Wolf Biermann: Für meine Genossen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wolf Biermann: Für meine Genossen

Biermann-Für meine Genossen

ÜBER BEDRÄNGTE FREUNDE

1
Einige bedrängte Freunde, immer wieder drängen
aaaaamich diese
Dies Land zu fliehn: Mensch rette dich
In die Welt! Ein Sänger muß singen! Auch der Westen
Wird östlich. Kommunisten sind Mangelware, und wo
Gibt es schon Kommunismus?
Heb deine Tageskunst auf für die nach uns kommen
Deine Papierbündel bringe in Sicherheit und
Schütze deine 140 Pfund vor dem Zugriff derer
Deren Eigentum das Volk ist. Mann
Sie haben dich bis jetzt nur nicht eingelocht
Weil ihnen das zu teuer ist! Was aber
Wenn es zu teuer wird, dich nicht einzulochen?

2
Ach, die so reden
Brauchen mich nicht

So schlecht wie bisher
Können die gut weiterleben
Auch ohne mich

Schlechter behandeln die mich
Als sie ein Stück trocken Brot behandeln

Was also für ein Talent wäre da so dringlich
Für die Welt zu retten, Freundchen
Das dir entbehrlich ist? Genosse
Welche Kunstwerke sollen da
Auf die Menschheit losgelassen werden
Die du nicht brauchst wie Brot?

Das geb ich euch schriftlich: Wenn ihr
Mich hier nicht
Braucht, was soll da die Welt
Mit mir?
Brauchtet ihr mich aber doch, was
Brauchte da ich die Welt?

Nein! Die Welt braucht mich
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah i e r
Und die Nachwelt braucht mich
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaj e t z t!

3
Gut, sagen erleichtert die bedrängten Freunde:
Das gib uns schriftlich
aaaaaaaaaaaaaaaa– drei Durchschläge
aaaaaaaaaaaaaaaaa– vom Gedicht
aaaaaaaaaaaaaaaaaa– über die bedrängten Freunde
zur Verbreitung!

 

 

 

(…)

Hetze. Unzurechnungsfähigkeit. Mildernde Umstände. Das Plädoyer gilt nicht der Anerkennung bestehender Verhältnisse, sondern ihrer proletarisch-demokratischen Veränderung.
Diese Balladen und Lieder urteilen im Namen des Volkes – vorlaut, solange jene Arbeitsteilung besteht, die Biermann einem „tiefbesorgten Freund“ vorhält: „Mein Lieber, das kommt von der Arbeitsteilung / Der eine schweigt und der andere schreit / Wenn solche wie du entschieden zu kurz gehn / Dann gehn eben andre ein bißchen zu weit.“

Verlag Klaus Wagenbach, Klappentext, 1972

 

Brecht

(…)

Im Fall des Genossen ohne Parteibuch Wolf Biermann verhält sich vieles interessanter. Warum interessanter, werden Sie fragen. Etwa wegen des langjährigen Verbots der „öffentlichen Wirksamkeit“ des Sängers? Vielleicht ist es die Unverdrossenheit als Propagandist seiner Überzeugungen, gepaart mit dem Genuss von Popularität auch im Anrüchigen politischer und privater Umstände, was ihn zum Erben Brechts par excellence macht. Liedermacher nennt er sich nach eigener Auskunft im Gefolge Brechts, der sich als Theaterpraktiker, als ein Mann der „Versuche“ den Anstrich des bescheidenen Kopf-Arbeiters verlieh. Unter Gentlemen gehören solche Verfahren der Sprachregelung zum Understatement. Nicht bei Wolf Biermann, der unablässig betont, dass jenes volkstümliche Wort seine Erfindung sei. Ja, das Publikationsverbot, vor allem aber das öffentlicher Auftritte, das von 1965 bis zu der spektakulären Ausbürgerung 1976 galt, es macht den Fall bekannt. Doch nicht die Umstände, unter denen der Dichtersänger die zwölf Jahre schrieb und sein Geschriebenes unter die Leute brachte, sang und sein Gesungenes auf die westdeutsche Platte und auf viele private ostdeutsche Tonbänder brachte, erzeugt den Thrill oder, sagen wir korrekt, das inzwischen historische Interesse. Es geht – wie sollte es anders sein – auch und gerade bei Wolf Biermann um Haltung. Was Volker Braun mit dem Bloch-Wort vom „aufrechten Gang“ auf den Punkt brachte, ohne es in dem pathetischen Sinne einzulösen, praktizierte Wolf Biermann scheinbar sein Sängerleben hindurch. Dabei nahm er gern und nicht wirklich augenzwinkernd die Pose des Drachentöters ein. Der wusste immer, wohin der Hieb zu führen war, gegen den Kapitalismus einerseits und „die Bonzen“ andererseits, die aber zugleich doch auch zu seinen Genossen gehörten. Gegen das eine wie gegen die anderen zu wettern, schlug so oder so poetische Funken. Was Biermann daneben noch schlug, neben der markanten Gitarre, versteht sich, war die blutige Schweinsblase des deutschdeutschen und internationalen Zeitgeists des 20. Jahrhunderts. Der trug das Holzschnittgesicht einiger politischer und historischer Umstände, an denen Biermann sich – immer virtuos und immer lauthals – abarbeitete: „Macht kommt aus den Fäusten / Nicht aus dem guten Gesicht / Aus Mündungen kommt die Macht ja / Und nur aus den Mündern nicht! / Genossen das ist klar / Das ist und bleibt auch wahr“ – so heißt es im „Lied vom Kameramann“ zum Putsch in Chile 1973. Neben der materialistischen Einfachheit à la Brecht ist der Text auch sonst exemplarisch. Das Lied verdankt offenkundig seine Brisanz der Bestürzung des Liedermachers, als er den Filmstreifen sah, der abbricht mit der Erschießung des Kameramanns. Das kurze Dokument wurde in den Nachrichten jener Tage gezeigt. Nur wenn einem so etwas in die Glieder fährt – wie damals auch die Fotografien und Berichte vom Krieg in Vietnam –, nur dann und nur so entsteht politische Kunst, Dichtung. Sonst wird das alles gutgemeinter Polit-Kitsch. In Erich Frieds Werk, der zeitweise auf jede Zeitungsnotiz etwas verfasste, finden sich viele Beispiele für das eine wie für das andere. Die Erben hatten dieselben Probleme wie ihr Meister.
Lange zwölf Jahre saß Wolf Biermann in der privilegierten Falle seiner Wohnung im Osten mit seinen Plattenverträgen nur im Westen. Unter kapitalistischem Label erschien, was er „mit Marx- und Engelszungen sang“, Wunderbares davon, wie „die Hundeblume blüht auch in der Regenpfütze“. Peter Huchel, der von 1963 bis 1971 Biermanns Schicksal teilte, weder publizieren noch ins Ausland reisen durfte, widmete er, was längst Volkslied ist, seine Ermutigung: „Du, laß dich nicht verhärten / In dieser harten Zeit / Die allzu hart sind, brechen, / die allzu spitz sind, stechen / und brechen ab sogleich“, zu dessen Ende das „Grün“ „aus den Zweigen“ bricht, welches auch immer, verlässlich zum Ende ja immer wieder das des einzigen echten Frühlings, des Frühlings draußen in der Natur. Die Vorlage zu dem bekannten Lied entstammt dem Schlusskapitel der Hauspostille. Brechts Gedicht „Gegen Verführung“ hat eine Strophe weniger. Es ist ein weltliches Memento mori von absolutem Anspruch. Der Vorgänger klebte seinen Versen damals keinen kommunistischen Hoffnungsfrühling an:

Laßt euch nicht verführen! […]
Ihr sterbt mit allen Tieren
Und es kommt nichts nachhe
r.

Biermann hat seine Hoffnungsnarretei, seine Unbeirrbarkeit von dem späteren Brecht abgeschaut. Mit der singt er auch auf das „grüne Bild“ des Hugenottenfriedhofs, wohin er etwas unkorrekt Brechts Grab verlegt:

Wir hakeln uns Hand in Hand ein
Und schlendern zu Brecht seinem Grab
Aus grauem Granit da, sein Grabstein
Paßt grade für Brecht nicht schlecht
Und neben ihm liegt Helene
Die große Weigel ruht aus
Von all dem Theaterspielen
Und Kochen und Waschen zu Haus.

Das ist lieb von Biermann, ein weiteres Beispiel seiner Fähigkeit, Leichtes wie ein Volkslied zu schaffen, obwohl er der Witwe Brecht-Weigel später ganz anders aufspielte von dem, was er außerdem wusste. Nur Brecht allein, dem Meister, gilt Biermanns Verehrung in jeder Lebenslage:

Dann freun wir uns und gehen weiter
Und denken noch beim Küssegeben:
Wie nah sind uns manche Tote
Wie tot sind uns manche die leben

1976 wird er nach Köln eingeladen, von westdeutschen Gewerkschaftern. Von wem würde er sich weniger bitten lassen? Jedenfalls will er nun endlich einmal fahren, endlich einmal auf die Bühne, die große, endlich einmal laut vor Publikum heraussingen und -sagen und -schreien und -krakeelen, was seins ist, alles, „zu jeder Schweinerei“ bereit sein, wie er dann an dem Novembertag sagt. Vonseiten der DDR-Mächtigen ist alles klar. Sie wollen ihn weg haben, endlich los sein, es ist schon durchgestellt. Fama wollte es schon immer, schon damals, 1977, als ich das Konzert vollständig auf einem Heimaturlaub von der NVA hörte, dass der Sänger vorher wusste, worauf es hinauslief. Florian Havemann bestätigt es in seinem schonungslosen Buch Havemann. Biermann hat es gewusst und zumindest in Kauf genommen, dass die ihn nicht mehr reinlassen in die DDR. Das Gerücht stimmte also: Margot Feist, als Margot Honecker Ministerin für Volksbildung und Ehefrau des Generalsekretärs der Einheitspartei Erich Honecker, zwischen der und Biermann früher, zu frischen FDJ-Zeiten und vielleicht auch später noch einmal, was gelaufen war, sie selbst wäre bei Biermann vorgefahren und hätte ihn gewarnt. Aber der Sänger wollte sich „so oder so“ zum 40. Geburtstag das eigene Ständchen bringen, auf das Geschenk der Ausreise obendrauf.
In der alten Heimatstadt Hamburg ging es nach der Rückkehr naturgemäß nicht ganz so familiär zu. Auch wenn der Tross, der nachzog, die Ausmaße des weiland Brecht’schen hatte. Da stank es ihm dann nach „Jauche“, dem Manne und dem Sänger und dem Liebhaber und dem Linken und dem Deutsch-Deutschen und dem gut Verdienenden, der seine Situation nannte: das Exil. Da will ihn alles an Heine gemahnen. Da will er wie Brecht sich fühlen. Da will er die Birnen, die Äpfel vergleichen. Das machen Sänger so im raschen Lied. Sie wollen gefallen, sie müssen es auch. Da werden sie ungenau. Wolf Biermanns Ankunftslied in der westdeutschen, bürgerlichen Republik der Jahre 1976/77 behauptet, gekommen sei er „vom Regen in die Jauche“. Nach zwölf Jahren Verbots ist kaum ein größeres Kompliment für die vertrautere Republik der Verbote vorzustellen. So stand es um Biermann. Er stellte dem besseren Deutschland einen Persilschein aus, gespült mit weichem Regen.
Was er dem akklamierenden Publikum in der offenen Gesellschaft zurief, war nicht wirklich neu: „Und die Wahrheiten werden gehandelt auf dem Lügenmarkt“ im Westen, jaja. Darunter litt schon Brecht, dem es in Kalifornien alles viel zu hübsch war, nachdem er durch Stalins Reich ohne Aufenthalt hindurchgehuscht war:

Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen
Fahre ich zum Markt, wo Lügen gekauft werden.

Biermann legt noch ein Klischee nach in seinem Lied, was deutlich danebengeht:

Die Arbeiter aber verkaufen
Wie eh und je ihre Kraft
Und schlagen, als wäre es ihre: Die große Wohlstands-Schlacht.

Lau und faul sang Biermann das alte Lied, wie drüben „die Bonzen“ und hier „die Bosse“ fallen würden. Er widmete das Ständchen obendrein Ernst Bloch, dem Prinzipienreiter mit Nachhall von Leipzig bis Tübingen, wissentlich der westdeutschen akademischen Linken zu Gefallen, das gute alte Wir („was ist das: Genossen?“) auf seinem Panier:

Wir werden aufrecht gehen
Wir werden aufrecht gehen
[…] Mit neuen Augen sehn: Exil.

Der Exilant Brecht dagegen war fünfunddreißig Jahre zuvor offener. Er schrieb vorbildlich nüchtern, genau. Gerade Brechts propagandistische Texte sind, wie schon demonstriert, handwerklich präzise. Hier nun, im Alltag Hollywoods, muss und will er mit Drehbüchern Geld verdienen. Es geht um die Ausübung des Berufs eines Schriftstellers unter den gewöhnlichsten Bedingungen des Marktes. Schon die Troubadoure zum Beispiel oder der Theatermann Shakespeare waren selbständige Unternehmer. Brecht ist es doch auch, und zwar erfolgreich auch unter den Bedingungen des Exils. In einer feinen kleinen Volte des Mannes, der „die Wahrheit“ auf den Fahnen trug, benannte er in dem Zusammenhang einmal genau, was der Schreiber tut, wenn er seinen Beruf ausübt: „Hoffnungsvoll / Reihe ich mich ein unter die Verkäufer“ der Lügen.

*

Lieber sollte ich Wolf Biermann einen Brief schreiben, direkt und ohne Umschweife, dem 1936 Geborenen zu seinem achtzigsten Geburtstag. Dem großen Wolf, dem Milchmann, der uns, will sagen meiner Altersgruppe hinter der Mauer („in China!“), den Nachgeborenen der Nachgeborenen, das Bier seiner alkoholisierenden Denkungsart eingeflößt hat. Ich sollte ihm sagen, dass es uns, ja, konkret: uns, ja: mir nichts, gar nichts mehr gebracht hat, als er dann am Schluss von der Mutter Erde und ihrem Kind, dem Kommunismus, was sang von der Totgeburt. Sie, großer Wolf mit dem Proletkult-Schnauzbart, haben noch immer eine Hintertür in Ihrem Bühnengebiss, wie ein Haifisch, der Zahn um Zahn nachklappen kann. Sie sind einer, der noch die Nachgeburt, die Neu-Geburt, die Folge-Geburt rosa anmalt, alt-rosa, wenn ich so sagen darf. Das mit der Hoffnung, mit dem aufrechten Gang bei der sehr weit gefassten sächsischen Dichterschule (für den bekennenden Hamburger Jung ein germanistischer Schubladen-Treppenwitz!), dem Morgenrot entgegen dort am Horizont (oder besser mit Udo Lindenberg, der auch etwas von alldem wusste, „hinterm Horizont“), das war von Ernst Bloch auf Sie gekommen, wie es von Marx her gekommen war, wie von allen utopischen Schriftstellern zuvor. Sie, Wolf Biermann, sagen und singen und schreien es ja immer in die Welt, und alle klatschen. Und Sie bleiben dabei. So, wie Sie eben bei dem Brecht geblieben sind, solange Sie in der Chausseestraße saßen, aber treu dem Meister auch danach, am Hamburger Hohenzollernring. So lassen Sie es uns hören und lesen.
Alles, was auf dem wunderbaren, wirklich großartigen und bitte sehr in Millionen Exemplaren zu verbreitenden Brecht-Abend A.D. 1998 gesagt, gesungen, geschrien, gejauchzt, geflüstert und pädagogisch wertvoll musiziert wurde – es kommt, es kam zu spät! Da sagen Sie, ach, wenn der Brecht doch den Mut gehabt hätte. Wenn der die Kurve gekriegt hätte – was dann alles gewesen wäre. Dass Heiner Müller nicht an seiner Brecht-Zigarre hätte nuckeln müssen sein Lebtag bis ins Sterben. Stimmt. Und Sie hätten uns dann nicht ins Poesiealbum ganz vorn, auf die erste Seite geschrieben, dass wir uns nicht verhärten sollen. Ohne diesen Hoffnungs-Firlefanz von Ihnen frei nach Bloch, dem Kommilitonen von Lukács, hätte uns die Nummer mit dem weichen Wasser vielleicht auch nicht so lange aufgehalten, die Brecht übernommen hatte von Lao-tse und Zhuang-zi, auch nicht die ganzen Sachen vom Me-ti, die im wesentlichen Lenin und noch mal Lenin hochleben lassen und in dessen Licht den Dichter und Denker, der das alles ausgedacht hat.
Sie, verehrter Herr Biermann, hätten das nicht weitergegeben. Wir hätten das nicht aufgenommen, nicht in den Kopf bekommen, wo es zu lang nistete, auch wegen Ihrer schönen Melodien. Wenn das Wörtchen Wenn nicht wär, wär mein Vater Millionär – ich habe das auf meinem Spielplatz im Berliner Arbeiter-Nordosten heruntergeleiert. Der große Biermann spricht derlei auf der Brecht-Bühne in der noblen Akademie am Pariser Platz Berlin-Mitte. Hört sich an, als wollte er doch hier und da abwiegeln. Die Toten stehen auf. Alles zu Brecht sagt Biermann dort, alles, doch die Entlastung kommt mit: „Wir“ sagt wie gewohnt der alte Biermann vom jungen, wir, zum Meister gewandt: „Brecht, deine Nachgeborenen“ hätten alles Mögliche anders machen können. Es wären andere Lieder gesungen worden. Es wäre auf andere Pferde gesetzt worden zwischen Karlshorst und Hoppegarten. Es wären die Hände und Herzen anders gereicht worden, über die Ostgrenzen vor allem. Man hätte sich auch nichts mehr sagen lassen von der Elite aus dem Westen. Dieses hochnäsige Gerede von der Notwendigkeit, die DDR zu verändern, und zwar in der DDR. Meinesgleichen ist mit vierzehn Jahren auf denselben langen Marsch eingeschwenkt, den nach asiatischer Weise von Brecht über Biermann bis Dutschke alle für den richtigen hielten. Der dauerte so lange, bis am Schluss, 1989, nicht etwa die Intelligenzija, nicht die Dichter den Staat stürzten. Es war die soundsovielte Generation der Arbeiter, die nicht mehr die schreiende Lüge vom Mehl, das morgen kommt, sich ins Gesicht labern lassen, sondern den Kuchen hinter der Mauer auch backen und endlich auch essen wollten. „Ich selber habe ihm den Tritt versetzt“, meint Volker Braun von diesem historischen Schritt. Nichts hat er, gar nichts. Auch Sie, Wolf Biermann – das schriebe ich Ihnen dann –, auch Sie und gerade Sie haben gar keinen Tritt versetzt, sondern getragen und mir auferlegt, auch zu tragen, das Hoffen zu ertragen, zu kritisieren, aber niemals nicht grundsätzlich. Da sagen Sie es in dem Brecht-Konzert 1998, da lachen Sie über sich selbst, wie Sie in den Westen gekommen waren 1976 – wie legten Sie das damals noch politisch korrekt auf den Gabentisch der westdeutschen und überhaupt der Linken aller Länder? –, „vom Regen in die Jauche“, und weiter kraftvoll gefaselt hätten Sie von den falschen Kommunisten an der Macht, während Sie selbst und Robert Havemann und Jürgen Fuchs etwa die richtigen Kommunisten wären und waren. Und wie Sie weitergemacht haben, das Lied weitersangen, zu mir in die „graue Norm“ der NVA-Kaserne herein…
Und wie ein Bauarbeiter, der mit mir bei den Baupionieren, mit mir auf der Bude war, als ich heimlich Ausschnitte aus Ihrem Kölner Konzert hörte, wie der kräftige Arbeiter, der da war, um mit mir gemeinsam Beton für den Warschauer Pakt zu gießen, wie er da saß, über seinen Bastelarbeiten aufblickte und in den Raum sagte:

Der hört wieder seinen roten Mist…

Er meinte mich. Er meinte Sie, er bezeichnete Wolf Biermanns Konzert (da capo!) als „roten Mist“. Wir schrieben November 1976. Und der Arbeiter sagte, was wahr war, damals wie zu Brechts Zeiten, wie zu Wolf Biermanns Zeiten immerzu, wie zu meinen Zeiten noch immer. Brecht, den Sie als Dichter selbstverständlich und aus den von mir hier, in diesem Text, auch benannten Gründen hoch- und höherleben lassen, den Sie in Ihrer berühmten lockeren Art ausdrücklich als den „größeren“ Kopf in einem Atemzug mit Hans Sahl oder Artur Koestler oder Manes Sperber nennen, so als gehörte Brecht nur irgendwo zu denen, die den notwendigen nächsten – den schwierigsten! – Schritt der Aufklärung in ihrer Zeit gegangen sind. Aber eben der Brecht hat das ebenso wenig wie Sie geschafft, auch nicht gekonnt, nicht einmal gewollt zu den Zeiten, als es wichtig gewesen wäre, als es die Dinge hätte ändern können. Brecht hat die große Lüge, die er als die Große Ordnung bezeichnete, also wohl die gemeinste, jedenfalls folgenreichste Lüge des 20. Jahrhunderts mitgetragen. Und Sie, ausdrücklich Nachgeborener seiner Rechnung nach, lieber, verehrter Wolf Biermann, wie war das mit Ihnen? Brechts Arm, verlängert um den Ihren, langte noch bis an mein Herz heran.
Hans Sahl, der Dichter und Zeitgenosse Brechts, schreibt in seinen Memoiren unter dem Titel Das Exil im Exil:

Ende meiner Beziehung zu Brecht. Es fand Jahre später in New York statt, im Kriege […] Bei einem meiner Besuche hatte er mir das Manuskript des Guten Menschen von Sezuan in die Hand gedrückt und mich gebeten, ihm zu sagen, was ich davon hielte. Ich muß gestehen, daß es mir nicht sonderlich behagte, zumal es seine häufig gestellt Frage „Wie kann man gut sein in einer Zeit, in der Güte nicht verlangt wird“, die ich ablehnte, wiederholte. Ich hielt jedoch mit meiner Meinung zurück und fragte ein wenig ironisch, wer mit der Figur der guten Shen-te, die sich in den bösen Vetter verwandelt, weil das Gute nur überleben kann, wenn es sich als Böses verkleidet, gemeint sei: Hitler oder Stalin. „Verlassen Sie sofort meine Wohnung“, sagte Brecht, was ich jedoch nicht tat, sondern sitzen blieb und ihm erklärte: „Ich bin bereits einmal hinausgeworfen worden, aus Deutschland. Versuchen Sie es nicht noch einmal. Lassen Sie mich erst mein Glas austrinken, dann gehe ich“. Brecht verließ das Zimmer. Ich trank mein Glas aus und ging.

(…)

Uwe Kolbe, aus Uwe Kolbe: Brecht, S. Fischer Verlag, 2016

 

FERNSEHEN ODER WOLF, SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD
Nach Wolf Biermann

Sind wir schon drin?
Ja, wir sind schon drin.
Kamera 1
Jetzt singe ich eins:
Das Lied vom Tod
Und vom Morgenrot
Für RoberT H.
Bist du noch da?
Ja, ich bin noch da.
Für RoberT H.
Im Sauerstoffzelt
Und den Rest der Welt.
Kamera ab
Der Mann macht schlapp.
Was rauscht da im Off?
Der Sauerstoff.
Siehst du heut fern?

J a,  i c h   s e h   m ic h  s o   g e r n

Kurt Bartsch

 

Letzte Variation über das alte Thema
Nach Wolf Biermann

Solange ich mein Maul aufreiß
Genossen, ist es gut.
Ich bin der Wolf, Rotkäppchen beiß
Ich bis aufs rote Blut

Und fresse sie mit Haut und Haar.
Sie war mal meine Braut.
Wir sind schon lang geschieden zwar
Doch hab ichs nie verdaut.

Sie liegt mir wie ein Stein im Bauch.
Sie liegt mal kreuz, mal quer.
Sie lacht manchmal und flüstert auch:
„Ich bin die DDR“.

Die DDR, das ist die Welt
Und wenn sie unterginge
So war ich doch ihr größter Held
Weshalb ich lauthals singe:

Solange ich mein Maul aufreiß
Genossen, geht es weiter.
Ich bin der Wolf, Rotkäppchen beiß
Ich bis aufs undsoweiter.

Kurt Bartsch

 

 

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Evelyn Finger: „Im Paradies würde ich vor Langeweile sterben“
Die Zeit, 3.11.2011

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Andreas Öhler: Der Mensch ist sein Gott
Die Zeit, 10.11.2021

Robert Hottua: „Viel mehr erlebt als ich schreiben kann“ – Wolf Biermann wird 85
Tageblatt Lëtzebuerg, 14.11.2021

Martin Schulte: Interview zum 85. Geburtstag: Wolf Biermann und sein Glaube an die Menschen
Osnabrücker Zeitung, 14.11.2021

Salli Sallmann: Wie Wolf Biermann die DDR-Opposition geprägt hat
RBB, 15.11.2021

Andrej Hermlin: Ich denke an ihn mit Bewunderung
Berliner Zeitung, 15.11.2021

Lars Haider Interview mit Wolf Biermann: Ich war auf den Lockdwon trainiert
Hamburger Abendblatt, 15.11.2021

Laura Döing: Wolf Biermann: Der radikale Kritiker wird 85
DW, 15.11.2021

Marko Martin: Mentsch Wolf!
Jüdische Allgemeine, 15.11.2021

Stefan Grund Interview mit Wolf Biermann: Querdenker sind nicht quer, sondern verquer
Die Welt, 12.11.2021

 

 

Fakten und Vermutungen zum AutorKLG +
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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Biermann“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Biermann, der“.

 

 

Der Fall Biermann – die Geschichte von Wolf Biermann und der DDR.

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