Wolfram Malte Fues: Zu Kuno Raebers Gedicht „Zikade“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Kuno Raebers Gedicht „Zikade“ aus dem Band: Kuno Raeber: Werke in 5 Bänden, Band 1. –

 

 

 

 

KUNO RAEBER

Zikade

Einst bleibt
von mir nur noch die Stimme.
Du wirst mich in allen
Zimmern suchen,
auf den Treppen, in den langen
Fluren, in den Gärten,
du wirst mich suchen im Keller,
du wirst mich suchen unter den Treppen.
Einst wirst du mich suchen.
Und überall wirst du nur meine Stimme
hören, meine hoch monoton
singende Stimme, überall wird
sie dich treffen, überall
wird sie dich foppen, in allen
Zimmern, auf den Treppen, in den langen
Fluren, in den Gärten, im Keller,
unter den Treppen. Einst
wirst du mich suchen. Einst
bleibt von mir nur noch die Stimme.1

 

Ut vox poiesis. Über ein Gedicht Kuno Raebers

Sein Werk scheint immer noch ein „weitgehend unerschlossenes Massiv in der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“2 vorzustellen, die Gipfelpunkte seiner Lyrik nicht ausgenommen. Zu einem solchen Gipfelpunkt wollen wir uns nun aufmachen.

Ein vorgegebenes Schema ist nicht zu erkennen. Freie Verse, durchgängig trochäisch, unter häufiger Verwendung des Spondeus und weniger häufig daktylischer Einsprengsel. Die Verse 2, 9 und 18 lassen sich, wenn man will, als Jonicus a maiore lesen, was bei 19 Versen insgesamt ein Gliederungs-Prinzip abgäbe. Die eigentümliche Echo-Struktur des Gedichts, von der noch zu reden sein wird, erzeugt zahlreiche identische Reime quer über alle Zeilen, die aber nur in einem Fall, in den Versen 17 und 18, auch als Reim auffallen. Phonologisch dominieren die spitzen Vokale e/i/o, während die runden a/u in der Minderheit sind, aber symphonisch genau kalkulierte Positionen besetzen. Der Dipthong ei bildet die Leitmelodie, während im Titelwort der spitzeste und der rundeste, der höchst und der zweittiefst klingende Vokal aufeinander treffen. Darauf werden wie noch zurückkommen.
Das Gedicht begrenzt sein Wortmaterial eng. Fünf Substantive: Zimmer, Treppen, Fluren, Gärten, Keller. Fünf Verben: bleiben, suchen, hören, treffen, foppen. Über diese zweimal fünf Wörter disponieren zwei Leitworte: das Substantiv Stimme und das Zeitadverb einst. Aus diesem kargen Bestand fügt sich das Gedicht unter Beizug einiger weniger syntaktischer Hilfsmittel so zusammen, dass es sich um die Symmetrie-Achse von Vers 9 in sich selber spiegelt und reflektiert, nicht in identischer, aber in analoger Wiederholung. Seine Stimme spricht in und mit ihrem eigentümlichen Echo, das sie nicht bloß nachahmt, sondern ihr antwortet.
Einst, sagt diese Stimme, wirst du mich suchen. Du, Leserin, Du, Leser. Mich, real wie ideal. Du wirst, paralogisch3, wie das lebendige Bewusstsein nun einmal ist, an mir und hinter mir das Subjekt, die Person suchen, von der du glaubst, dass sie mich hervorbringen, tragen, be-stimmen muss, ohne die es mich deiner Meinung nach nicht geben kann. Du wirst jedoch auf deiner Suche nichts weiter finden als mich, die dir sagt, dass es ausser mir nichts gibt, was du finden könntest, während du, wie es dem paralogischen Denken eigentümlich ist, nicht aufhören wirst, eben danach zu suchen. „Einst bleibt / von mir nur noch die Stimme.“ Einst? Adverbialer Genitiv zu ‚ein‘, also: des (jeweils) einen, zum (je) einen Mal. Jedes Mal, Leserin, Leser, jedes jederzeit mögliche eine und einzige Mal, wenn du dich mir, dem Gedicht, zuwendest, wirst du mich suchen, und nicht finden, wonach du suchst, aber finden, wonach du ursprünglich und anfänglich immer schon gesucht hast: die Stimme, die in der eigentümlichen Doppeldeutigkeit lyrischen Sprechens den Anschein eines personalen Subjekts ebenso erzeugt wie zerstört.
„Einst bleibt von mir / nur noch die Stimme.“ Was für eine Stimme? Sie moduliert sich, wie wir bereits wissen, in einem analogen Echo-Effekt; sie ist in dem und um deinen Wohnort, Leserin, Leser, überall zu hören:

in allen Zimmern

auf den Treppen, in den langen
Fluren, in den Gärten
… im Keller.

Sie be-trifft den, der sie hört, weil sie überall ist, weil sie keinen Raum leer lässt, und sie foppt ihn, weil sie sich ständig wiederholt, aber eben darin von sich abweicht, so dass sie sich treu bleibt in dem, was sie mitteilt, aber sich darin zugleich an ihr Anderswerden verrät. Notwendigkeit und Möglichkeit sind für ihre Wirklichkeit keine Gegensätze, sondern dialoge Ergänzung. Und wie klingt diese Stimme? Wie diejenige, die Vitruv die „gebogene Stimme“ nennt, die in jeden Echo-Raum ab- und einbiegende. Sie „verweilt weder in bestimmten Tongrenzen, noch an irgendeiner Stelle, und lässt auch Anfang und Ende nicht wahrnehmbar, wohl aber das, was zwischen diesen liegt, vernehmlich werden, wie wenn wir im Gespräche sagen: Mond […], Strom, Ton“4, mit den Worten des Gedichts: „hoch monoton“. Diese Stimme kennt weder Anfang noch Ende. Sie ist in jedem ihrer Wortlaute rein eins mit sich, ihrer so gegenwärtig, dass ihre Vergangenheit und ihre Zukunft darin aufgehoben sind. Aber während sie so bei sich und in sich bleibt, geht sie – „hoch monoton“ – vollkommen in ihren anderen Wortlaut über, so vollkommen, dass ihre vorherigen und nachherigen an ihm rein nichtig werden. Die Treppen machen die Zimmer vergessen, die Fluren die Treppen, die Gärten die Fluren (sogar im doppelten Sinn). Aber alle sind in ihrem Vergessen anwesend und mitzeitig.
Diese Stimme, die das Gedicht zum Singen bringt, fasziniert und irritiert zugleich. In ihren Tönen klingt das Nächstliegende an das Fernstliegende, das Vergangenste an das Zukünftigste.5 Ihre ebenso einfache wie mannigfaltige Monotonie beunruhigt. Sie treibt unwillkürlich zur Suche nach einem Klang, der sie endgültig mit sich in Überein-Stimmung bringt, der sie begründet und somit zu einem Tonsystem ordnet. Wer sie hört, wünscht sich für sie einen Ursprung, auf den man sich berufen kann, um sie zu rufen und zu erkennen. Wenn diese Stimme wirklich so tönt, wie wir sie oben beschrieben haben, wenn es nichts Verlautbares gibt, was nicht in ihr aufgehoben wäre, dann ist diese Suche ebenso töricht wie vergeblich. Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.6 Die Grenzen meiner Stimme sind die Grenzen meiner Sprache. Sie lassen sich verschieben, aber nicht überspringen. Stimme und Sprache haben kein Jenseits. Oder doch?
„Einst bleibt / von mir nur noch die Stimme.“ Was ist das für ein Ich, das nur noch Stimme ist? Woraus und wodurch besteht diese Stimme, die überall ist, wo das Du hingelangt, die dem Ich des Gedichts wie dem Ich seiner LeserInnen zuvorkommt, wohin immer sie auch gelangen? Welche Stimme hören wir denn überall und immer, wenn wir irgendwo irgendwann die Frage formulieren, was wir jetzt eben hören, sehen, schmecken, fühlen, riechen? Die einsetzt, wenn wir etwas aus- oder jemanden anzusprechen versuchen? Deren Lautfolgen den Ort und das Medium bilden, an und in dem sich das Aggregat der realen Wahrnehmung in die Struktur der symbolischen Sprach-Zeichen umwandelt? „Die Stimme  i s t  das Bewusstsein.“7 Dieses Bewusst-Sein unterscheidet sich vom blossen Sein durch seine absolute Selbst-Gegenwart, sein uneingeschränktes Sich-selbst-Vernehmen, in dem jede Vorstellung, jeder Begriff, jedes Konzept in völliger Sich-selbst-Gleichheit wieder geholt, wiederholt werden kann, weil keines von ihnen der räumlichen und zeitlichen Verschiedenheit unterliegt, von der die Realität des Sinnenlebens bestimmt wird. Jedes Moment dieser Realität, das sich derart von Sein zu Bewusst-Sein wandelt, wird in die einfache und totale Idealität der „singende[n] Stimme“ aufgehoben, wo es eine Lautfolge unter allen anderen bildet, gleichzeitig, gleich berechtigt, gleich berufbar. Die „singende Stimme“ in unserem Gedicht tönt aber zugleich „hoch monoton“, die Parallelität spitzer Vokale verdoppelt, verstärkt und verstetigt sie.8 Hebt demnach diese immer mit der gleichen Spannung9, im immer gleichen Atem tönende Stimme die Momente des Realen nicht nur auf, sondern lässt sie in Ein-Tönigkeit zergehen und verschwinden, so dass vom Bewusst-Sein nur noch die einfach unmittelbare Sphäre des Wissens, des Selbst-Lauts bleibt, ohne jede weitere Bestimmung? Das Ich als Subjekt des Bewusstseins formiert sich, indem es zwischen den dort aufgehobenen Momenten der Realität seine Wahl trifft,  d i e  Stimme zu  s e i n e r  Stimme macht und sich durch die Geschichte seines Wählens individuiert. Demgegenüber scheint die „hoch monoton / singende Stimme“ unseres Gedichts diejenige des lyrischen Ichs überhaupt zu intonieren, die Stimme des leeren Bewusstseins, die alle ihr möglichen Inhalte ebenso aufhebt wie aufzehrt, ebenso bewährt wie verleugnet. Dass sie damit im Ton der transzendentalen Bedingung von Ich-Bildung und Individuation spricht, die sie jedem, der ihr zuhört, zu seinem besonderen Gebrauch zur Verfügung stellt, macht sie so begehrenswert, so anziehend: „Einst / wirst du mich suchen.“ Einmal und einmal und einmal, schlechthin jetzt, mit jedem Vers wieder von neuem beginnend, wie das trochäische Mass anzeigt.
Während die „hoch monoton / singende Stimme“ unseres Gedichts alle Differenz und damit alle Realität in sich aufhebt und in sich (ver)zehrt, macht sie sich von eben dieser Realität und ihrer Differenz zugleich abhängig. Sie erklingt nur „in allen / Zimmern, auf den Treppen, in den langen / Fluren, in den Gärten, im Keller, / unter den Treppen“. Sie bewohnt verschiedene Räume, aus deren Verschiedenheit sie hervorgeht, ohne darin ihre Monotonie einzubüssen. Das Begründende hinterlässt im Begründeten eine Spur, die vom Begründeten weg zum Begründenden hinführt und es erst in diesem Hinweis gegenwärtig macht, während es im Begründeten seine Abwesenheit bestätigt. So verbindet das Gedicht die einfache Idealität seiner Ich-Stimme mit der mehrfachen Realität seines Schrift-Zeichen-Raumes. Es stimmt der „Erniedrigung der Schrift“, der „Verdrängung der Schrift aus dem ‚erfüllten‘ gesprochenen Wort“10nicht zu. Ebenso wenig aber auch jeglicher Überhöhung der Schrift zum ursprünglichen Inbegriff von Sprache, jeglicher Verdrängung des gesprochenen Worts in seiner einfachen Idealität zugunsten der gegliederten Realität der Schrift. Es hält eine Mitte zwischen Stimme und Schrift, die diesseits und jenseits von Vermittlung und Verschiedenheit gleich gegenwärtig bleibt. „Überall wird / sie dich treffen, überall / wird sie dich foppen…“
Last but not least: Wir wollen ihn nicht ausser acht lassen – den Titel „Zikade“. In der Anthologia Graeca, der umfassenden Sammlung griechischer Epigramme vor allem aus der Zeit des Hellenismus, tritt sie mehrere Male auf:

Auch auf der Lanze der schönbehelmten Athene
wirst du, Mann, mich, die Zikade, sitzen sehen.
Wie ich nämlich von den Musen geliebt werde, so sehr wird Athene
von mir geliebt. Denn die Jungfrau ist die Erfinderin der Flöte.11

Deshalb muss sie, wenn sie sich in einem Spinnennetz fängt, daraus befreit werden:

„Sei gerettet, die du mit Musenklang singst.“12

Das tut sie. Als in einem musikalischen Wettstreit einem der beiden Bewerber um den Siegeskranz eine Saite an der Phorminx, der Vorläuferin der Kithara, zerspringt, „setzte sich, lieblich zirpend, auf die Phorminx eine Zikade / und ersetzte den Ton der verendeten Saite.“13 Die Zikade gilt der griechischen Antike offenbar als mythologisches Tier.

Man sagt nämlich, diese wären Menschen gewesen von denen vor der Zeit der Musen. Als aber diese erzeugt worden und der Gesang erschienen sei, seien einige von den damaligen so entzückt worden von dieser Lust, dass sie singend Speise und Trank vergessen und so unvermerkt gestorben wären. Aus welchen nun seitdem das Geschlecht der Zikaden entsteht, mit dieser Gabe von den Musen ausgestattet, dass sie von Geburt an keiner Nahrung bedürfen, sondern ohne Speise und Trank sogleich singen, bis sie sterben.14

Die Stimme der Zikade gibt der Stimme der Poesie ursprünglich einen Körper, von dem sie Besitz nimmt, um ihn zu entgegenwärtigen. Wer sie annimmt, nimmt nichts anderes mehr wahr als ihren Klang und verliert über dessen Bedeuten alle übrige Bedeutung. Wer sich zu ihrem Autor-Subjekt zu machen trachtet, erfährt, dass sie ihn zu ihrem Subjekt macht und alle Autorschaft aus sich und durch sich selber erzeugt. Sie löscht jeder andersartige Assonanz und Resonanz aus, zuletzt auch die Konsonanz mit ihrem Träger als ihrem scheinbaren Instrument. Die Stimme jedoch überlebt; sie lebt aus dieser ihrer Monotonie.15 „Einst / bleibt von mir nur noch die Stimme.“ Einmal ursprünglich, einmal zukünftig.
Unser Gedicht orientiert sich an diesem mythologischen Modell, aber es folgt ihm nicht gänzlich. Die Zikaden des Phaidros waren Menschen, die an der Begeisterung für die Poesie gestorben sind, um sich in reine Poesie zu verwandeln und nach ihrem Tod in Menschenart „zu den Musen kommen und ihnen verkündigen, wer hier jede von ihnen verehrt“16. Die Zikaden-Stimme hebt die Menschen-Stimme in sich auf, die Menschen-Stimme die Zikaden-Stimme. Die mythische Logik kennt weder Anfang noch Ende, weder Geburt noch Tod, weder Vergangenheit noch Zukunft; sie kennt nur die einfach vielgestaltige Gegenwart der Verwandlung.17 Ihr fehlt folglich jede Kenntnis der Differenz, der Negation18, des nur mit Anstrengung zu erreichenden Vergangenen und Zukünftigen, deshalb auch jeglicher Be-Griff des Suchens und Fangens, wie ihn die Wissens-Logik des Jägers und seiner Beute, des Subjekts und seines Objekts, des Bewusst-Seins und seines Seins kennzeichnet.19 „Einst / wirst du mich suchen“, kann die Poesie-Stimme der Zikade sagen, weil sie ihre Zeit in verschiedene Jetzt aufzuteilen und damit ein Du in die Tätigkeit des Begreifens zu setzen vermag. Die Poesie-Stimme der Zikaden müsste hingegen sagen: Du irrst dich, wenn du meinst, mich suchen zu müssen. Ich werde dich immer schon gefunden haben. „Einst bleibt / von mir nur noch die Stimme“, weiss die Zikade unseres Gedichts, dann, wenn sie als lyrisches Ich alles Anderssein, alles Reale in sich aufgehoben und aufgelöst hat. Die Zikaden wissen nichts von Vergehen und Bleiben. Sie sind das, was ist, als Stimme, und darin ist die Stimme alles, was ist. Die Poesie-Stimme unseres Gedichts kehrt, wie wir gesehen haben, ins Reale zurück, aber sie richtet sich dort nicht ein. Sie bleibt fremd, „hoch monoton“ in beharrlicher Eintönigkeit und Einfachheit. „In allen / Zimmern, auf den Treppen, in den langen / Fluren, in den Gärten, im Keller, / unter den Treppen“ trifft sie überall zu, aber eben darin foppt sie, täuscht sie eine Begreiflichkeit vor, aus der sie kommt und von der sich ihre Gegenwart abwendet. Klingt in dieser wahrhaftigen Täuschung nicht die Stimme der Zikaden wieder auf und mit? Zum komplementären Klang entscheidender Unentschiedenheit zwischen mythischer Logik und Wissens-Logik?

Wolfram Malte Fues, aus Text + Kritik Heft 209, edition text+kritik, 2016

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