Yevgeniy Breyger: flüchtige monde

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Yevgeniy Breyger: flüchtige monde

Breyger-flüchtige monde

11. 

die see hat tausende gesichter. zumeist gehorchen sie dem mond.
ein schritt zurück: sind wessen sklaven? wogen drüber. auf wasser wandeln
zwei gestalten, eng umschlungen. wabern (zwei abgesprungene womöglich).
sind pflichten, mir nicht zuzurechnen – hakenhände – euch beide

ruf ich an. versteht sich – mein kasperkuss – die erde hat längst ausgedient,
umzäunt von herrenlosen wellen (woher die kommen). ach, wenn der wind
ein schurke wäre, wenn gezeiten … klappe drauf. gewiss gleicht ein gesicht
in keinem fall dem zweiten (wird einerlei vom wind umweht). uns bleibt

nichts anderes zu grabe zu tragen als die liebe – alles soll durchlebt sein –
die zwei bestallten: mond und mord. die woge trifft in keinem fall genau,
denn ein gerücht macht kein geschlecht (das wissen beide). der mord des försters
am olivenbaum verschwimmt. auch dessen öle. wie weit es gehen kann,

kennt jedes haargenau (ihr flüssiges vermächtnis). kein öl ist ebbe
unterworfen, nur schwirrendem getier bei einem vogelflug. nicht einmal
ebbes antrieb: flut. zuallererst ein bote, dann (das weiß ein öl aus dem effeff)
ein boot. gerade hatte der olivenbaum gelernt auf wasser zu verzichten – ganz –

direkt zum sternenkönig, hoch gen himmel. ohne umweg, ohne schein.
zugleich ein mond und see zu sein. sie sind am rhythmus ihres wachsens
unterscheidbar. das strahlt mir aus dem stern entgegen: herz ist wurzel
(schlägt), gewiss die richtende gestalt. ein klumpen puls an puls.

 

 

 

Kluge witzige Gedichte

Ich habe mir auf der Buchmesse schon den zweiten Band von diesem Verlag geholt und er ist wieder super!

was gestern leben hieß,
sind heute stellen. was wuchs,
wächst leider weiter.
was liebt jedoch, liebt förmlich
oder gar nicht.

Besonders die letzten drei Kapitel sind wundervoll. Das szenische Gedicht, welches mit „sich auf der flucht umdrehen“ betitelt ist, ist eines der besten politischen Gedichte, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Der Band ist wunderschön Gestaltet, die Gedichte vielstimmig, präzise und zeugen stellenweise von tollem bösem Humor. Plakat hänge ich mir an die Wand!

TurkishAirlines, amazon.de, 21.3.2016

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Alexandru Bulucz: Wer hat Angst vor der Dichtung?
signaturen-magazin.de

Verena Stauffer: In Sternen tanzen
Triëdere

 

Lagebesprechung 55

– Elefantisch leicht – eine kurze Anmerkung zu den Gedichten Yevgeniy Breygers. –

elefantentransporte verlaufen bedächtig, fast schwebend. So lautet der erste Vers des Gedichtes mit der Ordnungszahl 23.
Der Zyklus heißt Ebbe. Der Mond ist ein eingeführter lyrischer Topos. Seine Anziehungskraft aber auch Ursache der Gezeiten. Bei Ebbe zieht der Mond das Wasser vom Watt, und das Wasser gibt die Strukturen im Wattsand frei. Ursache und Grund.
Hier ist einer mit allen rhythmischen Wassern gewaschen. Er kennt die Zahl. Fast wirken die Texte wie eine kabbalistische Beschwörung. Mystik, die sich ins Absurde wendet, aus dem Absurden aber auch wieder heraus. Zuweilen erinnert das an automatisches Schreiben.
Als hätte Breyger die Souveränität ganz an die Sprache abgegeben, als setzte er sich ihr aus, ihren Feinheiten, ihren Konnotationen, auch dem Schweren, das sie birgt. Breygers Verssprache ist Fluss und Sediment zugleich. Was sich hier ablagert, wird aufgewühlt, so dass der fließende Rhythmus das Feste nicht bildet, aber darstellt.
Yevgeniy Breyger wurde in der Ukraine geboren, wuchs in Magdeburg auf und lebt nach Stationen in Hildesheim und Leipzig jetzt in Frankfurt am Main. Auch hier Fluss. Der Autor ist nicht festzulegen, nicht einzuschnüren in ein kulturelles Gestell. Vielmehr finden sich Anklänge verschiedenster Zeiten und Regionen. Oberiu ist zu finden, Züricher Dada und Wiener Schule, aber auch strenge Form und Silbenzählerei. Fröhlicher Eklektizismus.
Im Frühjahr wird bei kookbooks sein erster Lyrikband erscheinen. 

Jan Kuhlbrodt, Ostragehege, Heft 79, 10.3.2016

Ebbe 

Wenn ein Körper sich der Mondkraft unterwirft, erfährt er sie scheinbar nie ganz, sondern als zwei aufgespaltene, sich entgegengesetzte Teilkräfte – die banalen, keiner Hermeneutik bedürfenden Kräfte von Anziehung und Abstoßung. Welcher Abstraktion bedarf also der Blick auf ein offen daliegendes Wattenmeer bei Ebbe, um in ihm zugleich den unabdingbar gefluteten Sand zu erkennen? Keiner.
Viel mehr noch, es ist kaum möglich, sich das zum Mond fliehende Wasser als eine einzige gerichtete Bewegung zu denken, die aufgrund von Perspektiven (Stellung des Mondes zur Erde) zweigeteilt erscheint.
Ich kann den Meereskörper auf die humane Form, den menschlichen Körper übertragen, schließlich unterwerfen sich beide der Mondkraft. Aus diesen Körpern erwächst auch deren abstrakte Form, der Gedichtkörper, der sich aus beiden Formen zu speisen versteht.
Die Zustände des Wattenmeeres bei Ebbe und Flut, die nicht immer konkreten und dennoch immensen Veränderungen im menschlichen Körper abhängig zum Mond, die Wölfe, deren Geheul und Gesamtbild eng an den Mond geknüpft sind – ich denke sie mir vorerst zweigeteilt als Skelett und Fleisch.
Der grausame Mond hinterlässt bei Ebbe das nackte Skelett der Dinge, das sich jeglicher Interpretation entzieht, macht sie verständlich und begehbar. Der liebe Mond befüllt die nackten Knochen mit Fleisch und formt sie zum multidimensionalen Individuum, nicht selbsterklärend, nicht ohne Einsatz begreifbar.
Verstehe ich mich als Körper, der sich einem von mir erdachten und dennoch realen Einfluss des Mondes ausliefert, erwarte ich von einem Gedicht, dass sich in ihm ebenjene scheinbar entgegengesetzten Kräfte spiegeln, um sich am Ende (sic!) als ein Mechanismus zu entlarven, der in seiner Gesamtstruktur (sic!) einem einzigen großen Impuls aussetzt. Fleisch und Skelett zugleich als Zeilen, die wie unausgeglichene Gegengewichte innerhalb des Gedichts umherpendeln, magnetisch aufeinander einwirken und ein dynamisches Mobile hervorbringen – das lebendige, multilaterale, pulsierende Gedicht, dessen Verweise in alle Himmelsrichtungen deuten, aber im Innren auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt hinauslaufen – das Gedicht als stacheliger eingerollter Igel, der sich in einem verzweifelt harmlosen und dennoch unendlich mutigen Akt seinem natürlichen Feind, dem Wolf, entgegenstellt. Das Bild des heulenden verwirrten Wolfes bildet sich unaufhaltsam vor meinen Augen, das Mondgedicht.

Yevgeniy Breyger, Ostragehege, Heft 79, 10.3.2016

express! ein stream muss her. Im Stream Elke Engelhardt, Yevgeniy Breyger und Stefan Schmitzer.

liegengeblieben #3 [flüchtige monde von yevgeniy breyger]

 

Yevgeniy Breyger und Michael Lentz – Das Gedicht in seinem Jahrzehnt – am 27.5.2022 im Haus für Poesie

Literarische Selbstgespräche … keine Fragen stellte Astrid Nischkauer – Von und mit Yevgeniy Breyger

Im Gespräch: Timo Brandt redet mit Yevgeniy Breyger

Eugen El: „Ich habe mich frei gefühlt“

Kultur Heute Spezial: Christine-Lavant-Preis 2023

Klemens Renoldner: Christine Lavant Preis 2023 – Laudatio auf Yevgeniy Breyger

 

DADAFLUCHT
Mit Yevgeniy Breyger

Erkenne meine Flechten, dummer Duft. Du brachtest Red’ auf Sessel, Schatten und Sorgen, Kieselverständnis zum Grund eines Buches, Defekt. Mit Parkinson greifen meine Finger unablässig in deine fünf Namen. Im sicheren Winkel von wem erfundener Augen spaziert dein Name zurück? Fächeln von Luftimitaten durch ein schmutziges Netz (deine Lungen). Umarmt von Beobachtung, Taumel, bin ich noch klein, komme nicht dran. Zweithautmontur aus Spitze, Gedächtnis. Es fehlt mir als einfacher Schein. Ich sitze im Setzen auf Zufall und Schrulle. Nage am Knochen, bis er glitzert. Du willst, dass ich sei, also bin ich bereit. Ist ja Galgenfrist bis Spatenzeit. Hörst du ein Äffchen im Wald? Wieder durchwachte Affekte, bringe – wir bringen Red’ auf die Sessel, als wäre der Welt für immer mit Grellem zu trotzen.

Alexandru Bulucz

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + YouTube
Porträtgalerie: Dirk Skiba Autorenporträts
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Yevgeniy Breyger — Hundert Autoren präsentieren ihre Arbeit im Internet.

Keine Antworten : Yevgeniy Breyger: flüchtige monde”

Trackbacks/Pingbacks

  1. Yevgeniy Breyger: flüchtige monde - […] Klick voraus […]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00