Wulf Kirsten: fliehende ansicht

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wulf Kirsten: fliehende ansicht

Kirsten-fliehende ansicht

GLEICHBERG IM SCHNEESTURM

auf die fliehburg hinaufsteigen,
wo die kelten hinterließen,
was habgierigen grabräubern
in die beuteerpichten augen sticht,
alles, was sich verscherbeln läßt.

unterwegs mit Graupenhaus-Gerlach,
zwei wanderer bergauf im geplöder,
ich von heimkehrermütze geschützt,
hasenfell an bändern bei sturm
und schnee ausgesprochen zweckdienlich.

hier oben stand er, hofmeister Hölderlin,
zu diensten in Waltershausen nahebei,
und sah sich auf dem Olymp, wie er
so um sich blickte und dachte sich
Deutschland im großen und ganzen.

seither läßt kaum einer, dem die gedichte
reichlich ab-, also nie ausgehen,
den ruhmbedeckten berg unbestiegen,
nur die Novak sah ihn von drüben
über landminen und stacheldraht weg.

nun auch ich bei schneesturm unterwegs
mit Gerlach, begnadetem fußgänger,
nicht nur im Grabfeld, der wußte,
wie basalt gespellt und per seilbahn
gen Römhild zu tale gehievt wurde.

am bergfuß mitten im schlamm werkte
eremit Gundelwein in seiner darre,
ein panjepferdchen samt wagen
hielt die verbindung zur welt,
bis der tod ihn seiner einsamkeit entband.

wie nur kam Streubel in diese wildnis,
wo nachts die scheuchegeister rumorten?
an gespenster wollt er nicht glauben,
aber die marder, die sich hausbesitzer
wähnten, schlugen ihn in die flucht.

mit Gerlach hinaufgestiegen auf den Olymp,
schneeverhangen, peregrinisch erprobtes
gespann, wir sahn rundum das offne gelände,
das uns eins galt, gespalten,
feindselig gab sich der weltrand.

 

 

 

Beinahe verlorene Worte,

im Werk von Wulf Kirsten haben sie ihren Platz. Sinnlichkeit und Klarheit, in seinen Gedichten finden sie ihren Ausdruck. Leise und doch so unmittelbar und unausweichlich entfalten sich Landschaftsszenen, Kindheitserinnerungen und Dichterporträts. Kirsten erweist sich in jedem Text als aufmerksamer Beobachter, eloquenter Formulierer und kluger Analyst. Seine Betrachtungen sind politisch, literarisch und historisch verortet, seine Worte von feinem Witz getragen.

S. Fischer Verlag, Klappentext, 2012

 

Herzerfrischend junges Alterswerk

– 60 neue Gedichte vom „erdenbürger“ Wulf Kirsten. –

Nachdem Wulf Kirsten, geboren in Klipphausen bei Meißen, 50 Jahre hoch dotierte Dichtkunst betrieben hatte, wurde 2004 einem seiner Gedichtbände das allererste Mal ein Lesebändchen zuteil, es war grün und befand sich im über 400-Seiten-Buch erdlebenbilder, herausgebracht von dem inzwischen im Ruhestand weilenden Ammann Verlag zum 70. Geburtstag des Lyrikers. Jetzt ist Wulf Kirsten der Verlagswechsel derart gut gelungen, daß er zu seiner eigenen Überraschung und der seiner Leser ein Buch vorlegen kann mit 60 nagelneuen Gedichten und neuerlichem, dieses Mal blauem Lesebändchen. Wer diesen Versen abliest, Kirsten sei sich treu geblieben, trifft nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte zeigt einen Dichter, der sich neu erfunden hat. Einerseits ist da der gewohnte Landschafter, der unbeirrt pirscht durch Mulm, Dörnicht und „sömmerisch bewachsne gründe“, der unverdrossen stromert über „verstrauchte“ oder „abdächige wiesen“, über „staubichte schluchtwiesen“ oder „waldumfangene wiesenpläne“. Andererseits, und das ist neu, münden die Landschaftsworte, die eingesammelten, aufgehobenen  Wörter öfter und kräftiger als früher in heiligen Zorn. Nicht nur wohl gesetzte Metaphern als Huldigungen der Vergänglichkeit werden dargebracht, sondern auch herzhafte Schimpfkanonaden auf zeitgenössische Unsitten abgefeuert. Beißender Spott richtet sich gegen kommunale Vandalen: „kanalräumerlehre abgebrochen wegen geistiger überanstrengung… von einer veritablen ausdrucksarmut geschlagen“ und gegen Geschichtsneurotiker: 

Napolensyndrom freigestellt
minderwertigkeitskomplexe kompensiert
mit dem größenwahn von maulhelden

Sogar die Kanzlerin bekommt ihren Vers weg: 

einmalig diese verlegenheits-
geste, wie sie ihre mundwinkel
so unnachahmlich gekonnt
nach unten zu korrigieren versteht

All das gipfelt in dem Gedicht „tirade“, das zwar E.T.A. Hoffmann und Bamberg zugeschrieben ist, aber auch den Autor selbst in wohlbekannt anderer Kleinstadt einbezieht: 

nichtswürdig eingeschachtelt, marterjahre
unter hundsföttischen lakaien, abgöttisch
verachtet, hofnarr in einem schmierentheater

Überhaupt nimmt Weimar beträchtlichen Raum ein, als „stadt im kessel“ taucht sie auf mit ihren Verwerfungen und dem geschichtsbeladenen Ettersberg, der freien Bürgern heutzutage wenig bedeutet, Hauptsache ihre „kraftfahrzeuge brettern die Blutstraße lang“. Nahezu unschlagbar ist Wulf Kirsten, wenn er sich selbstironisch porträtiert als „der junge, der ich war“ und in seine dörfliche Kindheit als doppeldeutiger „erdenbürger“ zurückkehrt: 

junge, was soll bloß aus dir
mal werden? linkshänder
und zu nischde geschicke

so ein schwartenheini wie du,
mit solch einem faulpelz
kann keiner was anfangen

Schließlich setzt der Dichter mit einem Enkelinnengedicht nicht nur jene „Oral History“ fort, die er „zaunüberwärts“ schon oft betrieben hat, sondern zeigt damit ganz plötzlich auch eine familiäre Seite, die ein wunderbares Novum im Spektrum seiner poetischen Themen darstellt. 60 neue Gedichte, die man sich scheut „Alterswerk“ zu nennen, weil sie herzerfrischend jung wirken.

Michael Wüstefeld, SAX. Das Dresdner Stadtmagazin, 08/2012

„geschehen zu meiner zeit“

Seiner ersten umfassenden Sammlung von Gedichten (satzanfang, 1970) hat Wulf Kirsten einen Essay beigegeben, der in manchem seine Bedeutung behalten hat. Es war eine Erläuterung seiner Gedichte und im Grunde eine kurze Geschichte ihres Entstehens. Und man erfuhr, wie viel hier gedacht und probiert worden ist, bevor geschrieben und die Öffentlichkeit gesucht wurde, bis hin zu dem zentralen Gedanken: 

Sein Thema finden heißt zu sich selbst finden. 

Den neuen Band fliehende ansicht, der die in den Jahren 2005 bis 2011 entstandenen Gedichte in der Chronologie ihres Entstehens vorstellt, halte ich für eine komplexe Erscheinung der Grundlagen und Grundmotive von Kirstens Gedichten. Es ist, als hätte der Dichter noch einmal alle großen Themen seiner Jahrzehnte überspannenden Dichtung zum Leuchten gebracht – in neuen Beispielen und neuen Auslegungen, die in allem Vergangenen und Gegenwärtigen verwurzelt sind. Diese ,großen‘ Themen sind ja oft ,kleine‘, aus deren Ableitungen die Welt entsteht, durch das Was und Wie eines Sehens, Erlebens und Schreibens, das das Gedicht situiert. Und stärker als in früheren Bänden habe ich eine Erweiterung in vielfältige Gegenwärtigkeiten gefunden, so dass man des Öfteren von gesellschaftskritischen Gedichten sprechen kann, die sich sowohl auf die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit als auch auf die gegenwärtige Situation beziehen; in jenem Büchnerschen Sinn, der alles aus dem Wort und aus der Verdichtung und Verkürzung der Zusammenhänge hervorgehen lässt und daraus seine Legitimation gewinnt.
Das Titelgedicht „fliehende ansicht“ ist eines jener Naturgedichte, die wir von Kirsten kennen und die er in dieser Art begründet hat: von präziser Beobachtung, Kenntnissen und Wortbesessenheit getragen. (Der alte Hinweis Kirstens aus dem Essay zu satzanfang findet hier seinen Platz, das Fontanesche „Man sieht nur, was man weiß.“) Von diesem verlässlichen Fundament aus lassen sich fast alle Fragen stellen, so dass schon in diesem ersten Gedicht die neuen Motive in Verbindung mit früheren anklingen: 

jeder bahnhof, der vorbeifliegt, ist
längst abgeschrieben, triste
angelegenheiten langhin verzettelt
eine ruinöser als die andre

Diese Beschädigungen sind das eine; das andere jene großen Naturbilder, die die immer bestehenden Zusammenhänge aufrufen; kein Fluchtpunkt, aber eine Möglichkeit, zu leben: 

was da so flimmrig schwirrt,
sei das licht der natur, nicht
zu ergründen, nimm diesen landstieg an,
so wie er uns trägt

(„landstieg“). 

Erkennbar wird auch, dass manche Gedichte für den Dichter ,Gelegenheiten‘ sind, dass der Anteil des Zufälligen neben dem eher Konzeptionellen („curriculum vitae“) eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Wie in dem wunderbaren Gedicht „gespräch zaunüberwärts“, wo aus einer alltäglichen Begegnung die „weltläufte“ hervorgehen. Das geschieht so leicht und frei, dass man sich fragt, wie Kirsten das gemacht hat: Da sind die Bilder jenes arbeitslosen Mannes, der ohne Lohn arbeitet, „nur um als arbeitsloser / unter leuten zu sein“. Und die Folgerung ist auch da – „noch tagelang geht mir / durch den kopf, irgendwas stimmt nicht / in dieser weltordnung, / die doch gemeinhin für die beste / aller möglichen gehalten wird.“ – in dieser Ordnung nicht und in mancher anderen auch nicht, wie wir in den kritischen Gedichten Kirstens erfahren können, die einen neuen Akzent setzen, in diesem Band und in seiner dichterischen Arbeit überhaupt. Die Gedichte sprechen oft expressis verbis von dem, was auf der Seele liegt, so in aller Schärfe von gerade vergangenen Zuständen („vaterlandsverräter“, „implosion“, „wo denkst du hin“ u.a.) und beispielhaft in dem „denkfiguren“ benannten Gedicht, das vielfältige Erfahrungen zusammenfaßt. 

welt durch weltanschauung ersetzt,
von wortverdrehern die spottgeburten vernetzt.

Aber auch manche gegenwärtige Verhältnisse werden nicht beschwiegen, vor allem, wenn es um soziale Fragen geht („abendnachrichten“, „lebenslagen“ u.a.): 

sagten Sie gerechtigkeit, captain?
für wen, dachten Sie, und wie lange?
warum nur für so wenige? warum
soviel ungerechtigkeit in Ihrer
gerechtigkeit?

(„eigentümlich“) 

Hierher gehören auch die ,pamphletistischen‘ Gedichte: Abrisse aus den Lebensgeschichten von verehrten literarischen Vorbildern, die ,herübergeholt‘ werden in unsere Verhältnisse, die sich manchmal gar nicht so sehr von jenen fernen Verhältnissen unterscheiden. ,Ahnherren‘ (Hölderlin, E.T.A. Hoffmann, Heine, Nietzsche) sind hier aufgerufen. Mit dem Ergebnis einer Vielfalt von Beziehungen, die am Ende einen „Lebensüberblick“ konfigurieren. Zu ihm gehören Alltagsszenen voller Nachhaltigkeit („nachruf“); Imponderabilien, die das Leben und die Bilder des Lebens sind („die weiße amsel“); Gedichte über das, was bleibt, was von der Geschichte bleibt und von ihr noch sichtbar ist („stadt im kessel“); schließlich die autobiografischen Gedichte, der Blick auf die Kindheit und aus der Kindheit heraus („dorfkindheit, vom krieg überrollt“, „erdenbürger“), von der Kirsten einmal gesagt hat: 

Eine Welt voll weitergetragener Namen und Begriffe.

Und voll von „Wortfeldern“, die der Dichter findet, sammelt und ein Leben lang entwickelt.
Der Band wäre nicht, was er geworden ist, ohne die bilanzierenden und philosophisch verankerten Gedichte. Nachgefragt wird, wer oder was wir sind, was „das eigentliche“ denn sei und wie es zu erkennen wäre. Dabei wird es hier ja erkannt, ohne dass man es verbalisieren muss oder kann: in allen Geschichten, die diese Gedichte erzählen. Der Dichter hat die Zeit in eine ,Erlebniszeit‘ verwandelt, die Fernes und Nahes in einer Ebene verbindet. Und bei aller bilanzierenden Bitterkeit – „es war, als hätt der himmel / die menschheit endgelagert.“ („zur weltordnung“) – wird jener ,kosmische‘ Zusammenhang nicht aufgegeben, der aus dem Einfachen hervorgeht, aus der Erinnerung an einen Augenblick („Böhmen“, „sommergespräch“): Da ist sie, die Welt! Sie ist immer da, mit ihren Hintergründen und Möglichkeiten, die den Menschen begleiten, wenn er es kann und will.
Einige umgangssprachliche Einschübe – z.B. „wer weiß, / warum“, „aus welchen geheimen gründen / auch immer“ („außer gebrauch“) – wirken wie Versatzstücke in dem so dichten sprachlichen Gewebe. Ein kleiner Anmerkungsteil wäre hilfreich gewesen zum besseren Verständnis einiger Worte und Zusammenhänge.
Wulf Kirsten ist ein herausragender Gedichtband gelungen, dessen vielfältigen Verästelungen ich hier nur andeutungsweise nachgehen kann. Eine Verbindung und Entwicklung von Motiven und Themen aus einem reichen Lebenswerk; eine Bilanz und ein Weg, begehbar auch für andere und in diesem Sinne jenes ,Lebens-Mittel‘, zu dem Literatur in seltenen Fällen werden kann. 

Wolfgang Trampe, Ostragehege, Heft 67, 2012

Nullwachstum zum Nulltarif und Schiffe im Kopf 

Im Jahr 2004 erschien zu Wulf Kirstens 70. Geburtstag im Ammann-Verlag Zürich mit erdlebenbilder ein in Halbleinen gebundener und mit transparentem Plastikumschlag umhüllter Band mit Gedichten aus einem halben Jahrhundert. Andeutungen des Weimarer Dichters gaben seinerzeit Anlass zu der Vermutung, dass er sein lyrisches Werk mit dieser prächtigen Publikation als abgeschlossen betrachtet haben könnte. Nun aber legt Wulf Kirsten – der zuletzt die opulente Anthologie Beständig ist das leicht Verletzliche. Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan herausgab – neue Lyrik vor. Da der Ammann-Verlag seine Tätigkeit jedoch 2010 einstellte, erscheinen Kirstens Gedichte nun im S. Fischer Verlag. fliehende ansicht enthält 60 Gedichte, die zwischen 2005 und 2009, in der Mehrheit aber erst 2011 entstanden. Das lyrische Terrain, das Kirsten hier absteckt, ist – auch wenn es nicht mehr die Dominanz wie in früheren Gedichtbänden haben mag einerseits Sachsen, wo Kirsten Kindheit und Jugend verbrachte, und andererseits Thüringen, wo er seit langem lebt. Seine Lyrik der letzten Jahre ist nachdenklich, melancholisch, aber auch politisch engagiert, manchmal aufbrausend, auf jeden Fall aber unversöhnlich in Richtung Zeitgeist gesprochen.
Formal ist sich der Weimarer Dichter treu geblieben. Seine freirhythmischen Gedicht sind vor allem aus einstrophigen Textblöcken gebaut, es sind aber auch Gedichte mit reimlosen Strophen zu je vier oder fünf Versen zu finden. Dann wieder stößt man auf Zweizeiler, die sich, wie etwa „denkfiguren“ und „lebenslagen“, bisweilen reimen und sogar humoristisch sind. Letzteres etwa hebt an:

ach, die geister, die ich laut um Hilfe rief,
preisen das nullwachstum zum nulltarif.

Wulf Kirsten verzichtet, von Eigennamen abgesehen, generell auf Großschreibung. Punkte setzt er fast nur am Ende.
Die Sammlung ist chronologisch geordnet, das 2005 entstandene Titelgedicht steht am Anfang. fliehende ansicht ist eine Impression jener Landschaft, in der die Ilm in die Saale und Thüringen in Sachsen-Anhalt übergeht, wo die Burgen Saaleck und Rudelsburg den damaligen Studenten und späteren Kunsthistoriker Franz Kugler 1826 zu seinem wiederholt vertonten Gedicht „An der Saale hellem Strande“ inspiriert haben. Wulf Kirsten zeigt uns, derweil wir mit ihm im Zug vorbeifahren und die Aussichten rasant wechseln, u.a. das einstige Wohnhaus des Architekten und Rassentheoretikers Paul Schultze-Naumburg im Schatten von Burg Saaleck. Er erinnert uns ferner, dass in der Bahnhofsrestauration von Bad Kösen in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts auch ein Schüler der nahen Landesschule Pforta, Friedrich Nietzsche mit Namen, mehrere Seidel Bier, also einen über den Durst trank. Die abgeschriebenen Bahnhöfe und ruinösen Gleisanlagen, die an dem lyrischen Ich vorbeifliegen, sind dem Verfall preisgegeben. Diesem verweigern sich allein die Türme der Dorfkirchen links und rechts der Eisenbahnstrecke „hocherhobenen fingers“ und preisen die Seligkeit „nach eigener fasson“.
Wulf Kirsten ist aber nicht nur ein wunderbarer Landschaftssprachbildner, sondern auch ein genau beobachtender Lyriker des Jahreslaufs. Das zeigen Texte wie „dezembermorgen“, „ende april“ und „eingewintert“ und „dunkel“, ein Novembergedicht, eindrücklich. Und wie andere auf den Barometerstand, blickt Kirsten täglich auf den Ettersberg, dem mit Goethe und Buchenwald verknüpften Weimarer Hausberg, der mehrfach Erwähnung findet.
Er beweist in diesem Gedichtband auch, warum ihn Karl-Markus Gauß einen „Chronisten des verschollenen Alltags“ nennt: Wulf Kirsten hat ein Repertoire von Wörtern im Bestand, die nicht mehr Gemeingut sind und von ihm in seinen Gedichten wie in einem Schatzkästlein verwahrt werden; „spinnengekrakel & netzgehakel“, „schubkärner“ und „besenbinderseelen“ gehören da ebenso hinein wie „zuvörderst“, „fernerhin“ und das schöne Verb „gaudern“. Zuletzt hat er ein ganzes Gedicht dem Nachsinnen über lexikographische Archaismen gewidmet. Die „zwei worte“ im gleichnamigen Text sind „trübedimpelig“ und „bedript“.
Wulf Kirstens Weimarer Schriftstellerkollegin Gisela Kraft (1936–2010), die sich vor allem mit einer Novalis-Roman-Trilogie einen Namen machte, stellte ihrem Gerhart-Hauptmann-Gedicht „Kloster Hiddensee“, enthalten in dem posthum 2010 erschienenen Band Weimarer Störung – Gedichte aus dem Nachlass, als Motto den Ausruf von Rolf Haufs voran:

Wulf Kirsten ist nicht maritim!

Das freilich gilt auch für den Band fliehende ansicht.
Mit Porträtgedichten, von denen in seinen Gedichtbänden stets mehrere zu lesen ist, würdigt Wulf Kirsten u.a. Friedrich Hölderlin, den zehn Jahre nach seinem Tod leider schon längst vergessenen Dichterfreund Harald Gerlach (1940–2001) sowie den aus Wulf Kirstens Kindheit vorbeischauenden Land(s)mann Oswin Beyrich.
Alles in allem ist es schön, dass wir von Wulf Kirsten – der mit den Essaysammlungen Gegenbilder des Zeitgeists – Thüringer Reminiszenzen (2009) und Brückengang (2010) zuletzt vor allem als Prosa-Autor zu erleben war – nun wieder Gedichte lesen können. 

Kai Agthe, die horen, Heft 246, 2. Quartal 2012

Wulf Kirsten richtet ein Museum der abgehalfterten Dinge

in Versform ein

In seinen Landschaften herrscht das Erdfarbene, durchzogen von ein wenig Grün. Da schaut Wulf Kirsten genau hin. Der 1934 geborene Sachse hat weder den verklärenden Blick der Natur-Idylliker, noch lädt er Naturerscheinungen magisch auf. Er nimmt Raubbau, Zerstörung und Verlust wahr, ohne den moralischen Zeigerfinger zu erheben. Kirsten ist ein geruhsamer Spracharbeiter, der Vergessenes in Worten aufhebt.
Beinahe ausgestorbene Tierarten wie die Karausche kommen nur noch in den Gedanken des Dichters vor. Außer Gebrauch geratene Heilpflanzen wie das „Gemeine Herzgespann“ haben es ihm angetan. Das Wildkraut beschreibt er bis ins kleinste Detail. Bei aller Pedanterie haben Kirstens Verse Rhythmus, Melodie und Pointe. Sie konservieren nicht nur, sie bewahren vergangene Kultur, auch verloren gegangene Sprachkultur. Im Hessischen wird er zum Landschreiter. Sonst bleibt der Mann aus Weimar Flurgänger. Er durchstreift überwiegend sächsische Gefilde. Sein lichtüberfluteter Morgen bringt abgewohnte, ausrangierte und zerfallende Dinge zum Vorschein. Für ihn ist Gerümpel „abgeschriebenes, verdinglichtes Leben“, das er im Gedicht akribisch versammelt. Wo die Flüchtigkeit der zeitgenössischen Wegwerfgesellschaft rast, eröffnet Kirsten ein Museum der abgehalfterten Dinge. Die Gegenstände bleiben sie selbst und werden nicht auf Zeichen getrimmt.
Wenn Kirsten mit Hölderlin den Thüringer Gleichberg erklimmt, nimmt er aus dem öffentlichen Bewusstsein fast verschwundene Schriftsteller mit: Helga Novak und den früh verstorbenen Harald Gerlach. Erinnerungsarbeit betreibt Kirsten auch mit tschechischen Autoren: Vilém Zavada, Frantisek Listopad und Ludvík Kundera. Hier und da verweist er auf Herder, Goethe, Heine, Günter Eich und Ludwig Uhland. Dessen berühmte „Ulme zu Hirsau“, inzwischen von einer Spezies namens Splintkäfer zerfressen, überlebt als Kugel-Schrumpfform in einer Drechslerwerkstatt.
Der Chronist spürt Tragikomisches auf, nicht zuletzt als Beobachter sozialer und politischer Verhältnisse. Im Porträt der Kanzlerin zeigt er sich gar als Kabarettist, der sich mit Hilfe der Worte „bedripst“ und „trübetimpelig“ seinen Spaß macht. Andere satirische Szenen könnten ihren Ursprung in Schilda, Abdera oder Kleewunsch haben: Straßentheater aus „illiterater Provinz“, Schmierenkomödianten, die zu Diktatoren mutieren können.
Über den Untergang des kommunistischen Reichs hat Kirsten das knappste und treffendste Gedicht geschrieben, das ich zu diesem Thema kenne. Es trägt den Titel „implosion“ und scheint mir in seiner Lakonie wahrer zu sein als alle larmoyanten Tiraden literarischer Größen.
„Zeitfraß“ heißt eines der Gedichte, in dem der Autor das gesamte „Erdbild“ betrachtet. Die Worte Gerechtigkeit und Wahrheit fallen darin auf, weil sie wie selbstverständlich in den Versen vorkommen. Momentaufnahmen von Blutspuren der Geschichte sucht der Lyriker in seinen „fliehenden Ansichten“ festzuhalten: die vom Krieg überrollte Dorfkindheit, das flächendeckende Weiß über dem Ettersberg, in Alzey die Erinnerung an den jüdischen Unternehmer und Dichter Karl Schloss, der 1944 in Auschwitz ermordet wurde.
Zum „Stolperstein“ in Worms gesellen sich die lyrischen Denkanstöße Wulf Kirstens.

Dorothea von Törne, Die Welt, 7.7.2012

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Rainer Strobelt: Verse über das Beharren
fixpoetry.com, 15.6.2012

Michael Wüstefeld: Junges Alterswerk
Am Erker

Heike Henderson: Kluge Analysen und scharfsinniger Witz
literaturkritik.de, Oktober 2012

 

 

 

 

FEBRUARABEND IN H.
Für Wulf Kirsten

1
Verflüssigte Luft. Die Wolken
Frühlingshaft nah. Die Stadt
Eine alte
Vettel. Wir gingen und sprachen
Über die Brüchigkeit
Unseres Daseins: keine Kontinuität,
Außer der
Des Verfalls. Das
Bezeugten, unwiderlegbar,
Die Häuser.

Halbruinen. Der Sitz
Des Bischofs zerschossen von
Steinkugeln, gesandt
Von der Vorstadt Neumarkt
Über die Gräben
Als Zeichen des
Protestantismus.

2
Als die Lichter angingen,
Sahn wir sie sitzen
Hinter den winddurchlässigen Fenstern:
Den Mann und die Frau
Im zerfallenden Haus, im Flur
Die Glühbirne, schirmlos.

Im Hof das Gewirr
Zerfallender Balken, gähnende Keller,
Von morschen Brettern
Verdeckt. Auf den Etagen
Türn ohne Klinken.

3
Das noch Beschreibbare
Schien uns kein Gleichnis:
Totenhaus oder
Der Untergang des Hauses Usher.

Einen Punkt
Hinter unsere Meditationen
Setzte die klappende Tür:
Das Mädchen,
Das grußlos vorbeiging,
Das Rauschen des Wassers
Auf dem Abort.

Heinz Czechowski

 

 

Lesung Wulf Kirsten am 27.11.1991 im Deutschen Literaturarchiv Marbach

In der Reihe Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts präsentierten Autoren ein frei gewähltes „fremdes“ und ein eigenes Gedicht aus einem Jahrzehnt. So entstanden Zeitbilder und eine poetologische Materialsammlung zur Dichtung eines Jahrhunderts. Das Gespräch zwischen Bernd Jentzsch, Wulf Kirsten und Karl Mickel fand 1993 in der Literaturwerkstatt Berlin statt und ist hier online zu hören.

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Nico Bleutge: Sprachschaufel
Süddeutsche Zeitung, 21.6.2004

Michael Braun: Der poetische Chronist
Neue Zürcher Zeitung, 21.6.2004

Wolfgang Heidenreich: Gegen das schäbige Vergessen
Badische Zeitung, 21.6.2004

Tobias Lehmkuhl: Das durchaus Scheißige unserer zeitigen Herrlichkeit
Berliner Zeitung, 21.6.2004

Hans-Dieter Schütt: „herzwillige streifzüge“
Neues Deutschland, 21.6.2004

Frank Quilitzsch: Chronist einer versunkenen Welt
Lese-Zeichen e.V., 19.6.2004

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Christian Eger: Leidenschaftlicher Leser der mitteldeutschen Landschaft
Mitteldeutsche Zeitung, 19.6.2009

Jürgen Verdofsky: Querweltein durch die Literaturgeschichte
Badische Zeitung, 20.6.2009

Norbert Weiß (Hg.): Dieter Hoffmann und Wulf Kirsten zum fünfundsiebzigsten Geburtstag
Die Scheune, 2009

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Lothar Müller: Aus dem unberühmten Landstrich in die Welt
Süddeutsche Zeitung, 21./22.6.2014

Thorsten Büker: Der Querkopf, der die Worte liebt
Thüringer Allgemeine, 22.6.2014

Jürgen Verdofsky: Querweltein mit aufsteigender Linie
Badische Zeitung, 21.6.2014

 

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Frank Quilitzsch: Herbstwärts das Leben hinab
Thüringische Landeszeitung, 21.6.2019

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv + KLGIMDb +
Interview + Laudatio 1 + 2 + 3 + 4
Dankesrede 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 +7 + 8
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Dirk Skiba AutorenporträtsBrigitte Friedrich Autorenfotos +
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Nachrufe auf Wulf Kirsten: FAZ ✝︎ Tagesspiegel ✝︎
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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Wulf Kirsten

 

Wulf Kirsten – Dichter im Porträt.

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