Wolf Biermann: Die Drahtharfe

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wolf Biermann: Die Drahtharfe

Biermann-Die Drahtharfe

HANNS EISLER ODER
DIE ANATOMIE EINER KUGEL

Seltene Gelegenheit eines runden Menschen!
Gespalten nicht seine Zunge, noch sein Gehirn.
Auch geht kein Riß zwischen Oben und Unten ihm.
Da, wo bei andern die furchtbar berüchtigte Stelle,
Da, wo den andern so leicht das Kreuz brach,
Wölbet sich mächtig sein fröhlicher Bauch,
Schwingt auf und ab in wildem Gelächter
Über die Dummheit in der Musik nicht allein.
Also verschonte der Große uns mit größeren Worten.

Staunend noch heute, fahren wir Neueren hin und her
Auf diesem winzigen Globus. O Fläche der Kugel!
O wunderbarer Widersinn! Wir finden und finden
Das Ende nicht.

 

 

 

(…)

Es waren die ersten Jahre nach der Berliner Mauer, als Bekenntnisse gefragt waren, aber nicht eine Realität, die sich am gesamtdeutschen Provinzialismus rieb. Eine Zeit, in der Politik und Literatur immer noch so meilenweit voneinander getrennt schienen, daß die Songs und Gedichte der Drahtharfe tatsächlich außer – das heißt: vor – der Zeit lagen und eine heute kaum noch vorstellbare Wirkung hatten.

Verlag Klaus Wagenbach, Klappentext, 1965

 

Biermanns politische Gedichte als Affront für die SED

– Beim Frankfurter Ostermarsch 1965 präsentiert Wolf Biermann neue Lieder, deren Texte wenig später im Westberliner Verlag Klaus Wagenbachs erscheinen werden. Die Drahtharfe heißt Biermanns Lyrik-Sammlung aus dem Schaffenszeitraum 1960 bis 1965. –

Wenn ich mal tot bin
wenn ich mal tot bin
werd’ ich Grenzer und bewache
Wenn ich mal tot bin
wenn ich mal tot bin
werd’ ich Grenzer und bewache
die Grenz’ zwischen Himmel und Höll’
Ausweis bitte – Kunststück

Das Jahr 1965 schickt sich an, ein gutes Jahr zu werden für den jungen Wolf Biermann. Gleich zu Jahresbeginn hat er die Chance, einige seiner frechen Lieder für eine geplante Platte aufzunehmen. Doch sie wird nie veröffentlicht. Die Bänder landen mit Sperrvermerk im Archiv. Kein Jahr später wird Biermann in der DDR zur Unperson erklärt, belegt mit Auftritts- und Publikationsverbot.

Keiner tut gern tun, was er tun darf
was verboten ist, das macht uns gerade scharf 

Auf der Abschlussveranstaltung des Frankfurter Ostermarsches 1965 tritt Wolf Biermann gemeinsam mit dem „Mann mit der Pauke“, Wolfgang Neuss, vor ein begeistertes Publikum – und präsentiert dabei auch Lieder, deren Texte wenig später im frisch gegründeten Westberliner Verlag Klaus Wagenbachs erscheinen werden. Die Drahtharfe ist die Sammlung von Balladen, Gedichten und Liedern Biermanns betitelt, entstanden zwischen 1960 und 1965.
Obwohl er schon 1963 aus der SED ausgeschlossen worden ist, kann Wolf Biermann dennoch zunächst von jenem liberaleren Kurs in der DDR-Kulturpolitik profitieren, der in dieser Zeit seinen Anfang nimmt. Im Schutz der Mauer reklamieren Künstler nun das, was ihnen von der Partei vorher unter dem Hinweis auf die offenen Grenzen verwehrt wurde: eine freiere Diskussion über die Widersprüche im DDR-Sozialismus. 1964 erscheinen in der Anthologie Sonnenpferde und Astronauten zum ersten und einzigen Mal einige Biermann-Gedichte in der DDR. Herausgeber Gerhard Wolf erinnert sich:

Es kam eine wirkliche Generation jetzt auf mit Volker Braun, den Kirschs, Mickel, Adolf Endler die habe ich alle verlegen können im Mitteldeutschen Verlag da gab es natürlich immer Streitpunkte mit dem Amt für Literatur. Und wenn Sie genau hingucken dann ist es ja alphabetisch geordnet, aber ich sollte nicht mit Biermann anfangen wir haben mit Braun angefangen.

Obwohl Biermann ein enger Freund des gerade geschassten Humboldt-Uni-Professors Robert Havemann ist, darf er 1964/65 noch öffentlich auftreten, etwa bei den legendären Jazz & Lyrik-Veranstaltungen Werner Sellhorns. Doch ab dem Spätsommer 1965 schaltet die SED auch kulturpolitisch auf Repression um: In der gelenkten Presse häufen sich die Anfeindungen gegen westliche Unkultur und aufmüpfig gewordene Schriftsteller.
Just zu diesem Zeitpunkt erscheint Biermanns Drahtharfe-Buch in Westberlin. In den Augen der DDR-Kulturbürokratie, die argwöhnisch alle Veröffentlichungen kontrolliert und zensiert, ist die ungenehmigte Publikation im Westen ein Affront, der nicht ungesühnt bleiben darf. Und so fällt am 5. Dezember 1965 im SED-Zentralorgan Neues Deutschland der Kulturredakteur Klaus Höpcke über die Drahtharfe und ihren Autor her:

Was Wunder, dass Biermann in einem (…) Gedicht davon faselt, die Partei der Arbeiterklasse hacke sich die Füße ab. In Wirklichkeit handelt es sich um die tönernen Füße des Skeptizismus des Herrn Biermann. Er zerhackt die Verbindungen mit dem Volke, die Verbindungen mit der Partei. Er greift auch in den Draht seiner Harfe, um gehässige Strophen gegen unseren antifaschistischen Schutzwall und unsere Grenzsoldaten erklingen zu lassen. (…) Ist es etwa Zufall, dass solche Verse ausgerechnet in Westberlin gedruckt werden? Unsere Grenzsoldaten dienen dem Sozialismus und dem Frieden. Wem aber dient Biermann mit solchem Machwerk?

Die Polemik Höpckes, der später zum stellvertretenden Kulturminister der DDR avancieren und in dieser Funktion die DDR-Buchproduktion kontrollieren wird, ist das propagandistische Vorspiel zum 11. Plenum des ZK der SED, das zehn Tage darauf in Ost-Berlin beginnt und in einen kulturellen Exorzismus ausartet. An dessen Ende steht das Verbot westlicher Beatmusik, fast sämtlicher DEFA-Filme des Jahrgangs 1965, die Disziplinierung kritischer Kulturschaffender und die Absetzung liberaler Funktionäre. Einer der zahlreichen Partei-Hardliner, die auf dem Plenum über Biermann wettern, ist der 1. Sekretär der Bezirksleitung Halle, Horst Sindermann:

Könnte ein Volk den Absturz vertragen von Goethes „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ zu Biermanns Reimerei „Es war einmal ein Mann, der trat in einen Scheißhaufen“. Bei einem solch geistigen Absturz muss sich eine humanistische Nationalkultur den Hals brechen. Unweigerlich. Was aber ist an Biermann zu verunglimpfen, was er nicht selbst schon längst verunglimpft hätte. Angeblich haben wir seine Seele, die er als die Seele Francois Villon deklariert, auf der Mauer um Westberlin erschossen. Was legt er seine Seele zwischen Sozialismus und Imperialismus? Warum leidet seine Seele so großen Kummer? Nur weil wir drei imperialistische Armeen in Westberlin eingemauert haben, damit sie hier nicht das gleiche machen können, wie in Vietnam?

Ach Sindermann
Du blinder Mann
Du richtest nur noch Schade an
Du liegst nicht schief
Du liegst schon quer
Du machst mich populär

Fortan konnte Wolf Biermann solche Lieder nur noch im stillen Kämmerlein, sprich in seiner Wohnung in der Chausseestraße singen. Während im Untergrund Kassettenkopien seiner Lieder kursierten, wurde er in den DDR-Medien zur beredt beschwiegenen Unperson – bis zu seiner Ausbürgerung 1976. Und auch der Westberliner Verleger Klaus Wagenbach musste für die Publikation der Drahtharfe einen hohen Preis zahlen, wie er sich 1993 in einem Interview erinnerte:

Nach der Veröffentlichung von Biermann kam ja der berühmte junge Journalist Höpcke und hat mir dieses unsittliche Angebot gemacht: Wenn Sie Biermann nicht weiterdrucken, können Sie die Lizenzen haben von allen DDR-Autoren die Sie haben wollen. Silvester 1965. Da ich das nicht gemacht habe, kriegte ich nicht nur die Lizenzen nicht, sondern ich kriegte auch ein Einreiseverbot und ein Durchreiseverbot. Das heißt, die Mauer drückte sich wirklich ein dreiviertel Jahr nach Verlagsgründung bei mir so aus, dass ich hier nur noch mit dem Flieger rauskam.

Marcus Heumann, Deutschlandfunk, 21.12.2015

Drahtharfe und Staatsgrenze

– Zu einem Angriff auf den Verleger Klaus Wagenbach in einer Erklärung der Presseabteilung des SED-Zentralkomitees. –

In einer Erklärung der Presseabteilung des SED-Zentralkomitees vom 9. Januar wird behauptet, die Titelzeichnung des Quartheftes Die Drahtharfe von Wolf Biermann sei „gegen die Staatsgrenze der DDR gerichtet“ – und das beweise, „worum es dem Gegner geht“. Hierzu und zu einigen anderen Äußerungen, die dem Verleger Klaus Wagenbach unterstellen, er sei eine Art Handlanger des Revanchismus, möchte Wagenbach feststellen:

1. Die Titelzeichnung zur Drahtharfe ist die Illustration zu einem im Band enthaltenen Gedicht, der „Ballade auf den Dichter François Villon“. Der Geist François Villons geht in diesem Gedicht „spazieren auf der Mauer“ und „spielt auf dem Stacheldraht aus Jux die große Harfe“. Diese Szene, auf die auch der Titel des Buches Bezug nimmt, wurde illustriert, nichts sonst. Die Zeichnung stammt von einem jungen Graphiker der DDR. Zeichnung und Gedicht datieren aus dem Jahr 1964, woraus sich schon ergibt, daß es sich nicht um eine schnell fabrizierte Aggression handeln kann. Inwieweit ein akrobatischer Akt eines Geistes zudem „einen Angriff auf die  Staatsgrenze“ darstellen kann, bleibe dahingestellt.

2. Der Verlag Klaus Wagenbach ist von niemandem abhängig, kann also auch niemandes Handlanger sein. Er versucht, ausschließlich Handlanger literarischer Qualität zu sein, unabhängig von Staatszugehörigkeiten der publizierten Autoren. Ich gebe zu bedenken, ob der schlichte Terminus „Gegner“ zutreffen kann bei einem Verleger, der sich seit Jahren stets gegen den Kalten Krieg ausgesprochen hat, und bei einem Verlag, der einige Autoren der DDR veröffentlicht hat, dazu solche, die zwanzig Jahre nicht in der Bundesrepublik gedruckt wurden, dessen Sammelband Atlas unter dreiundvierzig Autoren zehn aus der DDR enthält und dessen Publikationen von Wolf Biermann die Meinung des Autors voll respektiert, einschließlich der Gedichte „Genosse Julian Grimau“, „Wartet nicht auf beßre Zeiten“ und des über den Trettnerschen Atomminengürtel.

3. Ich gebe auch zu bedenken, ob Vokabeln wie „Kettenhund“, „kotig-viehisch“, „pervers“, „pornographisch“ gegenüber dem hochbegabten jungen kommunistischen Schriftsteller Wolf Biermann angebracht sind. Bereits zu Beginn der Angriffe, am 5. Dezember 1965, habe ich in einem Brief an das Neue Deutschland dagegen entschieden protestiert, man ist aber offenbar nicht gesonnen, Diskussionen mit einem Minimum an Fairneß zu führen. Denjenigen, die im Augenblick solche hemmungslosen Methoden für angebracht halten, die also wohl auch nicht gesonnen sind, auf die Argumente „bürgerlicher“ Kritiker zu hören, sei zumindest empfohlen, das Plädoyer des bedeutenden österreichischen kommunistischen Kritikers Ernst Fischer für Wolf Biermann im „Tagebuch“ vom Januar 1966 nachzulesen. Demgegenüber läßt die seit Wochen in der DDR angeschlagene Tonart durchaus den Respekt vermissen, der gegenüber literarischen Leistungen und persönlicher Integrität jedenfalls angebracht ist, wenn man Wert darauf legt, von späteren Generationen nicht zu den Goezes, also zu den längst diskreditierten Gegnern der Aufklärung, gezählt zu werden.

Die Zeit, 14.1.1966

 

Der Dichter ist kein Zuckersack

Wessen Macht ist eigentlich größer: die des ersten Arbeiter- und Bauernstaats auf deutschem Boden, der vom antifaschistischen Schutzwall umgebenen Bastion des Friedens, der Deutschen Demokratischen Republik also – oder etwa die des Bänkelsängers Wolf Biermann? Eine absurde Frage. Nein, nicht die Frage ist absurd, vielmehr scheint es mir die Situation zu sein, auf die sie hinzielt.
Seit dem 1. Dezember 1965 ist gegen den neunundzwanzigjährigen, in Ostberlin lebenden Wolf Biermann in der Presse der DDR eine Kampagne im Gange, die alle Aktionen, die dort in den letzten Jahren gegen Schriftsteller unternommen wurden, sowohl an Schärfe als auch an Intensität übertrifft. Für das Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, das Neue Deutschland, ist der Fall Biermann wichtig genug, um auf ihn seit zwei Wochen in fast jeder Nummer zu sprechen zu kommen – in Artikeln, Versammlungsberichten, Glossen, Erklärungen und Leserbriefen. Allein die Ausgabe vom 12. Dezember 1965 bringt im Kulturteil sechs Leserbriefe gegen den verfemten Poeten. Das Organ des Zentralrats der FDJ, Forum, eröffnet seine erste Dezembernummer mit einem gegen Biermann gerichteten, auf drei Zeitungsseiten sich erstreckenden Artikel des Chefredakteurs Klaus Helbig. Auch andere Blätter – wie etwa die auflagenstarke BZ am Abend – nehmen an der Kampagne teil.
Die gegen Biermann erhobenen Vorwürfe sind eindeutig. Er sei „Anhänger der Spontaneität“, des „Skeptizismus“ und einer „anarchistischen Philosophie“, er sei „politisch pervers“ und pervers ebenfalls „im Sexuellen“, „er zerhackt die Verbindungen mit dem Volk, die Verbindungen mit der Partei“, er versuche, „die Wehrbereitschaft unserer Jugend zu verunglimpfen“ und „das patriotische Bewußtsein… zu untergraben“, er wolle „den Sozialismus ohne politische Führung aufbauen“, er lasse „gehässige Strophen gegen unseren antifaschistischen Schutzwall und unsere Grenzsoldaten erklingen“, ihm fehle „das Ja zum sozialistischen deutschen Staat“, und er falle „den westdeutschen humanistischen Kräften in den Rücken“.
Indes ist der Mann, der so heftig und beharrlich attackiert wird, als Autor in der DDR kaum existent. In keinem einzigen Nachschlagewerk kann man seinen Namen finden. Es gab und gibt dort keine Ausgabe – nicht einmal eine bescheidene Auswahl – seiner Gedichte und Lieder. Auch in Zeitungen und Zeitschriften ist drüben nur sehr wenig von Biermann gedruckt worden. Sein Theaterstück Berliner Brautgang wurde nach der Generalprobe verboten. Schallplatten mit Biermann-Songs waren zwar vorbereitet, durften jedoch nicht hergestellt werden. Seine öffentlichen Auftritte hat die SED von Anfang an – vor drei Jahren hörte man seinen Namen zum ersten Mal – gedrosselt und häufig untersagt. Sie werden seit einigen Monaten konsequent verhindert.
Unter diesen Umständen ist ein Teil des Publikums in der DDR auf den Dichter Wolf Biermann erst durch die gegenwärtigen Attacken und durch die in ihnen enthaltenen Zitate aufmerksam gemacht worden. Mit derartigen Folgen mußte man im Zentralkomitee natürlich rechnen. Warum hielt man es dort nicht mehr für möglich, sich mit den Strafmaßnahmen, die traditionsgemäß in solchen Fällen getroffen werden, zu begnügen, also mit Publikations-, Auftritts- und Ausreiseverboten sowie mit dem Totschweigen in der Presse? Warum hat man sich zu einer eben vom Standpunkt der SED höchst riskanten Propagandaaktion entschlossen, wenn nicht gar hinreißen lassen?
Die unlängst in Westberlin erfolgte Veröffentlichung von dreiunddreißig Biermann-Gedichten1 und die teils freundliche, teils enthusiastische Reaktion einiger Rezensenten in der Bundesrepublik haben diese ganze Aktion lediglich ausgelöst. Ihre wirklichen Ursachen sind viel tiefer. Und so widerspruchsvoll, chaotisch und hysterisch die Artikel auch sind, die jetzt drüben gegen Biermann gedruckt werden, sowenig es beim besten Willen möglich ist, gegen die Darlegungen des Feuilletonchefs des Neuen Deutschland, Klaus Höpcke, ernsthaft zu polemisieren – so sicher scheint es mir doch zu sein, daß sich hinter dieser panikartigen Kampagne eine durchaus treffende Einsicht verbirgt. Es gibt Kreise und Instanzen in der DDR, die tatsächlich Gründe haben, Biermanns freche Lieder zu fürchten.
In mancher Hinsicht ist er gerade jener junge Autor, nach dem sich die SED-Kulturpolitiker sehnen. Sein Fragebogen entspricht dem erwünschten biographischen Schema: Er ist der Sohn eines Arbeiters und Kommunisten, der von den Nazis wegen antifaschistischer Tätigkeit ermordet wurde, er trat schon als Halbwüchsiger in Hamburg einer kommunistischen Jugendgruppe bei und kehrte 1953, damals ein Siebzehnjähriger, der Bundesrepublik den Rücken. Er studierte an der Ostberliner Universität Philosophie, er war zwei Jahre Regieassistent im Berliner Ensemble, er wurde in die SED als „Kandidat“ aufgenommen.
Ähnliches gilt, so paradox es zunächst klingen mag, auch für seine literarischen Bemühungen. Man brachte Biermann bei, daß ein junger sozialistischer Autor vor allem über die unmittelbare Gegenwart, über das Leben der Werktätigen in der DDR zu schreiben habe und bei der Betrachtung der Realität nie die politischen Gesichtspunkte ignorieren dürfe. Und daß sich ein Poet im Arbeiter- und Bauernstaat unmittelbar an die Massen wenden sollte und also für jedermann, auch für die weniger gebildeten Genossen, sofort verständlich sein müsse. Man warnte ihn nachdrücklich vor dem Formalismus und anderen ästhetisierenden und dekadenten Kunstrichtungen und Tendenzen in der verfaulenden Welt des räuberischen Imperialismus.
Der junge Mann erwies sich als gelehrig. Er schrieb über den Alltag in der DDR und über den Aufbau des Sozialismus, seine Dichtung ist gesellschaftskritisch, in ihr fehlen niemals eindeutige politische und moralische Akzente. In Biermanns Versen wird man nicht einmal die Spur von Esoterik finden, die dekadente Kunst des Westens kümmert ihn überhaupt nicht. Er spricht wirklich zu den Massen; was er will, ist jedermann sofort klar. Und da klagte mancher im Zentralkomitee: Wenn sich doch dieser Bursche einer komplizierten, gesuchten Metaphorik bedienen wollte, wenn er doch wenigstens etwas unverständlicher wäre…
Aber dafür war Biermann nicht zu haben. Im Gedicht „An die alten Genossen“ (1962) verkündete er mit einer in der DDR verblüffenden Offenheit: „Bin unzufrieden mit der neuen Ordnung“ und „Die Gegenwart… schreit nach Veränderung“. Er dichtete von den Kämpfen der Klassen, den

neueren, die
Wenn schon ein Feld von Leichen nicht
So doch ein wüstes Feld der Leiden schaffen.

Im selben Jahr schrieb er in der „Rücksichtslosen Schimpferei“:

Das Kind nicht beim Namen nennen
die Lust dämpfen und
den Schmerz schlucken

den Sumpf mal Meer, mal Festland nennen
das eben nennt ihr Vernunft.

Biermanns zentrales politisches Bekenntnis findet sich in der ebenfalls schon aus dem Jahre 1962 stammenden „Ballade von dem Drainage-Leger Fredi Rohmeisl aus Buckow“:

Er ist für den Sozialismus
Und für den neuen Staat
Aber den Staat in Buckow
Den hat er gründlich satt.

Das gilt, meine ich, bis heute: Biermann ist für den Sozialismus und die DDR, aber er protestiert gegen die konkreten Verhältnisse, die die SED in dem Land zwischen der Elbe und der Oder geschaffen hat. Im Frühjahr 1963 wurde Biermann aus der Partei ausgeschlossen, aber er lehnte es ab, sich vor der Macht zu beugen:

Ich soll vom Glück Euch singen
einer neuen Zeit
doch Eure Ohren sind vom Reden taub.
Schafft in der Wirklichkeit mehr Glück!
Dann braucht Ihr nicht so viel Ersatz
in meinen Worten.

Der Dichter ist kein Zuckersack!

Also heißt es in der „Tischrede des Dichters“ von 1963. Auch in einen Schmollwinkel läßt sich Biermann nicht drängen, von „innerer Emigration“, welcher Art auch immer, will er nichts wissen. Die größte Enttäuschung hat er jedoch den „Verantwortlichen, die nichts so fürchten wie Verantwortung“, bereitet, indem er sich allen Schikanen zum Trotz mitnichten in einen Antikommunisten verwandeln wollte. Der Fall wäre dann für die Partei einfach. Denn schließlich bedrohen einen Glauben nicht die Heiden oder die Andersgläubigen und nicht einmal die Abtrünnigen: Wirklich gefährlich sind immer die Zweifler in den eigenen Reihen.
Zum Zweifel, zur Logik und zur Vernunft bekennt sich Biermann im „Selbstprotrait an einem Regensonntag in der Stadt Berlin“ (1965), in dem er mit berechtigtem Stolz versichert:

Käuflich bin ich für die Währung barer Wahrheit
In den Bunkern meiner Skepsis sitz ich sicher
Vor dem Strahlenglanz der großen Finsterlinge.

Sitzt er wirklich sicher? Wir wagen es nicht, diese Frage zu beantworten. Tatsache aber ist es, daß sich vor allem die SED in einer peinlichen Situation befindet. Dank der intensiven Hetzkampagne wächst Biermanns Ruhm wörtlich von Tag zu Tag – und dies in beiden Teilen Deutschlands.
Die Drahtharfe hat in kurzer Zeit die dritte Auflage erreicht, in Ostberlin wird das Buch illegal für dreißig bis vierzig Mark gehandelt (Preis in der Bundesrepublik: 5,80 DM). Maschinenabschriften einzelner Gedichte gehen drüben von Hand zu Hand. In literarischen Kreisen der DDR ist man natürlich entsetzt. Jeder fragt sich, wohin das führen soll. Kein einziger Schriftsteller der DDR hat sich übrigens bisher gegen Biermann geäußert, jeder weiß: Tua res agitur.
Bei den westdeutschen Intellektuellen wiederum, jenen zumal, an denen den Funktionären gelegen ist, hat sich die SED durch diese Aktion viel der noch vorhandenen Verständnisbereitschaft für die DDR verscherzt. Ich glaube, daß Heinrich Bölls Empörung2 die Stimmung der meisten Schriftsteller in der Bundesrepublik wiedergibt. Auch Peter Weiss, der bekanntlich versucht hat, der DDR mit maximalem Wohlwollen zu begegnen, protestiert energisch – wie nicht anders zu erwarten war – gegen die Unterdrückung der Literatur zwischen der Elbe und der Oder.3 Und die professionellen Scharfmacher in der Bundesrepublik, die leidenschaftlichen Ritter des kalten Krieges? Sie sind in bester Laune, sie sehen sich durch das Vorgehen der SED wieder einmal in ihren Anschauungen bestätigt.
Was immer die Partei jetzt in dieser Angelegenheit tun wird – ob sie etwas gegen Biermann unternimmt oder für ihn, ob sie die ganze Diffamierungsaktion plötzlich abbrechen läßt –, es wird mit einem Prestigeverlust verbunden sein. Die vernünftigeren Funktionäre im Zentralkomitee, die von vornherein gegen die Biermann-Kampagne waren, sagen mit Recht: Wozu haben wir das nötig gehabt? Und klagen auch: Von Taktik verstehen manche Genossen nichts mehr.
Nun frage ich: Wer ist im Augenblick in einer Zwangslage, wessen Macht ist jetzt größer – die der SED oder die des Dichters, den man nur für die „Währung barer Wahrheit“ kaufen kann? Auf jeden Fall haben wir allen Anlaß, vor dem respektlosen Bänkelsänger Wolf Biermann aus Ostberlin den Hut zu lüften – nicht ohne Respekt.

Marcel Reich-Ranicki, Die Zeit, 17.12.1965

Der Aufbruch in den sechziger Jahren

(…) Die mittsechziger DDR-Jahre wurden vor allem durch die Querelen um Wolf Biermann (*1936) geprägt, die mit dessen offiziellem Auftritts- und Publikationsverbot endeten. Jene, die der Politlyrik nicht genug kriegen konnten und die einen Heinrich Heine auf ihren Schild gehoben hatten, bekämpften nun verbissen den Heine-Nachkommen mit dem Brander-Verdikt, mit dem einst die Konservativen schon einen Heine als Querulanten treffen wollten: daß politisch Lied ein garstig Lied sei.

Seit dem 1. Dezember 1965 ist gegen den neunundzwanzigjährigen, in Ostberlin lebenden Wolf Biermann in der Presse der DDR eine Kampagne im Gange, die alle Aktionen, die dort in den letzten Jahren gegen Schriftsteller unternommen wurden, sowohl an Schärfe als auch an Intensität übertrifft,

so ein M. Reich-Ranicki in der F.A.Z., und er feierte den Verfemten als Gesamtkünstler, routinierten und raffinierten Literaten und Deutschlands erfolgreichsten Politsänger, der auf der Klaviatur seiner vielen Begabungen Bravourstücke spiele und dem selbst die zartesten Liebesgedichte gelangen.4

Doch heizte solche klassenfeindliche Schützenhilfe für den Verfemten die Kampagne nur noch an, die inzwischen im Neuen Deutschland auf Hochtouren lief.
Biermann war ein literarischer Außenseiter. Er hatte mit Lust und Gewinn Villon und Luthersprache studiert, Pasquino, Béranger, Hölderlin, Wedekind und Brecht, hatte an ihnen und Heine seinen Sprachsinn geschärft und gewetzt, er verstand sich auf die volksnahen Lyrikformen wie das Volkslied, die Moritat und den Bänkelgesang, die Vagantenlyrik und die Jahrmarktsdichtung, Kinderreim und Abzählvers,5 und er parodierte Marsch- und Kampflieder. Das alles variierte er mit Pfiff und Pfeffer und trieb es weiter bis zu mancher Meisterschaft. So stand ihm eine breite Skala wirksamer Texturierung zur Verfügung.
Und Biermann hatte vor allem eine politische Vorzeigebiographie: Vater als Kommunist in Auschwitz ermordet, Mutter überzeugte Kommunistin in Thälmanns Hochburg; er selbst 1953 – die Tränen über Stalin waren noch nicht getrocknet, und das Blut vom 17. Juni war noch nicht geflossen6 (37) – mit 17 Jahren als überzeugter Kommunist in die DDR übergesiedelt. Und er war gerade recht gekommen, um noch vor dem Abitur vom Staatssicherheitsdienst als Inoffizieller Mitarbeiter angeheuert zu werden.7 Und er studierte Philosophie, d.h. Marxismus-Leninismus, und ging zu Brecht ans Berliner Ensemble. Aber schon bald stellten sich erste Skrupel ein, doch wollte er noch immer den Kommunismus mit seinen kritischen Liedern gesundsingen:

Ich versank im Schmutz der Lügen… Aber trotzdem: Die Welt verändern, das war unser Ding… Als ich aber ein paar Jahre im Arbeiter-und-Bauernstaat gelebt hatte, merkte ich, daß der Kommunismus krankt. Ich schrieb Lieder und Gedichte, die ihn gesund machen sollten. Aber die Bonzen bedankten sich nicht für meine bitteren Pillen.8

1962 war er – u.a. mit V. Braun – in jenen von St. Hermlin initiierten Lyrik-Großveranstaltungen aufgetreten, zu denen Tausende geströmt waren, und er hatte dort u.a. seine „Ballade vom Drainage-Leger Fredi Rohmeisl aus Buckow“ vorgetragen, von dem jeder wußte, daß das einen Brecht meinte, mit dem sich Biermann identifizierte:

Er ist für den Sozialismus
Und für den neuen Staat
Aber den Staat in Buckow
Den hat er gründlich satt
.9

Und damit kam Biermann in die Schlagzeilen. Es folgten Diskussionen, Parteischelte und Parteiausschluß. Biermann wurde nicht mehr gedruckt. Lediglich G. Wolf brachte ihn doch irgendwie in seine 1964 erschienene Anthologie Sonnenpferde und Astronauten mit zehn Texten unter, und Biermanns Berlin-Gedicht war dann eines der ersten, in dem die Mauer ganz öffentlich Mauer genannt wurde:

Ich kann nicht weg mehr von dir gehn.
Im Westen steht die Mauer.
Im Osten meine Freunde stehn.
Der Nordwind ist ein rauher.

Berlin, du blonde, blonde Frau,
ich bin dein kühler Freier.
Dein Himmel ist so hundeblau.
Darin hängt meine Leier
.10

Da erschien 1965 in Westberlin sein Gedichtband Die Drahtharfe mit 33 Texten und wurde sofort zum Bestseller. Kopien kamen über die Grenze und gingen in der DDR von Hand zu Hand, darunter auch eine „Antrittsrede des Sängers“:

Die einst vor Maschinengewehren mutig bestanden,
fürchten sich vor meiner Gitarre. Panik
breitet sich aus, wenn ich den Rachen öffne, und
Angstschweiß tritt den Büroelefanten auf den Rüssel,
wenn ich mit Liedern den Saal heimsuche…

Da entschlossen sich die (Polit- )Büroelefanten zu eben jenem o.g. und ihrem bis dahin größten Coup gegen einen DDR-Schriftsteller: Vierzehn Tage lang wurde von K. Höpcke im Neuen Deutschland eine Hetzmeute gegen Biermann dirigiert. Bis zu sechs hysterische Leserstimmen mischten sich täglich in den Verdammungschor. Der Chefredakteur des Forum widmete Biermann eine dreiseitige Schimpfiade und beschuldigte ihn der anarchistischen Philosophie. Politisch und sexuell pervers, verunglimpfe er die heiligsten Güter des Sozialismus, das patriotische Bewußtsein der Genossen und die Wehrbereitschaft der Jugend. Dabei war für Biermann die DDR zu dieser Zeit immer noch die bessere Backe vom Arsch der Welt, allerdings mit dem Stacheldraht in der Kerbe.11 Für Parteisubalterne war das Pornographie und Ketzerei.
Neben M. Reich-Ranicki protestierten auch P. Weiß und H. Böll gegen die konzertierte Hetzaktion und die damit verbundene Kampagne gegen alle kritischen Schriftsteller und Künstler der DDR.12
Doch das Politbüro war fest entschlossen, gegen den sich ausbreitenden Ungehorsam unter den DDR-Intellektuellen ein Exempel zu statuieren. Das 11. Plenum des ZK der SED hatte sich ausgiebig mit solchen Erscheinungen beschäftigt, und die Staatsmänner hatten gesprochen: Man habe Angst um die Kunst und fürchte, daß zerschlagen werden könnte, was man mit guten Büchern und Stücken bisher erreicht habe, ja, daß man sogar bis hinter Bitterfeld zurückgehen könnte.13 Man muß sich die protokollierten Reden von damals mal wieder hervorholen, um sich des stringenten Ungeistes bewußt zu werden, wie der auf zynische Weise jeden freiheitlichen Anspruch exekutierte. Biermann war zur Symbolfigur für Klassenfeind und Antichrist geworden.
Die meisten, die ihn per Presse aburteilten, kannten kaum ein Gedicht von ihm. Auf den Protestversammlungen der Parteizellen wurden lediglich einige Kostproben seiner rücksichtslosen Schimpfereien als Anmache freigegeben. Die literarisch interessierte Öffentlichkeit erfuhr durch die parteilichen Kommentare M. Zimmerings in der Neuen Deutschen Literatur von Biermanns Unverschämtheiten. Für diesen Zweck wurde Biermanns „Ich bin der Hecht“ allen hochtragenden / fürwitzigen vnnd Gottlosen Menschen zum schrecklichen Beyspiel / abschewlichem Exempel / vnnd trewhertziger Warnung zusammen gezogen / vnd in Druck verfertiget:

Aber ich bin der Hecht!
Ihr müßt mich zerfleischen
zerhacken, durchn Wolf drehn
wenn ihr mich aufs Brot wollt!

Ja, wenn ich zahnlos wäre
nenntet ihr mich reif

Wenn ich bei jeder fetten Lüge
milde lächeln würde
wär ich euch der Kluge…
Das Kind nicht beim Namen nennen
die Lust dämpfen und
den Schmerz schlucken
den goldenen Mittelweg gehen
am äußersten Rande des Schlachtfeldes
den Sumpf mal Meer, mal Festland nennen
das eben nennt ihr
V e r n u n f t
Und merkt nicht, daß eure Vernunft
aus den Hirnen der Zwerge
und den Schwänzen der Ratten
aus den Ritzen der Kriechtiere
entliehen ist? Ihr
wollt mir den Kommunismus predigen
und seid die Inquisition des Glücks. Ihr
zerrt die Seelen auf den Feuerpfahl. Ihr
flechtet die Sehnsucht auf das Rad. Ihr!
Geht mir weg mit euren Schwammfressen!
14

Solch ein öffentliches Wort hatte es bis dahin in der DDR nicht gegeben; und es ergab sich für manchen braven Bürger die perverse Situation, daß er insgeheim den Mut dieses Schwartzkünstlers und Teuffelbündlers Biermann, bislang verhinderte Wahrheiten öffentlich zu machen, zwar bewunderte, daß er jedoch gezwungen war, sich nun ebenso öffentlich von diesem Biermann zu distanzieren und sich gar gegen ihn zu empören, und man verfiel servil und heuchlerisch und im Chor in die Litanei:

Seyt Gott vunderthänig
widerstehet dem Teuffel
so fleuhet er von euch.

Biermanns respektlose Aufmüpfigkeit wurde von den Inquisitoren nicht als Re-Aktion, sondern als Aktion und Staatsgefährdung ersten Grades begriffen, nicht als Kritik, sondern als Antagonismus, das deftige Luther-Deutsch nicht als Volkes Sprache, sondern als Gassenjargon. Der Vorstand des Schriftstellerverbands überstürzte sich mit einer devoten Treuebekundung gegenüber Staat und Partei:

Wer Ansichten und Werke dieser Art im Westen publiziert,… stärkt die internationale Reaktion.

Und es begann nun ein elfjähriger Krieg gegen den staatlich anerkannten Staatsfeind Nummer eins und Deutschlands erfolgreichsten Politsänger, der alle Ausreiseangebote ablehnte und aus der Ostberliner Chausseestraße immer wieder in robuster Rhetorik seine militanten Verlautbarungen von gewaltiger Sprengkraft, eben seinen Sarkasmus und seine Melancholie, seine Ohnmacht und seinen Übermut via Westfernsehen animierend in die Stuben der DDR-Bürger schickte. Biermann wurde – zusammen mit R. Havemann – für viele DDR-Bürger zum Inbegriff kritisch-politischer Wirklichkeitsaneignung. Doch die Dogmatiker hatten ihren Juden, an dem sie symbolisch ihr exorzistisches Ritual vollführen konnten. Und der Antichrist Biermann – inzwischen durch Öffentlichkeit weltweit geschützt – hieb immer dreister zurück, mit einem Pasquill gegen die dicken Maden im fetten Speck etwa:

Im Neuen Deutschland finde ich
Tagtäglich eure Fressen
Und trotzdem seid ihr morgen schon
Verdorben und vergessen.
Heut sitzt ihr noch im fetten Speck
Als dicke deutsche Maden
– ich konservier euch als Insekt
Im Bernstein der Balladen.
Als Bernsteinmedaillon, als Ring
Als Brosche auf dem Kragen
– so werden euch die schönen Fraun
Im Kommunismus tragen
15

Es ging da Biermann also noch immer um die Rettung der kommunistischen Idee vor deren Entartung in der realsozialistischen Praxis. Noch war er nicht am kommunistischen Ideal irre geworden, doch die DDR-Wirklichkeit widerte ihn an.
Es mag unterderhand zuweilen auch stimmen, was manche den Flugblatttexten eines W. Biermann vorwarfen: Er sei ein Plünderer der Sprache (doch haben wir hierzu seit Brecht nicht eine großzügigere Haltung?); er nutze schamlos Klischees nach, beute sie geradezu aus; er sei ein flinker Reimer, der allzu rasch auf rot das Reimwort tot setze: er gebe sich mit flüchtigen Reimen zufrieden; es passierten ihm Wiederholungen; es gebe Abnutzungserscheinungen; seine deftigen Vergleiche wurden als Zoten empfunden. Doch Biermann fühlte sich als Enkel der mittelalterlichen Pasquillanten und pflegte diese Tradition beliebter kynisch-literarischer Attacken in Form von Spott- und Schmähliedern gegen die Großkopfeten weiter. Dabei stand die Spottlust stets vor der poetischen Perfektion. Doch braucht man in Biermanns Textbüchern nicht lange zu suchen, um auch den großartigen Lyriker in ihnen auszumachen. Was ihm in jedem Falle uneingeschränkt zuzugestehen ist: Er war seit den sechziger/siebziger Jahren  d e r  deutsche Volkssänger, dem vom Alltagsslang bis zur hochpoetischen Diktion, von den derbsten Vulgarismen bis zu den zartesten Lyrismen16 eine derartige Bandbreite zur Verfügung stand, daß es für die DDR-Staatsmacht immer schwieriger wurde, ihn nicht nur politisch, sondern auch literarisch zu diffamieren.
Dann, nach elf Jahren, wieder ein erster öffentlicher Auftritt Biermanns in der DDR-Öffentlichkeit (doch vermutlich war das bereits Teil des vorbereiteten Ausbürgerungsszenarios, zumal solche Ausbürgerungen in der Sowjetunion schon seit zwei Jahren Praxis waren):

Das Ganze lief als Gottesdienst, auf diese Weise ersparten sich die Kirchenleute die polizeiliche Anmeldepflicht und brauchten für meinen Auftritt nicht um eine Genehmigung anzusuchen.17

Und 1.500 meist junge Leute drängten sich in die Berliner Nikolaikirche:

Ich war eingeschüchtert, die Kirchenleute waren entzückt. 

Für Partei und Regierung stand fest: Es war schleunigst nach einer Möglichkeit Ausschau zu halten, den prominenten Krakeeler auszustoßen. Im November 1976 schließlich war die Falle gestellt, und Biermann reiste nach Deutschland hinüber. Ein Großauftritt in Köln war organisiert, und vier Stunden lang sprach, sang, moderierte Biermann dort seine kecken Lieder vor laufenden Kameras und fünftausend begeisterten Menschen. Das Fernsehen übertrug live und quer durch Europa:

Was wird bloß aus unseren Träumen
In diesem zerrißnen Land
Die Wunden wollen nicht zugehn
Unter dem Dreckverband
Und was wird aus unsern Freunden
und was noch aus dir, aus mir
– ich möchte am liebsten weg sein
und bliebe am liebsten hier
18

Die DDR-Regierung folgerte daraus Hetze gegen Staat, Regierung, Partei, Repräsentanten, Funktionäre. Das Neue Deutschland verkündete am 17. November triumphierend:

Biermann das Recht auf weiteren Aufenthalt in der DDR entzogen. Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt. Angemessene Antwort gegen feindseliges Auftreten gegen die DDR.

Und ND behauptete, Biermann habe dazu aufgerufen, die DDR zu beseitigen. Doch genau das stimmte damals nicht. Biermann hing noch immer an dieser besseren Hälfte der Arschbacke. Er wollte sie aber ohne den Pickel Wandlitz und ohne das Geschwür Mielke.
Was jedoch die DDR-Führung mit ihrer Maßnahme auslöste, konnte sie nicht ahnen. Eine bisher nicht bekannte Protestbewegung unter Schriftstellern und Künstlern wurde aktiviert. Bedeutende Autoren stellten sich in offenen Briefen und Erklärungen gegen die Regierung und baten sie, ihre Maßnahme zu überdenken. Manche Autoren hängten ihre ganze Existenz daran und riskierten einen irreparablen Bruch mit der Partei. Tiefe Fronten taten sich auf. Offener Krieg fand statt. Wer hellhörig war, konnte den Untergang der DDR vorausahnen.
S. Wagner, Kulturminister-Stellvertreter, rief am 26. November im Berliner Haus der NDPD Künstler und Kulturschaffende zusammen und organisierte Stimmung gegen den Biermann-Krakeeler und mahnte zur Treuepflicht gegenüber Staat und Regierung. Er spielte die Solidaritätsbekundungen der Biermann-„Freunde“ herunter:

Seine Person ist uns heute schon gar nicht mehr interessant.

Indes liefen fieberhaft weitere Maßnahmen.
Biermanns Erkenntnis nach seiner Ausbürgerung:

Dann kam die Ausbürgerung, die ich als Chance und Glück im ersten Augenblick gar nicht begreifen wollte. Ich geriet nun zum erstenmal in die Welt, auch in Länder, die ärmer und freier sind als die DDR. Und ich begriff das Unglaubliche. Ärmer oder reicher, egal, der Kommunismus ist gar nicht todkrank, er ist längst tot. Da helfen keine Tränen und keine Lebenslügen, keine Kapitalspritzen und keine melancholischen Lieder.19

Inzwischen formierte sich – nach Biermanns Vorbild – in der DDR eine neue Generation von Liedermachern, die in Rock-Konzerten oder Kirchen auftraten und ihr politisch Lied unter ein vorwiegend jugendliches Publikum brachten, und sie sangen vor allem gegen die parteifromme Singebewegung an: H. Eder, St. Krawczyk, E. Maaß, G. Pannach, B. Wegner…
Der 4. November 1989, als sich auf dem Berliner Marx-Engels-Platz die Manifestation der Künstler zur Großdemonstration mit Millionenbeteiligung entfaltete, war für Biermann ein Freudentag:

Revolution in der DDR. Ich hatte mich schon müde gehofft und wurde genauso überrascht wie meine treuen alten Feinde, die verdorbenen Greise im Politbüro.20

Und am 1. Dezember dann Biermanns großes Comeback in Leipzig. Nach 13 Jahren wieder erster Auftritt in der DDR. Er hatte die Pasquill-Ballade „Von den verdorbenen Greisen“ mitgebracht:

Hey Mielke, du warst ein Spanienkämpfer?
Ich glaube dir nichts, du warst privilegiert
Wir wissen, du hast die Trotzkisten und andere
Genossen feig hinter der Front liquidiert
Jetzt übst du mit uns diese blutigen Spiele
Pogrome zum vierzigsten Jahrestag
Im Prenzlauer Berg, in Leipzig und Dresden
Nichts wird dir vergessen, kein einziger Schlag
aaaWir wollen dich nicht ins Verderben stürzen
aaaaaadu bist schon verdorben genug
Nicht Rache, nein, Rente!
aaaim Wandlitzer Ghetto
aaaaaaund Friede deinem letzten Atemzug

Hey Schnitzler, du elender Sudel-Ede
Sogar wenn du sagst, die Erde ist rund
Dann weiß jedes Kind: Unsre Erde ist eckig
Du bist ein gekaufter verkommener Hund
Und wirst bald unter der Erde liegen
In dich gehn nicht mal die Würmer rein
Der muß jetzt im Grab noch die Würmer belügen
Wird stehen auf deinem Marmorstein…

Hey, Honney, du gingst aus Gesundheitsgründen
Ich glaub dir nichts und auch nicht dies
Die schlimmste Krankheit hattest du immer:
Die stalinistische Syphilis
Ich hab dich verachtet und hab dich gefürchtet
Und trotzdem bleibt da ein Rest Respekt
Es haben dich die verfluchten Faschisten
Elf Jahre in Brandenburg eingesteckt
21

Das war Dante-Pasquino-Biermannsche Dichter-Revanche im Heineschen Sinne:

Kennst du die Hölle des Dante nicht.
Die schrecklichen Terzetten?
Wen da der Dichter hineingesperrt,
den kann kein Gott mehr retten.

Doch noch lebte die DDR als Modrow-Staat weiter, als Biermann in der Zeit bekannte:

Der Leichnam (des Kommunismus – E. K.) liegt über dem Land und verpestet die Luft… Hebt die Grube aus! Nach den Mördern kommen die Totengräber. Soll ich etwa mit der Gitarre schaufeln? Laßt uns das Riesenkadaverlein endlich begraben. Selbst Christus mußte erst mal drei Tage unter die Erde, bevor ihm das Kunststück gelang: nebbich die Auferstehung.22

Seine Busenfeinde nennen den saftigen Polemiker bis heute grantig einen Schmierenbühnen-St.-Just, bestaunen jedoch, wie er mit der Axt die Sprache ziseliert.23

W. Emmerichs Urteil:

Er ist und bleibt der bedeutendste politische Sänger in deutscher Sprache seit 1945, dem es immer wieder gelingt, das Öffentliche und das Privateste, Familienalbum und Geschichtsbuch poetisch… zu verknüpfen.24 (95/454).

Ein politischer Sänger von der Sorte der ewigen Unfriedenstifter und Beweger mit einer Lyrik zwischen Pamphlet und Poesie. Einer, der als Gegenrotor an der DDR-Geschichte wesentlich mitgewirkt und sie auch mitgeschrieben hat. Einer ihrer Mörder und Totengräber. Als Nachfolger Villons und Heines wird er in der Literaturgeschichte bleiben.

(…)

Edwin Kratschmer: Dichter · Diener · Dissidenten. Sündenfall der DDR-Lyrik, Universitätsverlag – Druckhaus Mayer GmbH Jena, 1995

Det is allet history!

– Mosaikstein zu einem Biermann-Porträt. –

Es war ein heißer Tag im Sommer 1976, drei oder vier Monate vor der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann durch das Politbüro der SED. In meiner Erinnerung könnte es Kubas Nationalfeiertag, der 26. Juli, gewesen sein: An diesem Tag im Sommer 1953 hatten Fidel Castros Partisanen – der Ausdruck ist irreführend, denn es handelte sich um Jugendliche und Studenten ohne militärisches Know-how – die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba gestürmt. Siebzig Angreifer kamen ums Leben, und Fidel Castro wurde auf der Isla de Pinos inhaftiert, wo er seine Berufung zum Revolutionär entdeckte. Oder es könnte der 31. August gewesen sein, als Tamara Bunke alias Tania la Guerrillera, die Kampfgefährtin Che Guevaras, beim Überschreiten des Rio Grande in einen Hinterhalt geriet und von bolivianischen Soldaten erschossen wurde.
Aber davon wusste ich nichts, während ich in der Chausseestraße 131 in Wolf Biermanns Wohnküche saß, zusammen mit seiner Mutter, wenn mich die Erinnerung nicht trügt. Schräg gegenüber lag die ständige Vertretung der BRD, vor deren videoüberwachtem Portal ein Volkspolizist auf und ab ging, und ein paar Meter weiter parkte ein Wartburg-Kombi, dessen ausgefahrene Antenne die aus dem Küchenfenster dringenden Geräusche auffing. Wolf Biermann stimmte seine Gitarre und summte eine Melodie vor sich hin, die in ein Lied überging, dessen Gesang er immer wieder unterbrach, um den Text umzustellen, zu verbessern oder mit wirkungsvolleren Akkorden zu unterlegen. Der Vorgang konnte lange dauern, denn die Lieder hatten viele Strophen, und der Besucher kam kaum zu Wort, weil Biermann die Küche mit einem Konzertsaal verwechselte – auch umgekehrt ergibt der Vergleich einen Sinn. Er sang seine Stasi-Ballade:

Menschlich fühl ich mich verbunden
Mit den armen Stasi-Hunden
Die bei Schnee und Regengüssen
Mühsam auf mich achten müssen
Die ein Mikrophon einbauten
Um zu hören all die lauten
Lieder, Witze, leisen Flüche
Auf dem Klo und in der Küche
Brüder von der Sicherheit
ihr allein kennt all mein Leid.

Er war gerade beim Refrain angekommen „Die Stasi ist mein Eckermann“, als es klingelte. Vor der Tür stand ein Mann mittleren Alters, der wie ein Frührentner aussah und auch ohne Parteiabzeichen als SED-Funktionär zu erkennen war. Nur die verrutschte Krawatte und seine Alkoholfahne passten nicht ins Bild.
„Hallo Wolf“, sagte der ungebetene Besucher, „ick komme jerade von der Einweihung der Tamara-Bunke-Oberschule janz in der Nähe von dir und möchte wissen, wer diese Tamara Bunke und dieser – wie heißt er doch gleich – dieser Che Guevara, von dem neuerdings so viel jeredet wird, wer der eigentlich war. Ick hab den kubanischen Botschafter jefragt, aber der weiß och nischt Jenauet und sagte nur, det is allet history. So hat der sich ausgedrückt: ,Det is allet history.‘ Und da dachte ich mir, am besten jehste direkt inne Chausseestraße und fragst den Wolf Biermann, der kennt sich in sone Sachen aus!“
Wir waren sprachlos, denn Biermann lebte seit über zehn Jahren in einem unerklärten Krieg mit der alleinseligmachenden Partei, deren Funktionäre sich selten in seine Wohnung verirrten. Sie zogen es vor, ihn aus sicherer Entfernung mit Dreck zu bewerfen und von Zeit zu Zeit zum Verhör einzubestellen: „Die Arbeiterfaust zeigen“ oder „andere Saiten aufziehen“ hieß das im SED-Jargon. Handelte es sich um einen dreisten Ausspähungsversuch, um eine gezielte Provokation oder um den Alleingang eines Funktionärs, der bei der Einweihung der Tamara-Bunke-Schule zu viel Cuba Libre getrunken hatte? Oder – dafür sprach einiges – war es eine Kombination all dieser Motive? Noch dazu schien der Mann keine niedrige Charge zu sein: Er stellte sich als stellvertretender Bezirksbürgermeister vor, ließ sich schwer atmend am Küchentisch nieder und verlangte Bier – nach Tee stand ihm nicht der Sinn. Auf die Frage, woher er Wolf Biermann kenne, nuschelte er etwas vom Pfingsttreffen der FDJ Mitte der fünfziger Jahre, als die Welt noch in Ordnung war. Damals hätten die Schriftsteller noch keine Sperenzien gemacht.
„Wenn du es wirklich wissen willst“, sagte Wolf Biermann, „erkläre ich dir, was es mit Che Guevara auf sich hat.“ Er brachte seine Gitarre in Stellung und stimmte das Che-Guevara-Lied an, genauer gesagt: die von ihm verfertigte Übersetzung von Carlos Pueblas Chanson:

Aqui se queda la clara
la entrañable transparencia
de tu querida presencia
comandante Che Guevara.

Zu Deutsch:

Uns bleibt, was gut war und klar war:
Dass man bei dir immer durchsah
Und Liebe, Hass, doch nie Furcht sah,
Kommandante Che Guevara

Und bist kein Bonze geworden
Kein hohes Tier, das nach Geld schielt
Und vom Schreibtisch aus den Held spielt
In feiner Kluft mit alten Orden

Uns bleibt, was gut war und klar war…

„Siehst du“, sagte Biermann lächelnd, „Guevara war kein Sesselfurzer wie du, sondern ein Revolutionär!“ Doch der ungebetene Gast ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Det sachst du, Wolf, aber det sehen wir anders“, murmelte er und nippte angewidert am Tee, den Biermanns Mutter ihm einschenkte. An diesem Punkt mischte ich mich ins Gespräch und erklärte dem SED-Mann, Fidel Castro und Ernesto Che Guevara seien keine Kommunisten, sondern radikale Demokraten gewesen, die gegen das von den USA ausgehaltene Batista-Regime kämpften; Kubas KP habe den bewaffneten Aufstand nur halbherzig unterstützt. Diese nicht ganz schlüssige Argumentation entsprach meiner damaligen „undogmatischen“ Position und wurde von vielen nicht moskauhörigen Linken geteilt. Der Funktionär gab sich einen Ruck und sah mich scharf an. Mein T-Shirt mit dem Aufdruck einer amerikanischen Universität hatte ihn misstrauisch gemacht, und er wollte wissen, ob ich aus Westberlin oder der BRD komme.

Aus Friedenau, wenn Sie es genau wissen wollen, aber zwischen der Bundesrepublik und Westberlin gibt es keinen großen Unterschied!

„Det sagen Sie, aber det sehen wir anders“, brummte er, ohne seine Aussage zu begründen. Das war auch nicht nötig, denn die Partei, der er angehörte, hatte die Macht, genauer gesagt: die Definitionsmacht über die Sprache, und sie entschied ganz allein, welche Bedeutung Begriffen wie Demokratie und Diktatur, DDR und BRD, Kuba oder Westberlin zukam, und welche nicht. Vielleicht ist das der Grund, warum mir der ständig wiederholte Satz in Erinnerung geblieben ist, mit dem der SED-Mann, ohne sich auf eine Diskussion einzulassen, das Gespräch bestritt, bevor er sich, vom Teetrinken ernüchtert, wieder verzog:

Das sagen Sie, aber das sehen wir anders!

Die Nachricht von Wolf Biermanns Ausbürgerung am 16. November 1976 erreichte mich in Norwegen, der letzten Station einer Lese- und Vortragsreise durch Skandinavien im Auftrag des Goethe-Instituts. Dort lief mir auf Flughäfen und in Bahnhöfen stets aufs Neue der französische Schriftsteller Claude Simon über den Weg, der vor Kaffeekränzchen seine später mit dem Nobelpreis prämierte Prosa las, während ich Tanzsäle und Turnhallen mit meinen Darbietungen füllte: eine Frage der Sprachbarriere, nicht der literarischen Qualität. Jedes Mal, wenn eine Blondine im Pelzmantel am Steuer eines Mercedes vorfuhr, stieß mich Claude Simon mit dem Ellbogen in die Seite und sagte:

Die ist für dich – mich holt niemand hier ab!

Ich weiß nicht, ob der lange Arm der DDR-Staatssicherheit bis nach Oslo reichte, aber nicht nur das norwegische Publikum, dem man es hätte nachsehen können, auch die Mitarbeiter des Goethe-Instituts schienen über die Ausbürgerung Biermanns nicht allzu empört zu sein, und ihr Protest gegen Erich Honeckers absolutistische Willkür klang äußerst gedämpft. Nur Claude Simon schlug andere Töne an: „Diesen Leuten ist alles zuzutrauen“, sagte der große Romancier, der im Spanischen Bürgerkrieg und im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte, dies aber, anders als Jean-Paul Sartre, der sich damals drückte, nie an die große Glocke hing. Als Sartre ihn mit dem Totschlagargument kritisierte, ein verhungertes Kind in Biafra wiege schwerer als ein Roman von Claude Simon, konterte er mit dem Satz:

Seit wann werden Babyleichen und Bücher auf der gleichen Waage gewogen?

„Denen ist alles zuzutrauen“, sagte der Maestro des nouveau roman und sah mich mit seinen an Picasso erinnernden, übergroßen Augen an:

Denen ist alles zuzutrauen, sie schrecken vor nichts zurück!

Und er trug mir Grüße an Wolf Biermann auf, die ich hiermit ausrichte.

Hans Christoph Buch, aus Hans Christoph Buch: Tunnel über der Spree. Traumpfade der Literatur, Frankfurter Verlagsanstalt, 2019

Der Sound der Drahtharfe

– Wolf Biermanns Lyrik. –

Es ist extrem verfänglich, nicht nur bei Protestlyrik oder politischen Liedern, die lyrische Persona mit der biografisch-politischen zu fusionieren: dies umso mehr, je spielerischer die Gedichte selbst Identitäten ausstellen und verhandeln. Ist es der Autor Wolf Biermann, der als fast erwachsener Schüler voller Hoffnung in die DDR übersiedelt, der in „Rücksichtslose Schimpferei“ verloren „Ich Ich Ich“ schreit? Und ist es nicht auch der Wolf Biermann, der in den 1960er-Jahren Auftrittsverbote durchlebt und fürchtet? Nach dem sich im „Selbstportrait an einem Regensonntag“ die „große nasse Stadt“ die Lippen leckt?
„Beschwichtigungen und Revisionen“ ist der letzte Abschnitt von Biermanns erstem Lyrikband Die Drahtharfe überschrieben, in dem sich beide Gedichte finden.25 Schon die Zwischenüberschrift scheint zur Identifikation der lyrischen mit der realen Person aufzufordern: Wer, wenn nicht der Autor Wolf Biermann, ist es, der hier beschwichtigt und sich selbst revidiert? Womöglich gar seine Entscheidung zur Einreise? Immerhin veröffentlicht er Die Drahtharfe 1965 im West-Berliner Verlag Klaus Wagenbach, nicht in seiner Wahlheimat, der DDR. Wer spricht da – mit wem und zu wem? Mit der Biografie ihres Autors ist die komplizierte Vorgeschichte des Bandes bis zur Publikation so eng verknüpft, dass es fernzuliegen scheint, die Lieder und Balladen nicht persönlich zu nehmen.
Biermanns erster öffentlicher Auftritt sollte Lyrikgeschichte schreiben: Stephan Hermlin stellte im Dezember 1962 in der Akademie der Künste (Ost) junge Lyrikerinnen und Lyriker vor, die nicht ohne Weiteres in den Bahnen des sozialistischen Realismus verblieben. Im folgenden Jahr wurde Biermanns Aufnahmeantrag in die SED abgewiesen und er erhielt ein zeitweiliges Auftrittsverbot. Das Berliner Arbeiter- und Studententheater (b.a.t.), das er mitbegründet hatte, wurde geschlossen. Auch für Hermlin endete das Abenteuer Lyrik mit Demission: Seinen Posten als Sekretär der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege der Akademie musste er räumen.
Zur Tagung der Gruppe 47 in Berlin (West) durfte Biermann 1965 trotz Einladung nicht reisen. Doch ein gemeinsamer Auftritt mit dem westdeutschen Kabarettisten Wolfgang Neuss wurde genehmigt. Der Abend, in Vinyl gepresst, machte Biermann fast über Nacht berühmt. Wenig später erschien Die Drahtharfe. Das schmale Bändchen aus rauem Papier, 77 Seiten dünn, wurde ein Überraschungserfolg, ein Bestseller, „jahrelang der meistverkaufte Lyrikband seit 1945“.26
Von den politischen Irrungen und Wirrungen ist auch die Rezeptionsgeschichte überlagert. Ein einfaches Schema drängt sich auf: Anerkennung im Westen, Repressionen im Osten. Von der Publikation der Drahtharfe bis zur Ausbürgerung 1976 durfte Biermann in der DDR weder auftreten noch publizieren. Doch steht das Schema seltsam invers zu den politischen Überzeugungen. Während die Literaturkritik in der DDR den Band aufs Schärfste angriff, wurde Biermann im konservativen Westfeuilleton als Dichter zelebriert. In den literaturwissenschaftlichen Forschungsbibliotheken stößt man auf das umgekehrte Phänomen: viel Literatur zum politischen Biermann, zur Ausbürgerung und ihren Folgen, erstaunlich wenig zu seiner Lyrik.
Lässt sich das lyrische Programm, wie die zeitgenössische Kritik es versuchte, vor dem politischen retten? Oder profitierte die Lyrik umgekehrt von den tektonischen Verschiebungen, die Biermann und die Literaturpolitik der DDR erzeugten, während sie innerliterarisch vergleichsweise geringen Nachhall fanden?

 

1. „Ich“ sagen
Deutschsprachige Lyrik nach 1945 ist kein Konfekt. Die lyrischen Produktionen sind weder zart noch süß. Bitter, nicht selten schal fallen die poetischen Bestandsaufnahmen aus. Adornos bekanntes Diktum zielt gerade nicht auf einen realen Abbruch, sondern auf skandalöse Kontinuität: Scheinbar unbeirrt werden nach Auschwitz Gedichte geschrieben – im Westen wie im Osten, lakonisch und pathetisch, Traditionen beschwörend, Traditionen abwandelnd. Biermann gehört zu einer Generation jüngerer Dichterinnen und Dichter, die es anders machen wollen: im Ton und im Stil, in den Themen und in der Performance.
Diese jüngere Lyrik ist alltäglicher und zugleich politischer. „Ich wollte mit meinen Versen immer beides: ins Bett meiner Liebsten und auf die Straße ins politische Getümmel“, wird sich Biermann später, in seiner ersten Düsseldorfer Poetikvorlesung, erinnern.27 In den überfüllten Räumen der Akademie, im Dezember 1962, bot er beides dar – politische Dichtung und unverfrorene Liebeslyrik, etwa die „Ballade von dem Mädchen mit dem sehr roten Kleid“:28

Die Farben beißen sich – ich bin allein
aaaaaUND MEINE WIRTIN KOCHT FÜR MICH.
aaaaaaaaaaAuch die wollt immer einen
von der Universität – wenn’s geht
der SEHR fein ist
und SEHR klug ist
und SEHR SAUBER
oh la la…

Die derben Verse hat Biermann nicht in sein lyrisches Debüt aufgenommen, das drei Jahre später erscheinen sollte; sie werden erst knapp dreißig Jahre später den Jubiläumsband Alle Lieder eröffnen. Anders als die chronologisch geordneten Sammlungen Alle Lieder (1991) und Alle Gedichte (1995), die entgegen den Titelbehauptungen keineswegs umfassend sind, sind die „Balladen, Gedichte, Lieder“ der Drahtharfe mit kanonischem Selbstbewusstsein arrangiert. Prononciert fordert der Band seinen Platz in der Lyrikgeschichte.
Was mit den „Beschwichtigungen und Revisionen“ endet, beginnt mit einer doppelt heiklen Brecht-Referenz, den „Buckower Balladen“. Es folgen „Portraits“, mit denen Biermann sich und seine Gedichte auf der poetischen Landkarte verortet – zwischen politischem Kampf und privatem Begehren, zwischen François Villon, Hanns Eisler und Bertolt Brecht. Unüberhörbar ist der Heine-Ton in einigen Gedichten des dritten, „Berlin“ betitelten Abschnitts, die spöttische Lakonie wie die politischen Hiebe. Bis in die Grammatik und Interpunktion sind die zwei deutschen Staaten Thema; sprechend wird das fehlende Komma, das die Attribute der Frau Berlin nicht trennt:

Berlin, du deutsche deutsche Frau
Ich bin dein Hochzeitsfreier
Ach, deine Hände sind so rauh
Von Kälte und von Feuer.

Amerika hat eine starke Präsenz im Band – nicht nur politisch, mit der „Ballade von dem Briefträger William L. Moore“, auch poetisch: Im Titel klingt Truman Capote an, die Verweisketten führen zu Walt Whitmans Leaves of Grass und weiter. 1952 war Capotes Roman The Grass Harp in deutscher Übersetzung erschienen – die Grasharfe. Sie entführt die Leser ins Alabama der 193oer-Jahre, in dem Capote aufgewachsen ist. Mit dem lyrischen Bild von der Grasharfe, die die vielen Stimmen aufbewahrt und weitergibt, endet der Roman:

Dieses, die Grasharfe war es, die alles bewahrte, die alles erzählte, die Harfe der Stimmen, die uns alles ins Gedächtnis zurückrief.

Die Drahtharfe dagegen ist ein proletarisches Instrument. Ihr Sound ist robuster, härter, manchmal etwas schrill. Da erklingt nicht das Flüstern der vielen Stimmen, wird die Pluralität nicht in ihrer demokratischen Widersprüchlichkeit festgehalten. Erst recht spielt da nicht mehr der begabte Dichter auf seinem himmlischen Instrument wie ein Apoll, ein Orpheus; nicht wie der biblische Jüngling David – König ist er da noch nicht –, der den Tyrannen Saul mit seinem Spiel zu besänftigen wusste. Die quietschenden Klänge der Drahtharfe sollen den Handlangern des Regimes in den Ohren liegen und das Leben schwer machen.
Die Drahtharfe spielt die Melodien des Protests jaulender als die Mundharmonika der Folksänger. Doch nicht nur der poetische Horizont verschiebt sich, es schließen sich Resonanzräume: Während die himmlische Harfe besänftigt und die Grasharfe die Pluralität besingt, steht der dichtende Liedermacher mit seiner Harfe allein gegen die Welt, gegen das Kollektiv, dem er angehören soll. Trotzig wird der Rückzug in „Rücksichtslose Schimpferei“ verkündet:

Ich will keinen sehn!
Bleibt nicht stehn!
Glotzt nicht!
Das Kollektiv liegt schief

Ich bin der Einzelne
Das Kollektiv hat sich von mir
isoliert

Das „Selbstportrait“ liefert die Kriegserklärung hinterher:

Ausgerüstet mit den Messern der Vernunft bin ich
Kühle Logik leitet meine Kugeln um die Ecken
[…]
Und der Haß von gestern schützt mich vor dem Sturm
Von morgen. Nehmt zur Kenntnis: Ich bin ausgerüstet

Im Band ist es nicht das „Biermann“ genannte Sprecher-Ich, das mit der Drahtharfe musiziert. Auf ihr klimpert vielmehr Biermanns Alter Ego, der spätmittelalterliche Vagantendichter François Villon, nicht als Seil-, sondern als Mauertänzer, während Biermann Damenbesuch empfängt:

Besucht mich abends mal Marie
aaaaaDann geht Villon solang
aaaaaSpazieren auf der Mauer und
aaaaaMacht dort die Posten bang
aaaaa
[…]
aaaaaDann spielt er auf dem Stacheldraht
Aus Jux die große Harfe

Am Ende will das Sprecher-Ich, das sich manches Mal mit dem Namen Biermann schmückt, vor allem eines: in Ruhe gelassen werden – nicht behelligt werden auch mit der akademischen Frage, wie viel Distanz zwischen dem Autor-Ich und dem „Ich“ im Gedicht liegt. Es schimpft sich aus und erklärt dem Kollektiv anschließend seine Liebe – und das ist nicht die Liebe zum Kollektiv:

Ich habe euch lieb
Hier habt ihr den Schrieb
[…]
aber jetzt lasst mich bitte allein sein
auf der schiefen Linie
getrennt vom Kollektiv
Ich liege eben schief
Ich lieg bei meiner Frau
aaaaa– und die kennt mein Herz

 

2. „Wir“ sagen
Vor „dem respektlosen Bänkelsänger Wolf Biermann aus Ostberlin“ den Hut respektvoll zu lüften – dazu forderte Marcel Reich-Ranicki im Dezember 1965 in der Zeit auf, aus Anlass der Publikation der Drahtharfe oder, genauer, ihrer publizistischen Verurteilung in der Presse der DDR.29 Reichlich absurd war die Situation ohnehin. Immerhin galten die heftigen Attacken einem Buch, das in der DDR nicht erscheinen konnte. Im Februar 1966 folgte eine Anordnung, die unter dem heroischen Spitznamen „Lex Biermann“ Bekanntheit erlangte. Sie verpflichtete DDR-Autorinnen und -Autoren, ihre Werke an erster Stelle Ostverlagen anzubieten.
„Wessen Macht ist eigentlich größer: die des ersten Arbeiter- und Bauernstaats auf deutschem Boden […] oder etwa die des Bänkelsängers Wolf Biermann?“, lautete Reich-Ranickis provokante Eingangsfrage. Anerkennung zollte er nicht dem Dichter, den er für ein „Produkt der SED-Kulturpolitik“ hielt. Für Rowohlt hatte er das Manuskript der Drahtharfe im Jahr zuvor begutachtet und nicht zur Publikation empfohlen.30 Anerkennung zollte er dem Dissidenten, der Artikulation gegen einen Staat, der in der bundesdeutschen Presse jener Jahre meist in Anführungszeichen stand.
Auf die Performanz kommt es an: Diese Einsicht hat sich in der Literaturwissenschaft, die sich nicht mehr allein mit klassischen Gedichten, sondern auch mit Liedtexten und Songs befasst, längst durchgesetzt.31 Lyrics, politische zumal, schweben nicht kontextlos im Äther, sie sind räumlich und zeitlich lokalisierbar. Hier entsteht eine Dialektik. Die spezifischen Sprech- und Auftrittsbedingungen manifestieren sich nicht nur in den Gedichten – sie können sich auch vor die Lyrik schieben: die Person Biermann, die fasziniert, auch wenn die politische Lyrik es mit der von Zeitgenossen wie Sarah Kirsch oder Wolfgang Hilbig im Osten, von Hans Magnus Enzensberger oder Peter Rühmkorf im Westen nicht aufnehmen kann.
Zwischen Aufbau und Rebellion, zwischen Anarchismus und Sozialismus sind die Sprecher-Ichs hin- und hergerissen. Dissidenzerzählungen, wie sie für den späteren Biermann charakteristisch sind, werden in der Drahtharfe noch erprobt. Immer wieder münden die politischen Ausbruchsgesten, das wilde Benehmen der Nonkonformisten in die Alltäglichkeit und Spießigkeit der kleinen Wünsche. Politische Sehnsüchte und gesellschaftskritischer Spott kommen sich manches Mal erstaunlich nah: nicht trotz, sondern wegen der demonstrativ zur Schau gestellten Ironiegesten. Legt man die fünf „Buckower Balladen“ neben Brechts Elegien, auf die sie anspielen, wirken sie unernst, beinah parodistisch:

Siehst du heut fern?
Ja, ich sehe heut fern.

Ein Buch sei keine Wurst, schrieb Jörg Sundermeier anlässlich der Absage der Leipziger Buchmesse 2022 in der taz.32 Bei Biermann weiß man das nicht so genau. Da wird zerfleischt und zerhackt und „durchn Wolf“ gedreht, wie in der „Rücksichtslosen Schimpferei“. Da wird „frisch geschlachtet“, es werden „Schlachterhaken“ in den Bauch geschoben, „Wurstmaschinen schlucken gierig“, wie im „Selbstportrait“. In Biermanns Gedichten wird malträtiert, doch bleibt die Bedrohung abstrakt, fast geschichtslos. Dem „Ich“ selbst soll es an den Kragen gehen, es sei denn, dass es von selbst „in das Netz der Selbstkritik schwimme“.
Biermanns Bildersprache ist nicht weniger volkstümlich, als es die lyrischen Formen sind, die er bedient. Rüpelhaft und direkt, aber eben auch mutig und gerade heraus. Die Ichs, die sich in den Gedichten artikulieren, sind gesellschaftliche Außenseiter, wie die porträtierten lyrischen Vorbilder, in deren Reihe Biermann sich stellt: Villon, Heine, Brecht. Und sie sind es nicht, wenn ihre alltäglichen Wünsche und Hoffnungen sie nahbar machen. Sie sprechen wie einer aus dem Volk. Und auch wieder nicht, wenn sie Worte finden für diejenigen, denen sie fehlen. Im Oszillieren zwischen den Rollen entsteht performative Spannung.
Zur Performanz des Rollenspiels gehört die einkalkulierte Lust am Entschlüsseln, die – anders als etwa bei Arno Schmidts esoterischer Sprachkunst, die schon zu Lebzeiten ein eingeschworenes „Dechiffriersyndikat“ hervorbrachte – gerade nicht auf Subtilität oder Hermetik setzt, sondern auf den gemeinsamen Aha-Effekt, der sich im Lachen augenzwinkernd und wiedererkennend entlädt. Man versteht sich. In der „Ballade auf den Dichter François Villon“ klopft die Volkspolizei auf der Suche nach dem „Hetzer“ Villon an Biermanns Tür. Biermann, der hier nicht als Störenfried erscheint, öffnet, macht gemeinsame Sache mit den Polizisten und verrät seinen vagabundierenden Gast:

Natürlich kam die Sache raus
Es läßt sich nichts verbergen
In unserm Land ist Ordnung groß
Wie bei den sieben Zwergen
Es schlugen gegen meine Tür
Am Morgen früh um 3
Drei Herren aus dem großen Heer
Der Volkespolizei
„Herr Biermann“ – sagten sie zu mir –
„Sie sind uns wohl bekannt
Als treuer Sohn der DDR
Es ruft das Vaterland

[…]

Der Jambus nimmt seine eigene Rache am politischen Sicherheitsapparat; „Volkspolizei“ spannt er aufs metrische Streckbett: „Volkespolizei“. So steht die eilfertige Denunziation nur mehr unter den Vorzeichen eines Kasperlspiels, in dem schon die Kinder merken, wenn einer sich verplappert:

Jawohl, er hat mich fast verhetzt
Mit seinen frechen Liedern
Doch sag ich Ihnen im Vertraun:
Der Schuft tut mich anwidern!
Hätt ich in diesen Tagen nicht
Kurellas Schrift gelesen
Von Kafka und der Fledermaus
Ich wär verlorn gewesen

Heute mag die Kafka-Konferenz im tschechischen Liblice vor allem Historikerinnen und Literaturwissenschaftlern noch ein Begriff sein. 1963 zog Alfred Kurellas polemischer Essay weitere Kreise. Der Leiter der Kulturkommission im SED-Politbüro hatte in „Der Frühling, die Schwalben und Franz Kafka“ den in der DDR offiziell verpönten Dichter mit einer Fledermaus verglichen. Eine solche Kulturpolitik hat die Lacher gegen sich. Dabei geht der ebenso eindeutige Befund fast unter, dass, wer hier über Kurella lacht, mit Kafka doch denkbar wenig gemein hat.

In der „Ballade auf den Dichter François Villon“ bezieht sich das Sprecher-Ich „Biermann“ spöttisch auf „unser Land“, das mit großer „Ordnung“ glänze. Pathetisch überhöht wiederum ist der Bezug im pazifistischen Appell des Gedichts „Jahrmarkt am Rhein“:

Wann endlich schützt uns unsere Natur,
aaaaadaß wir nicht erschossen werden
von unsresgleichen?

„Wir“ – das sind hier, wie auch im folgenden Gedicht „Spielzeug“, alle Menschen, nicht allein die Bürger der DDR, nicht allein das „Kollektiv“, das vom Sprecher-Ich wiederholt als „Ihr“ abgewiesen (und doch zurückgerufen) wird, wie in der „Rücksichtslosen Schimpferei“.

Geht mir weg mit euren Schwammfressen!
Geht beleidigt und entrüstet!
Geht mit Kopfschütteln über meine falsche Haltung aber
Geht!

Der Pluralgebrauch der Personalpronomen, vor allem in den Gedichten aus dem Abschnitt „Beschwichtigungen und Revisionen“, legt Unsicherheiten in der Zugehörigkeit offen, ein Hadern und Zaudern mit dem „Ihr“, aber auch die Unwilligkeit, mit den „Genossen“ des „Kollektivs“ zu brechen. Mit einem überraschenden Bekenntnis zum „Wir“ schließt dagegen der erste Abschnitt, die „Buckower Balladen“ – jene Gedichte also, die Bezug nehmen auf Brechts kritische Auseinandersetzung mit der DDR in den Buckower Elegien. Scheinbar spöttisch wird die intellektuelle und geografische Enge im „Kleinstadtsonntag“ zur Schau gestellt: „Gehn wir mal hin?“/ „Jetzt gehn wir mal hin.“/ „Gehn wir mal rein?“ Der Tag plätschert in dialogischer Wiederholung dahin, zwischendrin wird Bier getrunken. Mit der Antwort auf die abschließende Frage deklariert ein „Ich“ unerwartet seine Zugehörigkeit:

Ja, ich sehe heut fern.

Für welches „Wir“ kann das „Ich“ einstehen? Repräsentativen Charakter haben Biermanns Gedichte nur, solange er in der DDR verbleibt, argumentiert der Literaturwissenschaftler Ole Petras.33 Und Biermann selbst scheint ihm recht zu geben. „In der BRD habe ich vielleicht Publicity, aber in meinem Land bin ich populär“, konstatierte er nicht ohne Stolz 1971 im Spiegel-Interview – gut fünf Jahre vor seiner Ausbürgerung.34

 

3. Beglaubigungen
Das Problem mit Biermann ist, dass er so schrecklich einfach ist. Und selbst da, wo er es, auch in der Gegenwart, den Menschen nicht einfach macht, liegt das eher an einer Haltung antrainierter Querköpfigkeit als an Komplexität. Die Lyrik ist in ihren Formen volkstümlich, in ihrer Sprache direkt. Wenn die Anspielungen heute Erklärungen erfordern, liegt das vor allem daran, dass der Raum und die Zeit, in denen Biermanns Lyrik verankert ist, in kulturhistorische Ferne gerückt sind.
Auch die Darmstädter Jury, die Biermann 1991 den Büchner-Preis, die bedeutendste Literaturauszeichnung im deutschsprachigen Raum also, zuerkannte, zielte in ihrer kurzen Begründung nicht auf Diffizilität oder Unzugänglichkeit. Leidenschaft, Witz, Eigensinn und Ehrlichkeit hob sie hervor – und natürlich Biermanns Courage. Noch deutlicher wurde der Laudator. „Ich weiß es wohl, und er selber weiß es ebenfalls: Es gab gestern und es gibt heute, in Deutschland und anderswo, bedeutendere Lyriker und originellere Komponisten, es gab und gibt bessere Sänger und bessere Gitarristen“, hielt Marcel Reich-Ranicki dem Gefeierten entgegen.35
Setzt man stattdessen, wie Reich-Ranicki das in seiner Laudatio tat, ganz auf die Widerspenstigkeit der Person, macht man es sich zu leicht:

Er sprengt jeden Rahmen. Ein leidender Liedermacher ist er, ein militanter Musiker und ein fröhlicher Volksredner, ein Politbarde, ein Prediger und ein Pamphletist, er ist sogar ein Clown, ein Conférencier und ein Kabarettist, ein Schalk und ein Showmaster.

Biermanns Komplexität liegt nicht in der Vielheit der Rollen, auch nicht in der schieren Quantität der Unterfangen. „Ein Hansdampf in allen Gassen?“, wie Reich-Ranicki wenig schmeichelhaft fragte.
Biermanns Komplexität liegt auf einer ganz anderen Ebene. Kühn und intuitiv stellte er Gattungskonventionen in Frage. Er exponierte, was – und in der deutschen Tradition zumal – als besonders intim gilt. Lyrik war nie für die große Bühne gemacht. Lyrik lebte von der Aura des Geheimnisvollen, des Weihevollen, der andächtigen oder besser: nachdenklichen Lektüre in kleiner Portion. Sie war exklusiv, nicht inklusiv. Und über denen, die es anders machten, wie der von Biermann verehrte Heinrich Heine, lag das Verdikt, zu einer „Welt von Männerchören und Gesangsvereinen“36 zu gehören: Hölderlin vs. Heine heißt es noch bei Brecht.37
Biermann ist nicht nur Exponent eines alltagsnahen, nachlässigen, ja witzigen lyrischen Sprechens, er ist zugleich, wie die Literaturwissenschaftlerin Kerstin Stüssel herausgearbeitet hat, ein Meister des öffentlichen Auftritts. Es ist die „mediale und performative Seite“ seiner Autorschaft, die den Texten anhaftet, ihnen eine „momenthafte Präsenz“, eine „ereignishafte Singularität“ verleiht, die überzeugte und faszinierte.38 Intimes auf der ganz großen Bühne: Die Komplexität entsteht an den Reibungspunkten wie in der „Rücksichtslosen Schimpferei“.

Aber ich bin der Hecht!
Ihr müsst mich zerfleischen
zerhacken, durchn Wolf drehn
wenn ihr mich aufs Brot wollt!

Verse wie diese gewinnen Strahlkraft und Dichte nicht durch die Sprachgewalt, auch nicht durch ihr Pathos, sondern durch den außerordentlichen Auftritt der Person, die da spricht:

In den Bunkern meiner Skepsis sitz ich sicher
Vor dem Strahlenglanz der großen Finsterlinge
Und der Haß von gestern schützt mich vor dem Sturm
Von morgen. Nehmt zur Kenntnis: Ich bin ausgerüstet

Hinter Versen wie diesen steht die ganze Person: der Autor Biermann, dessen Vater 1943 als Kommunist und Jude in Auschwitz ermordet wurde,39 der als überzeugter Kommunist 16-jährig in die DDR übersiedelte, dort seine Stimme und seinen Mut nicht verlor, der nach 1990 mit tagespolitischen Äußerungen oder einem angemaßten Deutungsmonopol über den DDR-Widerstand in die Kritik geriet und später als „Staatsdichter“ abqualifiziert wurde.40
Biermann erinnert Öffentlichkeit, Forschung und Kritik an eine alte Frage – und die stammt nicht aus den Poetiken, die davon ausgehen mussten, dass Dichter mehr oder weniger angemessen lügen; sie stammt aus der Rhetorik und betrifft eine elementare Voraussetzung für die Überzeugungskraft öffentlicher Rede: die Glaubwürdigkeit des Redners. Die Frage der Glaubwürdigkeit des Liedermachers ist der Punkt, in dem Leben und Lyrik, Politik und Poesie zusammenfinden. Dass Biermann diese Frage, nicht die der literarischen Innovation oder Qualität, auf die Tagesordnung bringt: Darin liegt die eigentliche unausgesetzte Provokation.

Hendrikje Schauer, aus Dorlis Blume, Monika Boll, Raphal Gross (Hrsg.): Wolf Biermann: Ein Lyriker und Liedermacher in Deutschland. Ch. Links Verlag, 2023

 

WOLF BIERMANN SINGT

Im zimmer kreischt die straßenbahn,
sie kreischt von Biermanns platte,
der, als er die chansons aufnahm,
kein studio hatte

Er singt von Barlachs großer not,
die faßt uns alle an,
denn jeder kennt doch das verbot
und hört die straßenbahn

Reiner Kunze

 

 

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Evelyn Finger: „Im Paradies würde ich vor Langeweile sterben“
Die Zeit, 3.11.2011

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Andreas Öhler: Der Mensch ist sein Gott
Die Zeit, 10.11.2021

Robert Hottua: „Viel mehr erlebt als ich schreiben kann“ – Wolf Biermann wird 85
Tageblatt Lëtzebuerg, 14.11.2021

Martin Schulte: Interview zum 85. Geburtstag: Wolf Biermann und sein Glaube an die Menschen
Osnabrücker Zeitung, 14.11.2021

Salli Sallmann: Wie Wolf Biermann die DDR-Opposition geprägt hat
RBB, 15.11.2021

Andrej Hermlin: Ich denke an ihn mit Bewunderung
Berliner Zeitung, 15.11.2021

Lars Haider Interview mit Wolf Biermann: Ich war auf den Lockdwon trainiert
Hamburger Abendblatt, 15.11.2021

Laura Döing: Wolf Biermann: Der radikale Kritiker wird 85
DW, 15.11.2021

Marko Martin: Mentsch Wolf!
Jüdische Allgemeine, 15.11.2021

Stefan Grund Interview mit Wolf Biermann: Querdenker sind nicht quer, sondern verquer
Die Welt, 12.11.2021

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Biermann“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Biermann, der“.

 

 

Der Fall Biermann – die Geschichte von Wolf Biermann und der DDR.

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