Wolf Biermann: Paradies uff Erden

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wolf Biermann: Paradies uff Erden

Biermann-Paradies uff Erden

JÜRGEN BÖTTCHER, DER STRAWALDE

Das wär mir ein Paradies, wenn
Sehr verschiedne Diktatoren
Über ’m Feuer schön an Spießen
Schrecklich in der Hölle schmoren!
Böttcher, du als Dok-Film-Filmer
Könntest schönste Schreckensbilder
Für uns liefern, wenn zuweilen
Dir die Teufel für die Hölle
Drehgenehmigung erteilen
Saddam Hussein, den will ich
Auf dem Grill als Satansbraten
Sehn, auch Stalin festgekettet
An Freund Hitler, Himmler, Goebbels
und Suharto aus Djakarta
Den Chinesenschlächter Mao
Pinochet, Pol Pot, Mobuto
Idi Amin und Gaddhafi
Franco und Freund Mussolini
Ho Chi Minh, Khomeini, Castro
Kim Il Sung aus Nordkorea
Todeslänglich solln sie bluten
Mit des Teufels Pfahl im Fleische
Und Ceausescu will ich auch sehn
Wie ihn unter Spottgekreische
Die Dämonen auf den Bauch drehn
In die ewgen Höllengluten

Jürgen, als den wahren Meister
Aus dem einstmals hochberühmten
Toten Defa-Dok-Film-Studio
In der Otto-Nuschke-Straße
Nahe dem ZK-Gebäude
An der Spree, wo sie so schön ist
Weil auf der Museumsinsel
Ja der Himmel groß zu sehn ist
Als den Filmer liebt die Welt dich
Aber als der Tafelbildner
Der du bist, verehrter Meister
Als das Malgenie „Strawalde“
Brauchst du das O. K. zum Filmdrehn
Gar nicht! Du nimmst dir paar Piepen
Und gehst einfach in den Laden
Und kaufst ordinäre Pappen
Leinwand fertig mit Grundierung
Feine Farben, Eichhorn-Pinsel
Und dann malst du solche Sachen
Die die Konkurrenz-Kollegen
Penck und Baselitz nie machen
Mal uns den modernen Brueghel
Besser noch: den Bosch van Aken
Zeig uns all die Höllenqualen
Auf dem neuen Stand der Technik
Was ich dann noch haben müßte
Wär ein update von dem aller-
Neusten Garten auch der Lüste
Aber nicht so nachgepinselt
In altmeisterlicher Pose
Wie von Tübke hingeprimelt
In lasierten Umbratönen
Nicht so phantasiearm wie der
Surreale Dussel Dali
Mit dem Schnurrbart in der Hose
Und schon gar nicht akademisch
Nachgeäffter Jackson Pollack
Karmesinrot Spermakleckse
Kadmiumrot aus der Tube
Hingespritzt macht noch kein Blutbad
Wer nur für den Markt die Bilder
Malt, tja, der verliert an Marktwert
Nie im Leben warst du so ein
Kritzekratzebürgerschrecklich
Galeriegezähmter Wilder
Der sich nur um seinen Quark schert
Nein, man soll dich gleich erkennen
An dem Stil, nicht an der Masche
Jürgen, tob dich aus im Bilde
Kobaltblau die Leichenberge
Eichmann soll im Schornstein sitzen
Terra Verde in den Haaren
Mal sein Herz mit Auschwitzasche
Walser wird es dir verzeihen
Schmerzt ihn auch Moralgebreste
Zeig uns Berija und Mielke
Wie sie Blut und Wasser schwitzen
Lichter Ocker mit Celeste
Hölle, die zum Bersten voll ist
Giftgelbgrünes Höllenfeuer
Zeig Idylle, wo sie Schrei ist
Schamrot Schreibtischmörderfratzen
Ulbricht sollst du konterfeien
Röntgenbild mit Gammastrahlen
Und Milošević, den Quatscher
Und gelernten Völkerklatscher
Wenn, schon, klau was bei Picasso
Denn man stiehlt nur bei den Besten
Fetz uns hin das Wort von Heine
Blase! donnre! schmettre! töte!
Denk nicht an die Farbenlehre
Vom Geheimrat Wolfgang Goethe
Laß dich lieber inspirieren
Von dem Wort: Den wahren Meister
Den erkennt man nicht am Glanzlicht
Auf des Königs Pferdeärschen
Grau in bunt mal uns das Grauen
Bildersprache des Jahrtausends
Bockwurscht mit Parademärschen
Schön, wenn paar Details genau sind
Halte dich an Brechts Maxime
Er liebt Farben, knalligbunte
Hauptsache nur: daß sie grau sind
Alltag pur, pastoser Auftrag
Menschenfresser, Männer, Frauen
Mal auch Drachen uns der Zukunft
Mit Computerblut im Innern
Tafelbild gemischt mit Sperrmüll
Aus den Untertan-Fabriken
Aufgerissen alle Grenzen
Megakiller, Weltverpester
Zeig, wie sie an ihren Schwänzen
In der Hölle rumkaun, wimmern
Skelette in Mercedes-Benzen
Ethnisch saubre Folterknechte
Zeig uns, wie sie elend darben
Und das Rot setz mir in Maßen
Sonst verbrennt der Schnee von gestern
Mal das Weiß mit schwarzen Farben
Und die großen Wortverdreher
Sollst du uns im Bild festhalten
Wie sie sich die Haare raufen
Und die eignen Köpfe spalten

Und wenn wir dein Werk dann feiern
Wie das Leben, wie die Liebe
Stulle Schmalz, Glas Rotwein, Käse
Sterne schlucken, Mondlicht schlürfen
An des lieben Gottes Eiern
Rumspieln, weil wir es ja dürfen
Ungehörig uns betragen
Tanzen, ein Gedicht aufsagen
Über alles Witze machen
Flirten, frotzeln, simpelfachen
Wie in alten Jugendtagen
Jürgen, ja, dann sing ich wieder
Brecht und Eisler, Michel Bellman
Nils Ferlin und Okudshava
Und Savopoulos, Wyssodski,
Béranger, Daniel Viglietti
Georges Brassens, José Afonso,
Aristide Bruant, Bob Dylan
Mordechaj Gebirtig, Schubert
Wenn du mich dabei nicht störn willst
Sing ich Gorkis „Auf und nieder
Geht die Sonne…“ Fuat Saka
Atahualpa, Big Bill Broonzy
Ehrenwort: Nur was Du hörn willst
Aber, Freundchen! auch das eine
Oder andre meiner Lieder!

 

 

 

Nachsatz

Dies sind ein paar frische Früchte und feuilles mortes im letzten Herbst des alten Jahrtausends: neue Lieder und Gedichte – und fast alle über Berlin, das alte, das neue.
1997/98 lebte ich zum ersten Male wieder in dieser kaltherzlichen Stadt. Im Schreckensjahr 1976, das ist nun bald ein Vierteljahrhundert her, bürgerten die Bonzen mich aus ihrer DDR aus.
Seit ich dann also im Westen leben mußte, flog ich gelegentlich auch nach Westberlin zu Konzerten. Bloß nicht im Auto durch die Grenzkontrollen! Bloß nicht mit der Eisenbahn! Bei solchen kurzen Besuchen freundete ich mich mit dem anderen Berlin aber nie an, ich kannte ein paar gute Leute da, doch diese westliche Hälfte der Stadt wollte ich gar nicht an mich ranlassen. Kein neues Lied blühte mir dort, kein Gedicht konnte da wachsen!
„Mein“ Berlin, das war – was Wunder! – auf der anderen Seite, im grauen Osten. Und da galt mir der Brechtsatz: Keinen Gedanken verschwende auf das Unabänderbare!
Allein schon die Trennung von meinem Freund Robert Havemann schmerzte mich bei jedem Besuch in der „Frontstadt“ heftiger als sonst, und so blieb ich nie länger als unbedingt nötig. Die lustig bemalte und besprayte Beton-Mauer mit der traurigen Hände-Abrutsch-Röhre oben drauf war eine phantastische Bilderwand mit frechen Sprüchen. Aber mich machte sie verrückt, denn ich wußte ja, wie grauenhaft dieser „antifaschistische Schutzwall“ von der anderen Seite her gesehen aussah.
Inzwischen haben die Mauerspechte den bunten Beton der Berliner Mauer in Souvenirs zerbröselt. Acht Jahre nach der Wiedervereinigung, die manchen Deutschen und, pardon, auch Deutschinnen in West und Ost schon wie eine Widervereinigung ( ohne „e“ geschrieben) vorkommt, zog ich also mit meiner Familie für ein viel zu kurzes Jahr nach Berlin-Wilmersdorf. So erlebte ich die doppelte Stadt in dem geschichtsmächtigen Moment, da dieses preußische Vieldörferdorf sich nach dem heißen und nach dem kalten Krieg als Hauptstadt der Berliner Republik aufrappelt.
Ich wollte in Ruhe unter dem Dach des noblen Wissenschaftskollegs die Shakespeare-Sonette in meine Sprache bringen. Aber ostalgischer Liebeskummer und nimmermüde Neugier rissen mich ins ordinäre Leben. Berlin Berlin Berlin – und Berlin. Ja, ich kam mit pochendem Herzen wie zu einer einstmals zukünftigen Verflossenen. Und das versteht sich, solch ein pathetisches Wiedersehen kann manchmal auch herzzerreißend komisch sein. Mich hat die neuangefangene Affaire mit meiner haßgeliebtesten Stadt wahnsinnlich aufgeregt. Ich berührte sie zögerlich, und auch mich berührte das zupackende Weib, mit dem ich meine erste Lebenshälfte schön schmerzlebendig durchliebt hatte.
Mich lockt und zerreißt kein Ort so brutal wie der Unort Ostberlin. Solche Affekte sind kein Wunder, wenn man bedenkt, daß ich in den prägenden Jahren meines Werdens trotz der hanseatischen Kiemen hinter den Ohren ja auch ein „Baliiner“ wurde, mit Berliner Schnauze und mit zumindest einer berlinischen Herzkammer.

Etliche Bilder meines Bilderbogens malte ich, das sei zugegeben, auch mit einem bösen Lächeln. Mir, der in dieser Stadt ja keine Besitztitel zu verteidigen hat, gehören nämlich für immer zwei Teilchen vom Ostberliner Kiez Mitte „janz pasönlich“: der preußische Adler auf der Weidendamer Brücke und meine Wohnung in der Chausseestraße 131.
Warum wieso? – Menschenskind, dort schrieb ich ja Verse, gegen die unsere allmächtigen Angstmacher im Politbüro der SED so schön machtlos waren. Aber ausgerechnet in meiner alten Höhle wohnt jetzt nicht irgendein netter Normalmensch, sondern dort haust ein mielkischer Kretin und spuckt kesse Töne. Das ist Realsozialismus pur.
Im linken Eingang der Nummer 131, Ecke Hannoversche, also an der stumpfen Ecke, zwei Treppen hoch – dort hatten mich bis zu meiner Ausbürgerung im November ’76 Menschen aus der ganzen DDR besucht. Dort trafen sich in all den schweren Jahren oppositionell Leute aus Polen und aus der Tschechoslowakei, aus Ungarn, aus der Sowjetunion. Und es flogen auch allerhand bunte linke Vögel aus dem Westen ein: Rudi Dutschke, Ulrike Meinhoff, Herbert Marcuse, Allen Ginsberg, Joan Baez. Unten vor der Tür, Tag und Nacht, und im Hausflur lümmelten die Spitzel der Staatssicherheit. Jedes Kind im Haus kannte die stumpfsinnigen Pressen, und jeder einzelne meiner Bewacher hatte bei uns seinen passenden Spottnamen.
Aus diesem hochpolitischen Meeting-Point wurde ich vor nun bald 24 Jahren in den Westen gejagt. Es klingt kurios, aber ich besitze für diese Wohnung immer noch einen gültigen Mietvertrag. Und der Grund dafür ist einfach zu erklären: Als die verdorbenen Greise im Politbüro der SED mich damals trickreich in den Westen trieben, dachten sie nicht mal im Alptraum daran, daß es je anders kommen könnte. Also wurde der Mietvertrag nie gekündigt – gewiß, das ist eine formale Lappalie, es war halt ein schlampiges Versäumnis von totalitären Bürokraten, die sowieso nichts mit irgendwelchen Normen des bürgerlichen Rechts am Hut haben.
In der westlichen Welt bei tausend Konzerten und im neualten Zuhause, im wunderschönen Altona an der Elbe, hatte ich diesen Tort fast vergessen. Aber nun, im westberlinischen Wilmersdorf, tat mir die längst verheilte Wunde doch wieder weh.Und genau das war womöglich ein Stachel in meinem Herzen, der mich zum Schreiben antrieb.
Ja, ich beneidete die Ostberliner mit einem weißem und manche auch mit dem schwarzen Neid (so sagen die Russen, und damit meinen sie den neidlosen Neid und den giftigen Neid). Ich mißgönnte es also so manchem alten Schweinehund, daß er in „meinem Kiez“ wohnt. Ach! und in Berlin-Mitte das alte jüdische Scheunenviertel mit der renovierten Synagoge. Das ist alles nur ein Katzensprung von meiner Wohnung weg: Linienstraße, die Oranienburger, die Tucholskystraße… Hackescher Markt. Gespenstisch das Straßenbild: dort wimmelt es von Juden, die alle nicht mehr da sind. Und noch gespenstischer: In all meinen deutschdemokratischen Jahren, als ich mich in diesem Juden-Kiez herumtrieb, fiel mir das gar nicht so schmerzhaft auf. Der Blick ändert sich. Wenn ich nun Hannoversche Ecke Friedrichstraße vorbeikomme, dann verrenke ich mir doch den Hals, um „meine“ Fenster zu sehn. Und dann leuchtet es mir ein: Das Exil fängt für manche erst so richtig an, wenn es vorbei ist. Dann erst spürt man die Kälte und die Fremdheit auch im eigenen Herzen. Ja, und dann zerfrißt einen der schwarze oder der weiße Neid – egal. Und so kam mir die rettende Idee: Wenn ich mir nach dem Zusammenbruch der DDR mein winziges Nest dort nicht zurückerobern kann, na dann okkupiere ich eben das ganze riesengroße Kaff Berlin im poetischen Handstreich. Dabei bin ich nicht der erste, der solch einen Coup versuchte. Mich inspirierte das Beispiel eines poète chanteur, den uns Toulouse-Lautrec mit dem großen roten Schal und dem schwarzen Schlapphut malte: Aristide Bruant. Dieser Edel-Clochard schrieb um die Jahrhundertwende seine Argot-Lieder über Paris auch so, als sollte man sich aus ihnen einen Stadtplan zusammensetzen. Mit Hilfe dieser Chansons konnte der Liederdichter sich die ganze Stadt bequem in die Tasche stecken, und er hat es geschafft!
Als wir 1998 für dieses eine Jahr also nach Berlin umgezogen waren, konnte ich mit meiner angetrauten Liebe die ersten Monate nicht durch die Stadt laufen, ohne daß sie mir irgendein kleineres Haus zeigte, das zum Verkauf stand, oder eine große Wohnung für unsre vielköpfige Familie. Mag sein, ich wollte auch zurück in meinen Kiez, womöglich aus einer erloschenen Altgier. Sie jedenfalls wollte – mit einer brennenden Neugier – soo gerne für immer nach Berlin umziehn, wo ja bald, im neuen Jahrtausend, die europäische Musike spielen wird.
Das Motiv meiner „Hamburger Deern“ finde ich sympathisch: Sie war fest davon überzeugt, daß hinter der berühmten großen Berliner Schnauze auch ein großes Herz und ein größerer Verstand stehen müssen. Da ich in beiden Städten lange genug gelebt hatte, widersprach ich nicht. Inzwischen ist meine lebenskluge Schöne aus diesem holden Wahn erwacht, auch ohne meine lokalpatriotische Hamburgerei.
Im Grunde ist es -was’n Glück! – schon fast egal, wo wir wohnen. Die Musike, die ich meine, kommt sowieso aus meiner alten Weißgerber Gitarre. Kein Grenzwächter kann uns noch abschießen oder schikanieren, kein uniformierter Höllenhund kann mich noch beißen wie am 4. November 1989 im Bahnhof Friedrichstraße, als ich vergeblich versuchte, mit meiner Gitarre im Kasten zu dem Massenmeeting der Ostberliner auf den Alexanderplatz zu kommen. Nun wohnen wir also wieder im vertrauten Altona, mit einer Berliner Träne im Knopfloch, es geht mir dabei besser, als ich denke. Und der schnelle Zug zwischen Hamburg und Berlin braucht inzwischen nur noch gute zwei Stunden.

Sechzehn Jahre alt war ich, als ich freiwillig und alleine von meiner Vaterstadt Hamburg in mein Vaterland DDR ging.
Ich wechselte in den Osten, weil ich mit den Genossen der kommunistischen Avantgarde das lernen sollte, was mir der kapitalistische Klassenfeind im Westen nie und nimmer beibringen konnte: Wir wollten das Himmelreich auf die Erde zwingen. Wir wollten eine soziale Idyll ohne Klassen und Klassenkämpfe herbeikämpfen. Wir träumten von einer idealen Gesellschaft ohne Rassismus, ohne Heuchelei, ohn Ausbeutung, ohne jegliche Unterdrückung, ohne Gewalt. Wir spekulierten auf einen ewigen Frieden – die ganze Welt sollte reales Utopia werden. Obwohl ich schon ein junger Mann wurde, habe ich solch einen Kein-Ort-Nirgends mit kindlicher Gläubigkeit herbeigesehnt. Heilfroh bin ich darüber, daß ich dieses falsche Hoffen auf solch ein Narrenparadies nicht noch mit mir bis zum Grabe schleppen muß. Ach Berlin, du schrecklichet Doppelweib, ick mußte dir wieda valassen – und diesetmal freiwillich. Aba valassen kannste dir uff mir: Icke, ick werde imma zu die Träumer und Rebelln jehören, die die Jesellschaft umkrempeln, die den Drachn, der grade anne Macht is, in’ Rachen spuckn und ihm in’t falsche Herze kiekn und piesackn. Und dies saje ich dir int jespaltene Jesicht uff hochdeutsch: Ein politisches Schlaraffenland ohne antagonistische Widersprüche – wer so etwas anpreist oder gar mit Gewalt durchsetzen will, der ist in meinen Augen ein Menschenfeind. Paradies? – Nee Danke! Ein humaner Garten Eden, in dem der starke Löwe dem Schaf das Gras wegfrißt, wäre für alle Löwen, und – verflixte Logik! – sogar für alle Schäfchen eine Hölle. Das einstmals heilige Wort Kommunismus ist längst entheiligt, ist zertreten und millionenfach verblutet hinter Stacheldraht.Und ich fürchte solche zynischen Erben der stalinistischen Nomenklatura, die nach all den historischen Erfahrungen diesen eitlen Tierversuch am elenden Menschengeschlecht noch einmal machen möchten. Vierzig Jahre jung wurde ich grade, als Honecker, Mielke & Co. mich nach dem Konzert in der Kölner Sporthalle für immer und ewig aus dem Arbeiter- und Bauernparadies vertrieben. Heinrich Böll sagte in den aufgeregten Tagen im November 1976 in die Mikrophone der Medienmeute:

Wolf Biermann ist nun ein In-die-Heimat-Vertriebener.

Was wir so Heimat nennen, ändert sich, denn wir selbst ändern uns in einer sich ändernden Welt. So kann das lebendige Leben eine Kette von verschiedenen Heimaten sein. Berlin ist und bleibt für mich das wichtigste Stück in dieser langen Lebenskette – und die wird halten. Mir ist um mich und meine Lieben manchmal bange, aber um Dir, Baliin, jaar-nich! Die Muttersprache bleibt am Ende die stabilste Heimat. Aber auch die kann man verlieren.
Meine angeborene Heimat war der betörende Teergeruch des fischfauligen Wassers in den Kanälen im Hamburger Hafen, das war der Brandgeruch in flammenhellen Nächten im Feuersturm von Hammerbrook unter dem Bombenteppich der Alliierten.
Wir leben nun wieder in Hamburg. Und weil ich „… kehre, woher ich kam“, steht am Ende des Berlin-Buches mit all den neuen Liebes-und Spottliedern und urbanen Sittenbildern und polemischen Portraits auch ein einziger Text, der schon vorher in einem meiner Bücher erschienen war: „Die Ballade von der Elbe bei Hamburg“. Da liefere ich nämlich am Schluß ein Selbstbild, will sagen: ein typisches Steckbrief-Foto, an dem man mich sogar im Dunkeln leicht erkennt:

Durch allen Wandel bin und bleib ich auch mit weißem Bart
Gebranntes Kind, das neugierselig nach dem Feuer sucht

Ich schreibe dieses Nachwort in den Tagen nach dem Tod von Jürgen Fuchs. Nun haben seine sehr verschiedenen Freunde ihn auf dem Heidefriedhof in Berlin-Altmariendorf begraben, er liegt dort nicht wie ein Soldat in einer Gräberreihe, sondern an einem Wiesenhang.
Ich schrieb für den Toten ein kleines Gedicht über die riesigen Rapsfelder, die in diesen trüben Tagen blühn. Auch der Nachruf auf Fuchs gehört zwischen diese beiden Buchdeckel, denn Jürgen hat mich bei der Arbeit an all diesen Texten ermuntert und kritisch begleitet.

Wolf Biermann, Nachwort

 

Als Wolf Biermann

1997 für ein Jahr das heimische Hamburg-Altona mit Berlin vertauschte, entstand dieses einzigartige Buch über die neue Hauptstadt der Berliner Republik. Von hier hatten ihn die DDR-Oberen vertrieben, in Furcht vor seinen unbestechlichen Blick und seinem poetischen Furor. Jetzt kehrte er zurück, sich die Stadt mit den Mitteln der Poesie wieder anzueignen.
In Liebe und Zorn beobachtet, erzählt, kommentiert und streitet der Dichter. In wild-schönen, kräftig-deftigen Balladen und Moritaten, Liebesliedern und Spottversen entwirft er ein Paradies uff Erden, das auch mancherlei höllische Züge trägt. Und in seinen vielen Tonarten zeichnet er das quirlige Sittenbild einer Stadt, die in Umbruch und Aufbruch lebt.

Verlag Kiepenheuer und Witsch, Klappentext, 1999

 

DEUTSCHLAND-LIED
nach Wolf Biermann

Genossen, weit ham wir’s gebracht
Mit Deutschland, unsrer Mutter.
Im Osten ham wir Mist gemacht,
Im Westen ham wir Geld gemacht – und gute Butter.

aaaaaAch Deutschland, du verrückte Kuh,
aaaaaWer zog dir an den Drillich?
aaaaaDu gibst, mach ich die Augen zu,
aaaaaMir Tränen nur statt Millich.

Genossen, brennen tut mein Herz
Wie einem Sozialisten,
Denn ihr seht immer moskauwärts
Und lacht noch über meinen Schmerz – ihr ollen Stalinisten.

aaaaaAch Deutschland, du marode Kuh,
aaaaaWarum bist du so willich
aaaaaUnd ziehst dir an die Eisenschuh,
aaaaaTrägst Stacheldraht statt Zwillich?

Genossen, einmal kommt der Tag,
Da werd’t ihr euch bedanken,
Daß ihr den Biermann habt gehabt,
Der euch mit Liedern hat gelabt – und selten mit Gedanken.

aaaaaDann Deutschland, du geliebte Kuh,
aaaaaZiehn wir dir aus den Drillich
aaaaaUnd schenken dir zum Rendezvous
aaaaaEin Kleid aus Blut und Millich.

Manfred Bieler

 

SCHAMERFÜLLTER DICHTER

Daß der Wolf
Daß der Wolf Biermann
Daß der wortgewaltige Wolf Biermann
All sein Lebtag nichts zu Papier gebracht hat
Was sich dem vergleichen ließe, was dieser Spitzel
Was dieser gottverlassne Stasi-Spitzel in jener Nacht notierte:

„Wolf Biermann führte mit einer Dame
Geschlechtsverkehr durch.
Später erkundigt er sich,
ob sie Hunger hat.
Die Dame erklärt, daß sie gern
einen Konjak trinken würde.
Es ist Eva Hagen.
Danach ist Ruhe im Objekt.“

Daß das nicht schlecht sei
Daß das bei Gott ziemlich gut sei
Daß das verdammt noch mal besser sei als s.o. –:
Das denkt er, und er schämt sich.

Robert Gernhardt

 

 

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Evelyn Finger: „Im Paradies würde ich vor Langeweile sterben“
Die Zeit, 3.11.2011

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Andreas Öhler: Der Mensch ist sein Gott
Die Zeit, 10.11.2021

Robert Hottua: „Viel mehr erlebt als ich schreiben kann“ – Wolf Biermann wird 85
Tageblatt Lëtzebuerg, 14.11.2021

Martin Schulte: Interview zum 85. Geburtstag: Wolf Biermann und sein Glaube an die Menschen
Osnabrücker Zeitung, 14.11.2021

Salli Sallmann: Wie Wolf Biermann die DDR-Opposition geprägt hat
RBB, 15.11.2021

Andrej Hermlin: Ich denke an ihn mit Bewunderung
Berliner Zeitung, 15.11.2021

Lars Haider Interview mit Wolf Biermann: Ich war auf den Lockdwon trainiert
Hamburger Abendblatt, 15.11.2021

Laura Döing: Wolf Biermann: Der radikale Kritiker wird 85
DW, 15.11.2021

Marko Martin: Mentsch Wolf!
Jüdische Allgemeine, 15.11.2021

Stefan Grund Interview mit Wolf Biermann: Querdenker sind nicht quer, sondern verquer
Die Welt, 12.11.2021

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Biermann“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Biermann, der“.

 

 

Der Fall Biermann – die Geschichte von Wolf Biermann und der DDR.

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