Wolfgang Brenneisen: Zu Ernst Jandls Gedicht „Versenken“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ernst Jandls Gedicht „Versenken“ aus Ernst Jandl: selbstporträt des schachspielers als trinkende uhr. –

 

 

 

 

ERNST JANDL

Versenken

diese gedichte sind nicht zum laut lesen
sondern zum sich darein versenken
und die goschen zu halten was ein mund ist
wenn aber die galoschen nicht mehr dicht sind
kann ja in patschen man neben dem ofen sitzen
und sinnend das gedicht betrachten worauf
warme freude einkehren wird in das herz
des poesiefreundlichen stubenhockers
den der schnee nicht dazu verlocken kann
feuchte socken sich zu holen

 

Wolf im Schafspelz

Der Mann ist ein Nestbeschmutzer. Der Lyriker und ehemalige Gymnasialprofessor Ernst Jandl mißachtet die elementaren Anstandsregeln, die beim Umgang mit Gedichten üblich sind. Natürlich will sich der „geneigte Leser“ in Seelenverwandtschaft mit dem Dichter in das Gedicht „versenken“, aber so, daß er bei dem Versenkungsprozeß, der ihn, so hofft er, schon fast ins Reich der Mütter führt nicht unliebsam gestört wird. Genau das aber geschieht hier. Die eben begonnene Versenkung wird beinahe im selben Atemzug wieder verunmöglicht. Wer kann sich denn, wenn er das ordinäre Wort „goschen“ liest, noch so richtig versenken?
Der Mann ist ein unsicherer Kantonist. Auf die Wortsteine, die er hinstellt, kann man nicht bauen. 1966 erschien sein erster wichtiger Gedichtband Laut und Luise, der in der Hauptsache Gedichte enthielt, die Ende der fünfziger Jahre entstanden waren. Der Mann wirkte als gehobener Spaßmacher, einfallsreicher Wortspieler, (auf der Schallplatte) als knorriger Sprecher und Interpret seiner Gedichte, die gelegentlich auch mit dem starken Tobak beißender Gesellschafts- und Zeitkritik gewürzt waren. Aber solche Prisen erhöhen ja den Genußwert. Jandl war und ist ein beliebter, dankbarer Unterrichtsgegenstand in der Schule. Wenn die Lyrik bei den Kids nicht mehr anzukommen droht, läßt sich mit jandlschen Gedichten wieder glucksendes Wohlwollen erzielen.
Und nun, im neudeutschen Sprachgebrauch, der Hammer: Ernst Jandl setzt uns in seinem Band selbstporträt des schachspielers als trinkende uhr Gedichte vor, bei denen wir die „goschen“ halten sollen. Das kommt doch einer Kastration gleich, damit sind die poetischen Gebilde ihres Besten beraubt. Jandls Gedichte drängen dazu, in die „goschen“ genommen zu werden.
Der Mann ist ein Wolf im Schafspelz. Er sagt das eine, meint aber das andere. Die Jandlschen Gedichte sind nämlich denkbar ungeeignet „zum sich darein versenken“, und das weiß dieser perfide Ratgeber. Er ist kein Freund der Versenkungslyrik, die keineswegs mit Geibel, Rilke oder George in eine verstaubte Vergangenheit abgedriftet ist. Es gibt nämlich in unserer Zeit eine spezifische Variante des lyrischen Versenkungskults. Der Lyriker möge zwei Teile dunkler Andeutungen mit einem Teil zeitgemäßer, opportuner Betroffenheit mischen – damit wird er unweigerlich die Sympathie „des poesiefreundlichen stubenhockers“ gewinnen. Dergestalt mit dem süßen Manna tiefsinniger Worte bedient, findet der Leser seine Selbstverwirklichung unter der Käseglocke der Versenkung. Seine „galoschen“, also die Überschuhe, braucht er nicht mehr, um in den Schnee, also in die Außenwelt, in die rauhe, trügerische Wirklichkeit hinauszugehen. Ein gemütliches Dahocken in den „patschen“, den Hausschuhen, genügt vollauf. Poesie als Opium für den gebildeten Konsumenten.
Es muß befürchtet werden, daß Ernst Jandl gerade dieses zarte Gedicht öffentlich und mit knarrender Stimme vorgetragen und somit entweiht hat. Der Mann ist und bleibt ein Ärgernis.

Wolfgang Brenneisen, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunzehnter Band, Insel Verlag, 1996

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