Wolfgang Schlenker: alias augen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wolfgang Schlenker: alias augen

Schlenker-alias augen

BEWEGLICHE ZIELE (PLAYBACK SECHS)

wo der wind hinkt
zwischen den schienen
wo die spanndrähte zittern
im dritten stock
wo man nicht umhinkommt
die treppen zu benutzen
die türen zu schließen
(die stockwerke voneinander zu grüßen)
zwischen jedermanns und niemandsland
warschauer brücken
invalidenstraßen
checkpoint charlies
sind es es nur kleine entfernungen
(einfache erfahrungen aus zweiter hand)

dort auf der brücke
dort über die straße
zu den treppenhäusern
wo es schiefgeht
ohne überzeugung ohne übergang
(werden die letzten schritte beschwerlich)
wo der wind hinkt
im blütenstaub der möglichkeiten
in der ungeformten enge
zu ende kommt
(es ist nicht so wie es sein sollte)
durch die unterführungen schlingert
nicht blind nicht taub
gerade dorthin gehen.

 

 

 

Schon oft ist in der Not etwas erfunden worden,

wenn einer über den Inhalt eines Lyrikbandes reden sollte. Was aber soll man auch über einen Gedichtband sagen, der noch so gefuchst und festgefügt ist wie der von Wolfgang Schlenker – daß er kunstvoll sei, solide?

Wer das triviale, direkte bevorzugt, wer Slam, Trash und Social Beat sucht, wo auch Schlenker manchmal zugemeindet wurde, wird diese Texte vielleicht für etwas blutarm halten, sie mögen ihm staubig, fossil oder gemeißelt erscheinen. Doch wozu brauchen Fossilien Blut. Wozu brauchen Statuen Blut. Die einen, die ihr längst substituiertes Dasein in der bloßen Form verlängern. Während die anderen über ihre täuschend echte Gestalt scheinen ein Leben sich erst verschaffen zu wollen.

Auf so zweifach rätselhafte Weise existieren auch die Texte Wolfgang Schlenkers. Mal wirken sie wie sorgsam aufbewahrte Relikte einer verblaßten Zeit oder vergangenen Lebens, mal, als entstammten sie nicht dieser Welt und als bedienten sie sich nur unseres Blicks, um in diesem Moment erst lebendig zu werden.

Wenngleich Wolfgang Schlenker diesen neuen Gedichtband mit seinen Fugen und Intermezzi, Partituren und Improvisationen, seinen Liedern und seiner Folklore dem Gehör widmete, so hat er dessen Zeilen doch dem Ohr nicht unbedingt entliehen, und er spart auch wahrlich nicht mit Bildern. Vielleicht versucht er auf diesem phonetischem Erfahrungsweg, im dunklen Gang entlang der großen Ohrentreppe sozusagen, den tropischen Täuschungen zu entgehen, weil er als Mann des Wortes seinen Augen nicht traut und weil er um die buchstäbliche Farce der Bilder ebenso weiß, wie er ihnen gleichermaßen erlegen ist.

Und obwohl seine Texte so dezidiert erscheinen, als seien sie Produkt reinen Geistes, offenbart gerade hier die lyrische Betrachtung ihre Überlegenheit, indem sie sich in etwas Unersetzbares verwandelt. Als wollte er uns eine Geschichte erzählen, uns aber nicht aufhalten mit den Nebensächlichkeiten ihrer Sachverhalte, läßt er Szenen einer tragikomischen, zerstreuten und trutzigen Alltagswelt an unserem Auge vorbeiziehen, wie ein den Tagebüchern entrissener August, in dem keiner sich selbst erkennt, so wirklich wird alles um ihn herum.

Die unmittelbare bildhafte Sprache, die Methode des Abfilmens und Schneidens dieser Bilder, offenbart sich auf einer unsichtbaren, aber darum auch unantastbaren Ebene, als Gottes-Blick, wie er uns durchs Mikroskop beobachtet; unser Zucken auf der Lamelle.

Sir, Druckhaus Galrev, Programmheft, 1997

 

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