladimir Majakowski: Wölkchen in Hosen (Teil 1).

 

Zum 85. Geburtstag von Wladimir Majakowski:

Fritz Mierau: Majakowski lesen
Sinn und Form, Heft 3, Mai/Juni 1978

Fakten und Vermutungen zum Autor + Erinnerungen + Tribute +
IMDb + Pennsound + Internet Archive 1 & 2 + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 1/2.

 

Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 2/2.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00