Wolfgang Schneider: Zu Theodor Kramers Gedicht „Der reiche Sommer“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Theodor Kramers Gedicht „Der reiche Sommer“ aus Theodor Kramer: Gesammelte Gedichte in 3 Bänden. Band I. 

 

 

 

 

THEODOR KRAMER

Der reiche Sommer

Sie lagen zu zweit über Mittag im Sand
vor der staubigen Jutefabrik;
lose saß um die Hüften ihr Leinengewand
und die Sonne beschien ihr Genick.
Längst schon hatte der Staub, der aus Faser und Sack
stieg, die Lungen zur Gänze durchsetzt;
und sie fühlten sich oft schon vom süßen Geschmack
ihres eigenen Blutes benetzt.

Und sie tunkten ihr Brot in den Milchtopf, den Stich
in der Lunge verhielten sie gern;
denn sie wußten: sie hatten den Sommer vor sich
und der rasselnde Herbst war noch fern.
Rein und blau war die Zeit und die Luft roch nach Seim,
nicht allein ihre Haut schien geschält;
sie erzählten sich Dinge von einst, von daheim,
die sie bisher noch keinem erzählt.

Und es dünkte zu Mittag ihr eigenes Wort
Tag für Tag sie erstaunlich und weich;
noch war keine der roten Begonien verdorrt,
und bemalt war das Leben und reich.
Reich war alles: der Sand und das Gras und das Wehn
und die strahlende Glut im Genick;
und sie hörten verschattet die Spindeln sich drehn
in der staubigen Jutefabrik.

 

Die Lungen der Verliebten

Liebe und Tod, Glück des Sommers und rasselnder Herbst, Schönheit und Verschandelung der Natur, industrielle Ausbeutung und Lebensfreude – Theodor Kramers Gedicht führt auf buchstäblich atemberaubende Weise Kontraste und Gegensätze zusammen. „Und sie hörten verschattet die Spindeln sich drehn / in der staubigen Jutefabrik“ – das ist Literatur der Arbeitswelt und zugleich große, mythisch aufgeladene Poesie. Wer würde bei diesen Versen, geprägt von einer dunklen, abwärts führenden Melodie, nicht an die Parzen denken, die den Lebensfaden spinnen, zumessen und abschneiden?
Kramers Gedichte haben oft den Zug ins Balladenhafte. Eine Geschichte wird angedeutet. So auch hier – sie auszubuchstabieren, in ihrer Spannung zwischen dem Glück der Liebenden und dem Skandal der Verhältnisse bleibt dem Leser überlassen. Geboren 1897 in Österreich, debütierte Kramer 1928 mit dem Gedichtband Die Gaunerzinke. Wenige Jahre später standen seine Werke auf der „Liste des unerwünschten und schädlichen Schrifttums“. Es folgten die Leiden des Exils. Kramer war Jude ohne Religion, Heimatdichter fern des Blut-und-Boden-Kitsches, Sozialist ohne Willen zur Propaganda – ein Mann zwischen den Stühlen. Um 1930 aber war er einer der meistgedruckten Autoren des deutschen Feuilletons. Aus dieser Zeit stammt das Gedicht, das genau datiert ist: 12. April 1930. Verse mitten aus der Wirtschaftskrise also. Wer noch Arbeit hatte, konnte sich „reich“ fühlen.
12.000 Gedichte hat Kramer geschrieben. Vieles davon ist Routinepoesie. Auch in diesem Gedicht ist nicht alles perfekt. Kann etwas von Geschmack „benetzt“ sein? Wohl nur dann, wenn es sich auf „durchsetzt“ reimen muss. Auch die Formulierung „die Sonne beschien ihr Genick“ verdankt sich offenbar der Absicht, einen schnellen Reim auf die „Jutefabrik“ zu finden. Aber es ergibt sich ein suggestiver Mehrwert. Im Kontext der Todessymbolik bekommt das Wort „Genick“ einen bedrohlichen Unterton; an die Guillotine könnte man denken oder an den Genickschuss.
Während viele Dichter das Lyrische abseits des Alltags suchten, machte Kramer das Prosaische poetisch, das Beiläufige, Naheliegende und gerade deshalb oft Übersehene. So wurde er auch zu einem frühen Chronisten der Umweltzerstörung, der von vergifteten Wäldern und sterbenden, zu Fahrrinnen verwandelten Flüssen dichtete. Und von den Silikose-Lungen der Arbeiter in der Jutefabrik. Bei aller Nüchternheit war Kramer allerdings kein Vertreter jener Spielart von „Neuer Sachlichkeit“, die das Gefühl wegamputiert und ironisch mit den Stummeln winkt. Immer gab er in seinen Versen Empfindlichkeit, Verletzbarkeit und eine kaum je zu sättigende Liebesbedürftigkeit zu erkennen, auch wenn er Rollengedichte von Arbeitern, Vagabunden und Parias schrieb.
Zur Wirkung des Textes trägt die hohe Musikalität der Sprache bei. Das Metrum ist vom Daktylus bestimmt, der mit seiner dreivierteltaktartigen Abfolge von einer betonten und zwei unbetonten Silben besonders fließend wirkt. Dank der männlichen Versschlüsse ergeben sich kaum Brüche im Versmaß: Ohne Unterbrechung füßelt dieser Liebestodeswalzer dahin. Zur Sprachmusik gehören auch die Alliterationen („Glut im Genick“) sowie der häufige Einsatz der Konjunktion „und“ – seit der Bibel die zuverlässige Art, große, elementare Gefühle zu inszenieren. Kramer erhöht die Dosis systematisch. In der ersten Strophe kommt „und“ dreimal, in der zweiten viermal, in der dritten dann achtmal vor. Überhaupt arbeitet er bei den Grundworten („Mittag“, „Genick“, „Jutefabrik“) mit Wiederholungseffekten, die dem Gedicht Rundung verleihen. Wie der Faden um die Spindel dreht sich die letzte Strophe gleichsam um das verdoppelte Adjektiv „reich“. Es erscheint provozierend angesichts der Dürftigkeit der Szenerie und der kargen landschaftlichen Reize: Sand, Gras, ein paar Blumen, dazu das Wehen des Windes. Und trotzdem wird es nicht durch die „Wahrheit“ der Schinderei und der Krankheit widerlegt.
Kramer suchte die Poesie des Plebejischen. Aber er schrieb nicht für die Partei, sondern aus Parteinahme – für die Menschen am Rand, „die ohne Stimme sind“. Damit fand er wenig Freunde auf Seiten der politischen Linken: Da kam es mehr auf die Gesinnung als auf virtuose Einfühlung an. Der Sinnenfreund Kramer war jedoch nicht geschaffen für die Vertröstung auf die hängenden Gärten der sozialistischen Utopie. Ihn interessierte der Mensch, wie er ist, in seinen Widersprüchen und seinem schwankenden Kurs zwischen Liebe und Tod. Ihn reizten nicht kommende Paradiese, sondern die, die hier und heute zu haben sind, wenn auch nur für ein paar Stunden oder einen einzigen reichen Sommer.

Wolfgang Schneideraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierunddreißigster Band, Insel Verlag, 2011

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