Yael Almog und Michal Zamir (Hrsg.): Zwischen den Zeilen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Yael Almog und Michal Zamir (Hrsg.): Zwischen den Zeilen

Almog & Zamir (Hrsg.) /Attoun-Zwischen den Zeilen

STAUB DER WEGE

Fragmente von Vergangenem klopfen an mein
aaaaaFenster
Menschen denen ich einst begegnete
In simplem Hebräisch,
Gelegentlich auf Englisch
Melden sich erneut.
Sie bringen mit sich starken Wind
Den Staub der Wege und Parabeln.
Sie erzählen mir wie ich einst war und wie viele
Fragmente von Vergangenem
Überbleibsel von Erlebtem
Verpackungen von Debakeln
Sind in meine Tasche gestopft
In einem Durcheinander
Klopfen an mein Herz
Wäre ich vielleicht abkömmlich
Hätte ich vielleicht einen Moment
Aber ich
Ich bin erworben
Mit mir uneins
Gespalten
Geviertelt und gedrittelt
In kleine Teile
Kleine Krümel
Von Erinnerungen
Staub aufwirbelnd
Und Wege
Wieder Puppen gewordene Falter.

Zehava Khalfa
Übersetzt von Lukas Mühlethaler

 

 

 

Vorwort

Das Interesse am israelisch-deutschen Austausch wächst, sei es in Literatur – Prosa und Poesie –, sei es in Film oder Theater. Viele israelische Schriftstellerinnen sind ins Deutsche übersetzt worden und stoßen bei deutschen Leserinnen auf großes Interesse. Auch deutsche Kultur erlebt in Israel nach Jahren der Zurückhaltung eine Art Renaissance. Die vielen, in den letzten zehn Jahren nach Deutschland gezogenen Israelis haben nicht wenig dazu beigetragen. Und doch sind in beiden Ländern nur wenige zweisprachige Gedichtbände erschienen, in denen hebräische Poesie ihrer deutschen oder deutsche Poesie ihrer hebräischen Übersetzung gegenübersteht. Dabei erlauben zweisprachige Gedichtbände einen einzigartigen Einblick in die israelische Wahrnehmung von Deutschland, beziehungsweise in die deutsche Sicht auf Israel. Sie sind ein Beispiel für israelisch-deutsche Kulturarbeit, an der auch Angehörige der dritten Generation nach der Schoah beteiligt sind.
Die Gedichtstrophe zu Beginn dieses Buches beschreibt zwei Begebenheiten. Mein Sohn und ich singen einen hebräischen Bibeltext. Dabei folgen wir der traditionellen jüdischen Kantillationspraxis, die jeder Silbe eine bestimmte Tonfolge oder Melisma zuordnet. Eine solche Tonfolge wird im Hebräischen ta‘am genannt. Das Wort ta‘am bedeutet aber auch Geschmack. Dieser Umstand verbindet sich mit einer zweiten Begebenheit, nämlich dass mein Sohn und ich jeweils Kekse in der Form hebräischer Buchstaben backen. Damit beschreibt die Gedichtstrophe die Bemühungen einer ersten Generation von Migrant*innen, der nächsten Generation die zu Hause gesprochene Sprache, die Sprache des Herzens, näherzubringen und eine neue hebräische Identität zu schaffen, indem sie die hebräische Sprache mit kulturellen Inhalten und Zusammenhängen belegt. Diese Bemühungen erlauben es der nächsten Generation an einer hebräischen Identität festzuhalten, die Judentum als eine Kultur versteht. Zwar ist für die erste Generation von israelischen Migrant*innen das Hebräische ein Zuhause, welches man von Ort zu Ort trägt wie ein Schneckenhaus, ein wanderndes Heim. Aber sie stehen vor der Herausforderung, der Sprache auch für die nachfolgende Generation ein Haus zu bauen, indem sie eine hebräische Identität schaffen, die sich erneuern kann und nicht an eine bestimmte Zeit oder an einen bestimmten Ort gebunden ist.
In Israel sehen sich säkulare Juden selten gezwungen, sich mit ihrer Identität auseinanderzusetzen. Dies ändert sich mit dem Verlassen des Landes. Bei einigen jüdischen Israelis führt die Tatsache, dass sie nicht mehr in Israel leben, zur Stärkung ihrer jüdischen Identität, bei anderen zur Stärkung ihrer nationalen Identität. Berlin unterscheidet sich von anderen Orten der Diaspora. Hier werden Juden oft als Opfer gesehen, als Nachfahren von Holocaustüberlebenden in der zweiten und dritten Generation; Israelis hingegen werden als Besetzer und Unterdrücker wahrgenommen. Viele jüdische Israelis wollen sich auf keine dieser Rollen reduzieren lassen. Sie betonen den hebräischen Aspekt ihrer Identität. Als Hebräer sind sie Teil einer hebräischen Kultur, die sich auf keine Religion oder Nationalität beschränkt.
Diese Gedanken zur hebräischen Identität von Israelis in der Diaspora, ihre besonderen Charakteristika und Veränderungen sowie mein eigenes Leben als Israelin, als Migrantin, als Frau, als Lebensgefährtin und als Mutter in Berlin, wo ich seit zehn Jahren lebe, haben mein Interesse für Gedichte von hebräischen Migrant*innen in Deutschland geweckt. Als ich 2014 die erste Lesung von israelischen Gedichten im Jüdischen Museum in Berlin organisiert habe, kreisten die Gespräche um veränderliche Identitäten von Migrant*innen, um Heimat, Muttersprache und hebräische Kultur im deutschsprachigen Raum. Die Autorinnen sprachen von ihrem Bezug zu Berlin, über die Umstände, die sie in diese Stadt geführt haben und erzählten vom Einfluss der Geschichte und Gegenwart dieser Stadt auf ihr Schreiben.
Die persönlichen Gedichte von Maya Kuperman haben mich sehr bewegt und mir die innere Welt einer jungen, mir bis dahin unbekannten, Dichterin offenbart. Kupermans Großvater ist Holocaustüberlebender. Ihre Gedichte erzählen von der dritten Generation nach der Schoah, von Partnerschaften und der Liebe zwischen Frauen. Wenig später begegnete ich den Gedichten von Zehava Khalfa. Khalfa setzt die Wanderungen ihrer Familie in der dritten Generation fort. Während des Zweiten Weltkriegs hat ihr Großvater in Libyen unter den Verfolgungen der Nazis gelitten. Im Jahr 1949 haben ihre Eltern Libyen verlassen und sind nach Israel gezogen. Sie selbst ist in Israel geboren und in einem Elternhaus groß geworden, in dem sowohl Hebräisch als auch Arabisch gesprochen wurde. Im Jahr 2008 ist sie nach Deutschland übersiedelt. Im Mittelpunkt ihrer Gedichte stehen Migration, Muttersein und Liebe. Beide Dichterinnen haben mich zur Organisation eines zweiten Leseabends im Jüdischen Museum Berlin bewegt. Die zweite Veranstaltung sollte Gedichten von Frauen gewidmet sein. Darüber hinaus wollte ich Kontakte zwischen israelischen und deutschen Dichterinnen herstellen, deren Gedichte einen Bezug zum Hebräischen oder zu Israel haben. So bin ich auf zwei faszinierende deutsche Autorinnen gestoßen – auf Gundula Schiffer und Heike Willingham.
Schiffer, Literatin und Literaturübersetzerin, schreibt auf Deutsch und gelegentlich auf Hebräisch. Ihre Liebe für die hebräische Sprache geht auf ihre Studienzeit zurück. Die Gedichte von Lea Goldberg haben ihre Passion fürs Übersetzen geweckt. Durch regelmäßige Besuche in Israel hält Gundula Schiffer den Kontakt zu Land, Leuten und Sprache. Heike Willingham ist Dichterin und Literaturwissenschaftlerin. Durch das Redigieren von Übersetzungen von hebräischen Gedichten entstanden Kontakte mit israelischen Dichterinnen. Der persönlichen Begegnung mit hebräischer Dichtung sind viele Besuche in Israel gefolgt. Willinghams Gedichte erlauben einen Einblick in ihre sehr persönliche Sicht Israels.
Die zweite Lesung fand im Jahr 2017 statt. Sie wurde von der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Yael Almog moderiert. Im Gespräch mit den Autorinnen ist Almog den Gründen nachgegangen, die sie nach Deutschland beziehungsweise nach Israel geführt haben. Sie haben von ihrer Beziehung zu Land, Sprache und dem Stellenwert von Geschichte in ihren Gedichten, aber auch sehr persönlich mit dem Publikum über Zuhause und Zugehörigkeit, Identität und Sprache, über Muttersprache und Heimatland, über Migration und Holocaustgedenken, über Muttersein und Partnerschaft gesprochen. Eigens für die Veranstaltung stellten wir in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum Berlin eine zweisprachige Auswahl an Gedichten zusammen.
Zwei Jahre nach der Veranstaltung ist es an der Zeit, die stark erweiterte Auswahl als zweisprachigen, hebräisch-deutschen Gedichtband zu veröffentlichen. Wir haben uns für den Titel Zwischen den Zeilen entschieden, denn Vieles im hebräisch-deutschen Dialog wird nicht explizit ausgesprochen, weil es sich nur schwer oder gar nicht in Worte fassen lässt. Die Werke der Dichterinnen erzählen von Migration und Flüchtlingsdasein. Sie blicken zwischen die Zeilen, überschreiten Grenzen und doch hat jedes Gedicht seinen Kontext und Dinge, die zwischen den Zeilen bleiben. Ihre Gedichte erschließen sich durch das Offenkundige, durch das geschriebene Worte, aber auch durch das Unterschwellige und Ungeschriebene. Die auf einer gemeinsamen Basis fußende kulturelle Zusammenarbeit ermöglicht ein gewisses Verständnis der die Texte begleitenden Assoziationen, wodurch sich ein Spalt auftut zwischen den Leser*innen auf beiden Seiten der gemeinsamen historischen Erinnerung.
Die Verbindung von Offenkundigem und Unterschwelligem offenbart sich auch in den Zeichnungen „Daily Wonders“ der israelischen Künstlerin Maya Attoun, deren Freundschaft mich seit unserer gemeinsamen Schulzeit begleitet. Sie sollen nun die Leser*innen durch diesen Band begleiten.

Michal Zamir, Vorwort

Einleitung

In Anbetracht der Geschichte scheint die poetische Kombination von Deutschem und Hebräischem eine brisante Entscheidung zu sein. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Deutsch mit Gewalt gegen Juden verknüpft – eine Konnotation, die in der Bundesrepublik, die sich für die Verbrechen entschuldigt, perpetuiert wurde. Gleichzeitig erlangte das moderne Hebräisch den Status einer Nationalsprache, die den Staat Israel repräsentiert. Diese nationale Einheit stellt sich als ein explizit jüdischer Staat vor, der Holocaust-Überlebende vertritt, und Ihnen einen Zufluchtsort bietet. So sind Deutsch und Hebräisch zu nationalen Kennzeichnungen zweier Entitäten geworden, die einerseits Gegenspieler sind und sich andererseits gegenseitig konstruieren, weil sie ihren jeweiligen nationalen Ethos festschreiben.
Auch wenn zweisprachiges Schreiben in deutscher und hebräischer Sprache die Komplexität der deutsch-israelischen Beziehungen widerspiegelt, ist es gleichzeitig natürlich. Wie auch in anderen Fällen literarischen Schreibens ist Mehrsprachigkeit hier realitätsbedingt; in diesem Schreiben hallen die Transformationen der Moderne wieder, die die Ein- und Auswanderung, die Fluchtversuche und das Leben im Ausland intensiviert haben. Zur Zeit der Entstehung des Jischuw blieben zum Beispiel einige der Einwanderer und Flüchtlinge, die aus Deutschland ins Mandatsgebiet Palästina gezogen waren, in engem Kontakt mit der Muttersprache, indem sie Gedichte, Prosa und Dramen verfassten, auch wenn das zionistische Umfeld die Verwendung des Deutschen kritisierte. Zweisprachiges Schreiben ist der Arbeit von Dichtern wie Ludwig Strauss und Avraham Ben Yitzhak immanent. Diese Dichter, die in beiden Sprachen schrieben, verarbeiteten ihre Auswanderungserfahrungen aus Österreich und Deutschland in den neuen und anderen kulturellen Raum Palästinas. Unter den Bedingungen der zionistischen Gesellschaft, insbesondere in ihren frühen Jahren, wurde Deutsch zu einer Geheimsprache, zu einer Art abwesender Präsenz. Der starke Einfluss der deutschen Kultur prägte das poetische Werk vieler Autoren und Autorinnen. Goethe und Nietzsche sowie Freud und Brecht haben das Denken und das Theater im jungen Israel mitgeprägt. Jedoch wurde die deutsche Sprache als bedrohlich empfunden und verblieb außerhalb der Öffentlichkeit.
Die Kombination der hebräischen und der deutschen Sprache in der Poesie spiegelt die kulturelle Resonanz der jüdischen Liturgie in den europäischen Gesellschaften wider. Der bedeutende Dichter Paul Celan, der Begriffe aus unterschiedlichen Sprachen ins Deutsche einfügte, benannte jüdische Bräuche wie das Wehklagen mit ihrem hebräischen Ausdruck. In seiner Dichtung wird das Hebräische zu einem Code, der nicht vollständig entschlüsselt werden kann; dennoch enthüllen die Leser, die Hebräisch lesen und verstehen, eine zusätzliche Facette des vielfältigen kulturellen Kontextes seiner Gedichte. Das Interesse deutscher Theologen am Alten Testament machte die Kenntnis der hebräischen Sprache zu einem wichtigen Phänomen in der Spätaufklärung und in der Romantik.
Das letzte Jahrzehnt hat ein neues Kapitel in der Geschichte des Hebräischen und des Deutschen geschrieben. Eine Gruppe israelischer Emigranten und Emigrantinnen, die nicht groß, jedoch einflußreich und aktiv ist, wanderte nach Deutschland aus. In der Hauptstadt Berlin entstanden neue Erscheinungsformen israelischer Kultur, darunter hebräischsprachige Zeitschriften sowie Kultur- und Diskussionsabende. Diese israelische Migrationsbewegung hat viele Mitglieder, die sich in literarischem Schreiben, in Kunst, Kino und Musik betätigen. So drangen Werke in den deutschen Raum ein, die über die Schwierigkeiten der Israelis, die nach Deutschland auswandern, ihre Auseinandersetzung mit der Erinnerung an den Holocaust und ihre Beziehungen zu den Deutschen an ihrem neuen Wohnsitz reflektieren. Auf natürlichem Wege kombinieren diese Werke die hebräische Sprache mit der deutschen. Theaterstücke im Gorki Theater im Herzen Berlins diskutieren auf mit Hebräisch gemischtem Deutsch binationale Beziehungen; neue Filme zeigen, wie eine israelische Familie mit der Auswanderung ihres Sohnes oder ihrer Tochter nach Europa umgeht. In diesen Arbeiten geht es nicht mehr nur um die Möglichkeit vorübergehender Begegnung zwischen Deutschen und Israelis. Das Leben zwischen zwei Ländern bringt literarische und künstlerische Werke hervor, in deren Mittelpunkt ein Individuum steht, das die Prämissen seiner Identität neu durchdenkt.
Die uns hier vorliegende Gedichtsammlung gibt einen einzigartigen Einblick in die zeitgenössischen Beziehungen zwischen dem Hebräischen und dem Deutschen. Der Lyrikband vereint die Poesie von zwei in Israel geborenen Lyrikerinnen mit der von zwei deutschen Poetinnen. Die individuelle Beschäftigung jeder Dichterin mit den Erfahrungen von Fremdartigkeit schafft eine Sicht, die eine weibliche Welt fasst und die Grenzen einer einförmigen Nationalität unterwandert. Der Lyrikband schildert eine Erfahrung doppelter Fremdartigkeit: das lyrische Ich setzt sich mit dem verstörenden Aufenthalt im Ausland und mit den Übergängen zwischen Sprachen, Kulturen und radikal unterschiedlichen Traditionen auseinander. Gleichzeitig beziehen sich die poetischen Stimmen auf Erfahrungen von Fremdartigkeit, die das Dasein von Frauen, Töchtern und Müttern in einer Welt, in der Frauen eine verletzliche Position inne haben und sie in eine ökonomische und kulturelle Minderwertigkeit gegenüber Männern gesetzt werden, reflektieren.
Das poetische Projekt Heike Willinghams scheint häufig zum Surrealismus zu tendieren. Ihre Gedichte zeigen ein großes Interesse an der Transformation von Naturgegenständen. Die Perspektive fokussiert auf die ständige Bewegung von Landschaften, Pflanzen und Tieren. Diese Bilder natürlicher Veränderungen beziehen sich auf die griechische Mythologie und auf andere dramatische Mythen. Szenen, die zu Beginn des Gedichts auf den ersten Blick als Stillleben erscheinen, offenbaren sich bald als Dokumentation eines Dramas. Die Veränderungen von Landschaft und Natur drücken Gefühle der Entwicklung, aber auch der Furcht vor Zerstörung aus.
Die Dichterin Zehava Khalfa kerbt in ihre Gedichte bunte und reiche Bilder ein. Diese zeichnen die Figur einer Sprecherin nach, die ihre Kindheitserfahrungen konfrontiert. Die Sehnsucht nach abwesenden Figuren – vor allem nach einer abwesenden Mutter – spiegelt die Absenz der Heimat wider. Diese Sehnsucht stellt die Dichtung als einen Versuch dar, Anerkennung und Würdigung zu erhalten. Das komplexe Bild, das sich in den Gedichten entwickelt, bezieht sich auf die Migration auf mehreren parallelen Ebenen. Das erwachsene lyrische Ich beschreibt die eigene Migrationserfahrung. Gleichzeitig beschreiben ihre Kindheitserinnerungen ein Leben zwischen Ost und West und verweben so das Bild einer Sprecherin der zweiten Generation mit der Erfahrung von Wanderungsbewegungen nach Westen.
Die Gedichte Gundula Schiffers bewegen sich zwischen den Landschaften Israels und Westeuropas hin und her. Ihre lyrische Sprache wechselt vom Hebräischen ins Deutsche und umgekehrt. Einerseits offenbart sich Mehrsprachigkeit hier als eine poetische Kraft, die der Sprecherin ermöglicht, sich zwischen verschiedenen Kulturen zu bewegen, die Welt zu entdecken und durch diese Untersuchung sich selbst zu verwirklichen. Andererseits kommt das lyrische Ich mit der Unfähigkeit, eine Kultur und einen Ort festzuhalten, in Berührung. Die Sprache der Wanderlieder ist spielerisch, zeigt aber auch die Fremdartigkeit der Sprecherin, denn sie ist dem einheitlichen nationalen Raum entfremdet.
Maya Kupermans Gedichte gehen auf die Erfahrungen mit der Auswanderung nach Europa in Auseinandersetzung mit der Verfolgung der Juden während des Holocaust ein. Bilder aus den Gedichten verweisen auf Verwandte, deren Erinnerungen an Europa in das Familienleben aufgesogen wurden. Vor diesem Hintergrund einer Rückkehr in die Vergangenheit der Familie beschreibt das lyrische Ich das Gefühl von einer scheiternden Suche. Diese ständige Suche nach einem Objekt, das ihm entkommt, richtet sich nicht nur auf eine komplexe Wahrnehmung der Zugehörigkeit zu einer Familie oder Nation, sondern auch auf ihre Beziehung zu einer abwesenden Liebhaberin.
Als weitreichendes Phänomen sind Frauenreisegeschichten einzigartig in der Moderne. Vor dem Ende des 19. Jahrhunderts führten fast nur extreme Krisensituationen dazu, dass Frauen alleine reisten. Diese schwierigen Bedingungen bilden zum Beispiel den Hintergrund der Geschichte der Einwanderung im biblischen Buch Ruth. Auf den ersten Blick gibt unser Zeitalter Frauen mehr Bewegungsfreiheit. Es erlaubt uns sogar so aufgeladene Übergänge wie die zwischen Deutschland und Israel. Die Geschichten der Reisen weiblicher lyrischer Stimmen spiegeln jedoch die Not der Emigrantinnen der Vergangenheit wider. Es muss wohl so sein, dass Wanderungs-, Migrations- und Reisegeschichten eine einzigartige poetische Sprache auslösen, die auf die Fremdartigkeit des Körpers im Raum, in dem er sich bewegt, anspielt. Dieser Lyrikband, der auf die Erfahrung weiblicher Migration aufmerksam macht, unterstreicht dabei eine weitere Ebene des Fremdseins bei weiblichen Sprecherinnen.

Yael Almog, Vorwort

 

 

Inzwischen Zeilen – Ein Abend mit israelischen und deutschen Dichterinnen.

 

Dieser zweisprachige Lyrikband

versammelt Positionen aus weiblicher Perspektive zu Migration, Gender und dem Leben zwischen Deutschland und Israel. Er beinhaltet ausgewählte Werke von zwei in Deutschland lebenden israelischen Lyrikerinnen, Zehava Khalfa und Maya Kuperman, sowie von zwei deutschen Dichterinnen, Heike Willingham und Gundula Schiffer, deren Gedichte ihre Aufenthalte in Israel sowie Begegnungen mit der hebräischen Sprache und Kultur reflektieren. Die für den Band ausgewählten Gedichte beschäftigen sich mit gegenwärtiger israelischer und deutscher Identität, indem sie sich mit Migration und transnationalem Schreiben sowie Geschlecht und allgemeinen Alltagserfahrungen aus weiblicher Perspektive in beiden Ländern auseinandersetzen. Durch dezidierte Untersuchungen weiblicher Erfahrungswelten bietet der Band eine besondere Betrachtungsweise von deutsch-hebräischem Bilingualismus, deutsch-israelischen kulturellen Beziehungen und junger israelischer Migration nach Deutschland. Jedes Gedicht erscheint in seiner Originalsprache (Hebräisch oder Deutsch) sowie in einer Übersetzung in die jeweils andere Sprache.

Passagen Verlag, Klappentext, 2019

 

Beiträge zu diesem Buch:

Judith Müller: Zwischen den Zeilen
aviva-berlin.de, 15.4.2020

Jan Kühne: Mehrsprachige Schönheitsflecken
fixpoetry.com, 26.4.2020

 

 

Fakten und Vermutungen zu Yael Almog
Fakten und Vermutungen zu Michal Zamir

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