Bert Papenfuß: RUMBALOTTE CONTINUA 2. Folge

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Bert Papenfuß: RUMBALOTTE CONTINUA 2. Folge

Papenfuß/Teichert-RUMBALOTTE CONTINUA 2

MÜTTER UND TÖCHTER

Auf dem Dach der Jurte
ein von Bremsen gefressenes
riesiges Rentierfell. Die Gestirne.

Ein nackter Mann,
das Hemd in seiner Brust,
macht Licht an. Der Funke fliegt.

Eine geschickte Frau
zieht Perlen auf eine Schnur.
Ein Gänsegeschwader erhebt sich.

Ein garstiges Tier,
im Zaum von Zwanzig
bis Dreißig. Zunge und Zähne.

Zwischen den Häusern
werden blutige Fleischbrocken
umher getragen. Klatsch und Tratsch.

aaaaaHat keine Hand,
aaaaahat keinen Fuß, klettert
aaaaanach oben. Der Teig gärt.

aaaaaVier Frauen,
aaaaaTuch umgehängt.
aaaaaDer Tisch ist gedeckt

Der Donner kracht,
ein russischer Handschuh
wird geworfen, ein Kind gestillt.

Ein gutes Pferd bringt
die Nacht mit der Schlinge.
Die Spindel am Ende des Fadens.

In einer Ecke des wüsten,
des öden Waldes weint eine Frau
unter einem roten Kopftuch Schwämme.

Mitten im Dorfe
steht eine knotige Klette.
Die Kirche. Das Nest des Eichhorns.

aaaaa„Der gelbe Kranich fort, wer weiß wohin?
aaaaaGeblieben nur des Wanderers Rast.
aaaaaWein gespendet dem wogenden Strom,
aaaaades Herzens Flut drängt mit den Wellen hoch.“

 

 

HERBST IN PEKING: „Es gibt keine Freiheit (Maritime Noir)“. Ein Tribut an den letzten Matrosen von Kronstadt.

BOB RUTMAN: „Es Gibt Keine Freiheit

 

Vier Gründe – zwei sachliche und zwei sentimentale –

bewegen mich, Ihnen dieses Buch nahezulegen:

1. Bert Papenfuß gehört zu den wenigen, die mir die Dichtkunst gangbar machen. Da mir Gedichte meist befremdlich oder unwegsam bleiben, bekunde ich Dank für jeden Zugang: Bei Papenfuß ist mir der erste die Sprachliebhaberei. Welches Schwelgen in gefundenem, erfundenem, verschwundenem Wortschatz. Welche Sicherheit, das dümliche, das verlutschte Wort zu umfahren, zu überfahren, zu zerzupfen. –
2. Zweiten Zugang schenkt mir des Papenfuß’ geistiges Wurzelwerk: alles ist gründlich beforscht, begründet, erlesen. Auf Fußnoten und Wissensgründe setzt sich alle Zeile lang der Vers, steht fest und verzweigt sich in viele Bibliotheken. –
3. Den Papenfuß meinen Freund zu nennen, wäre vermessen; im weiten, fernen, sittlichen Sinne aber ist er es doch. Welch schöne Fahrt einmal mit ihm und Bernd Kramer nach Jena im Zug vorm Bier! Wie schön, mit Menschen zu reden, die so frei von Glaubenssatzungen und so erfüllt und verzückt sind von Büchern, Geschichten, Anekdoten, Gedanken und niederträchtigen Witzen. Brüder im Geiste also! –
4. Nun, mit dieser Veröffentlichung ist Bert Papenfuß mein Verlagsgefährte beim Karin Kramer Verlag! Ich schätze diesen Verlag und weiß mich seinen Anstiftern Karin und Bernd in bester Freundschaft verbunden! Nunmehr also Brüder und Schwester im Geiste!

Thomas Kapielski

RECHTSCHREIBUNG, ARBEITSTEILUNG UND GAMELANKLANG

Alexander Krohn: Warum nutzt Du keine Großbuchstaben? Was hältst Du von der Rechtschreibreform?

Bert Papenfuß: Im Augenblick bin ja ich derjenige, der Großbuchstaben benutzt, und einen nahezu Duden-konformen Text verfaßt, zum Teil der alten Rechtschreibung folgend, z.T. der sog. Neuen. Als ich anfang der 70er Jahre anfing zu schreiben, war es ja Mode, kleinzuschreiben, erschien mir auch logisch angesichts des Englischen, Russischen usw. – außerdem war das Grimmsche Wörterbuch auch klein, und so viel ich weiß, auch der Ur-Duden. Ich wollte nicht akzeptieren, daß mir der Staat vorzuschreiben hat, wie ich schreiben soll, besonders auch eingedenk all der phantastischen Schreibweisen des Mittelalters, des Barock und der Romantik. Irgendwelche Reformen sind mir völlig schnurz; Fachleute, also Dichter, schreiben wie sie schreiben. Wenn sie angepaßt schreiben, liebäugeln sie mit der schnöden Presse.
Ebenso war ich damals angetan von dem Groß-, Klein- und Interpunktionsgewitter bei Arno Schmidt. Aber ich wollte, daß man meine Texte, die ich für kompliziert hielt, was ich heute nicht mehr tue, genau liest, und entschied mich daher ebenfalls für die Kleinschreibung. Dabei bin ich einfach geblieben. Wichtig ist mir auch, daß es am Zeilenende keine Interpunktion gibt, weil diese oft den Zeilenbruch in Frage stellt und es dem Leser zu leicht macht.

Auf Bali selbst ist die Arbeitsteilung zwischen dem Mann und der Frau ein wenig verschoben, denn hier wird Pflügen und Säen vom Mann, das Schneiden des Reises aber von den Frauen besorgt. Die Frauen scheinen nach allen Berichten sehr mit Arbeit überlastet zu sein. Daß hier, wie überall auf der Erde, die schwere Arbeit des Wasserholens (Wasser ist eben das Element der Frau) nicht vom Manne übernommen wird, ist leicht begreiflich. Die Frau muß auch in den Zeiten, in denen der Acker keine Arbeit fordert und die Männer sich mit Hahnen- und Grillenkämpfen befassen, für Erwerb sorgen und zwar durch Verkauf von Blumen und Früchten, von Sirih und Getränken, und einen großen Teil ihres Verdienstes an die Männer abgeben. Die Frauen aber machen, wie man auf den Bildern sieht, durchaus nicht den Eindruck von Leidenden und man kann nur annehmen, daß diese Art der Arbeitsteilung der Natur der Frauen in hohem Grade entspricht. (Ernst Fuhrmann: „Malaien“. In: Gregor Krause: Insel Bali, II. Band. Folkwang-Verlag, Hagen i. W., 1920.) Wie sind Deine Beobachtungen vor Ort, die Arbeitsteilung und die Rolle der Frau im öffentlichen Leben betreffend?

Krohn: Die Arbeitsteilung funktioniert gut und geschlechtlich verzahnt. Die Menschen scheinen fast gern zu arbeiten. Das ist wohl darauf zurückzuführen, daß sie hier gern leben. Bali ist eine reiche Insel und klimatisch gut gelegen – viel Sonne, viel Wasser. Alles sprießt und explodiert geradezu vor Fruchtbarkeit. Eine Rollenverteilung ist nur bedingt zu beobachten, überwiegend werden Tätigkeiten von beiden Geschlechtern gleichrangig ausgeübt. Wie überall in Süd-Asien sieht man Frauen z.B. auf Baustellen schwere körperliche Arbeit verrichten. Einer der wenigen typischen Männer-Berufe ist z.B. der des Fahrers. Andere Männerdomänen liegen entweder in neuentstandenen Arbeitsbereichen, wie Touristen anlocken, Verbotenes verkaufen, Leute behumsen oder sind etwas schwer durchschaubar, wie planen, organisieren, disputieren – wobei der Eindruck entsteht, daß es oft dabei bleibt, und Frauen, oder zumindest die Älteren, letzte Entscheidungen fällen. Frauen halten sich mehr im Hintergrund, erscheinen aber bestimmt und wissend. Männer sind auffallend oft faul. Tätigkeiten, die man im Liegen ausüben kann, werden im Liegen ausgeübt. Ob Laden oder Essenstand, ob Mann oder Frau, man muß die Verkäufer oft auf einem Bett oder einer Liege wecken, um bedient zu werden – es ist tagsüber unsagbar heiß.
Die Geschlechterverteilung in der Politik ist vermutlich männerdominant, das indonesische Regierungsoberhaupt ist aber eine Präsidentin. Bali bildet zum Rest des muslimischen Landes natürlich eine Ausnahme, da hinduistisch.
Die Frauen wirken auf eine natürliche Weise selbstbewußt. Aber im Gegensatz zu den asiatischen Ländern mit vormals sozialistischer Verwaltung, in der die Gleichberechtigung staatlich forciert wurde, fußt das Selbstverständnis der Frauen auf Bali zu einem großen Teil auf Schönheit. Eine beträchtliche Zeit des Tages wird darauf verwandt, Blütenkörbe zusammenzustellen, Gewänder zu nähen und sich anzukleiden, den Garten zu pflegen, Blumen zu gießen, auf mehreren kleinen Tempeln und Altären Opfer darzubringen, Räucherstäbchen anzuzünden, sich zu waschen und zu schmücken. Religion und Schönheit sind stark miteinander verbunden, auf das Jahr verteilt ist jeden dritten Tag eine Zeremonie, die vorbereitet werden will.
Heinz Haupt, der Großvater meiner Flamme, ehemals 40 Jahre im Wagonbau Bautzen tätig, erzählte einmal von Arbeitskollegen, die im Rahmen eines Arbeitsaustausches auf Bali waren und nach der Wiederankunft ganz aufgeregt meldeten: „In Bali wohnen die schönsten Frauen der Welt!“ In der Tat blühen hier ganz anmutige Gewächse – die schönsten Frauen allerdings, abgesehen von erwähnter meiner, wohnen in Myanmar.

Papenfuß:

In der Nacht, die auf die Tempelzeremonien folgt, finden dann die bekannten Kristänze statt. Frauen, die in einem Kreise sitzen, schwingen Feuertöpfe mit Weihrauch und geraten nach einiger Zeit in eine Verzückung, machen mit den Armen krampfhafte Bewegungen, rollen mit den Augen und stoßen unzusammenhängende Töne aus. Sobald diese Personen mit der Gottheit, die in sie gefahren ist, gesprochen haben (sie werden Permadé, Permas und Wewalèn genannt) und sobald die Opfergaben der Gottheit angeboten sind, welche durch Vermittlung der Permadé ihre Dankbarkeit bezeugt, beginnt in einigen Personen eine Erregung, sie greifen nach dem Kris, dem Speer oder der Lanze und führen damit einen wüsten Tanz auf, wobei es nicht selten vorkommt, daß sie sich ernstlich oder sogar tötlich verwunden.
Mehrmals sah ich, daß das Blut aus einer klaffenden Brustwunde tropfte und der wahnsinnige Kristänzer steckte nur eine Blume in die Wunde und tanzte weiter. Selbst kleine Kinder nehmen an der Tollheit teil. Es kostet die größte Mühe, ihnen die Waffen aus den krampfhaft geschlossenen Händen zu nehmen und sie auf diese Weise unschädlich zu machen.
Die Balier nehmen mit Herz und Seele an diesen sinnlosen Vorstellungen teil. Frauen und Mädchen sehen mit Spannung auf einen Besessenen, der über den Boden rollt und einem lebenden Küken den Kopf abbeißt, um dann mit bluttriefendem Mund durch den Tempelhof zu rennen.
(P. de Kat Angelino: Mudras auf Bali. Handhaltungen der Priester. Zeichnungen von Tyra de Kleen. Aus dem Niederländischen übersetzt von Ernst Fuhrmann. Folkwang-Verlag, Hagen i.W. und Darmstadt, 1923.)

Scheint damals ganz schön gerockt zu haben auf Bali, wie ist das heute? Ozzy Osbourne hat ja neulich der Queen ein Ständchen dargebracht, würdest Du für Doris – glaub ich, heißtse – Schröder auftreten?

Krohn: Die jugendlichen spielen E-Gitarre in einer Band und nachmittags klöppeln sie auf traditionellen Instrumenten bei einer Zeremonie. Ich habe neulich darüber nachgedacht, wie es wäre, eine Gitarrenschule aufzumachen und der Entwicklung vorzugreifen, in dem ich potentiellen Schülern den Spaß einer Rückkopplung nahebringe oder zeige daß man mit einem Flaschenhals, einer Gitarre und einem Verstärker prima in die Luft fliegen kann, denn das kommt alles sowieso. Im Austausch dafür könnten sie mich rhythmisch ein wenig bewußtseinserweitern, wir Deutschen sind ja da etwas hölzern. Wie in vielen Ländern ist ein Bruch zwischen traditioneller Musik und moderner Rock-Musik angloamerikanischen Vorbilds zu registrieren. Zwar interessieren sich immer noch junge Menschen für ihre „Volksmusik“ und praktizieren sie regelmäßig, aber es scheint sich eher um Traditionspflege zu handeln, als um eine Fortentwicklung, was einerseits zu bedauern ist, da die balinesische Musik und ihr traditionelles Instrumentarium raffiniert ausgetüftelt sind (die Instrumente sind uns Europäern fremd, erinnern an Trommel, Zither, Streicher oder deren Vorgänger), andererseits spricht das nun mal auch für den Magnetismus Frank Zappas, der hier sehr beliebt ist.
Die Musik klingt dem Laien wild, ungezügelt, ungeordnet, meditativ-rauschhaft, irgendwie besessen oder verhext, nur ist sie eigentlich alles andere als chaotisch, denn sieht man den Musikern und Musikerinnen im Rahmen einer Zeremonie oder Probe auf die Finger (man sieht fast täglich Leute musizieren), stellt man fest, daß das alles wohlgeordnet, genau einstudiert, mit orchestraler Präzision abläuft, lediglich partiell einigen Freiraum zur Improvisation bietet. Ein klassisch ausgebildeter Musiker bräuchte vermutlich eine Weile, sich dort einzufinden. Instinktiv agierende Felsensterne hätten es vielleicht einfacher; Bruno Adams hätte das drauf, oder Chris Hughes, vielleicht auch Dein Kumpel von
Freygang, aber, um auf Deine Frage zu antworten: hier steppt der Bär.

Würde ich für Doris Schröder-Köpf spielen? Nein, es sei denn, sie käme auf ein Konzert. Künstler und Politiker sind unterschiedliche Figuren, das einzige, was sie eint, ist „der Wille zur Macht“. Tosender Beifall, Charts oder Bestseller-Listen, Preisverleihungen, Erwähnungen in Lexika oder Anthologien lassen die wenigsten kalt – Erfolg ist wie Alkohol: erstmal was schönes, in Maßen anregend, gelegentliche Überdosierung erweitert den Erfahrungsschatz, auf Dauer gefährlich, ganz ohne: auch öde. Es ist ratsam, sich frei zu machen von Wünschen, die über das Lebens-, Produktions- und Reproduktionsminimum hinausgehen. Ein bißchen Buddhismus an dieser Stelle kann nicht schaden: das letzte Hemd ist voller Maden.
Es gibt auch solche, die an Geld und Macht nur mäßiges Interesse haben. Das Klischee des Künstlers, der permanent pleite, etwas weltfremd (= geldfremd) und irgendwie rundum karriereuntauglich durch die Gegend eiert, existiert ja nicht umsonst. (Nicht zu verwechseln mit den sog. Hilfspunks, welche ihr Unvermögen als Genialität oder Marktverweigerung auslegen, um dann bei der kleinsten, sich ihnen bietenden Chance, umzukippen.)
An diesen interessiert mich die Verlagerung des Machtbedürfnisses. Wenn ich mir den Maler Ole Christiansen bei der Arbeit vorstelle, denke ich an einen Ringkampf. Ringen mit sich tut auch René Schwettge beim Singen. Oder um es für Deine Sparte zu sagen: Wer in der Politik keine Macht hat, hat nichts zu sagen; wer als Dichter nichts zu sagen hat, macht besser dicht.

 

REISEN UND ALTERN

Krohn: Deine Texte machen einen rost- und rastlosen Eindruck, als würdest Du, wie man so schön sagt, in Bewegung bleiben. Reist Du viel?

Papenfuß: Nein, in der Regel nur, wenn ich gerufen oder eingeladen werde, oder eine anständige Reise mit einer Einladung zu einer Lesung o.ä. verbinden kann. Hat natürlich finanzielle Gründe aber wohl auch prinzipielle, ich kann z.B. auch nicht Auto fahren, und könnte es wahrscheinlich auch nicht, wenn ich es wollte. Allzu viele Reize, ich bin fixiert und engstirnig, kurz: zu konzentriert, um auf alles mögliche zu achten. In den 70er und 80er Jahren war ich ein widerwilliger und mürrischer Tramper, bin auf diese Weise aber ganz schön rumgekommen zwischen Greifswald, Grevesmühlen, Gotha und Görlitz. Ab 1987 war ich dann hin und wieder auch im Westen unterwegs, wo es mich zunächst in die keltischen Gefilde zog. In den 15 Jahren seither war ich lediglich in dem Flecken zwischen Moskau und San Francisco unterwegs, Obergrenze Bergen in Norwegen und Untergrenze Rom. Freiwillig bin ich nur einmal nach Belfast gereist, wenn ich noch mal freiwillig irgendwohin reisen müßte, würde ich im Sommer nach Nordnorwegen fahren, aber da trifft man die ganzen deutschen Nordlandreisenden, außerdem ist das Bier zu teuer usw., wahrscheinlich wäre Sibirien eine Alternative, aber die Mücken. Auf meinem Plan stehen noch Leningrad, wo ich mal gelebt habe, und Astrachan. Hat mit den russischen Sozialrevolutionären zu tun, die gerne in die Peter-Pauls-Festung gesteckt und in Schlüsselburg hingerichtet wurden, und den Futuristen, die gern in Piter abhingen und sich bei dem arrivierten Maler Repin in Kuokkala durchfraßen. In Astrachan gibt es ein Chlebnikow-Museum, und für Fuhrmann war Astrachan das Kaff, aus dem die Asen (= Asier) kommen. Trachan = Doroga = Treck = Weg bzw. Ausgangspunkt des Weges.
Reisen ist mit Sicherheit eine bessere Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, als sagen wir mal Krankheiten, die z.B. Christa Wolf gern als Ausgangspunkte ihrer eigenen und der gesellschaftlichen Entwicklung benutzt. Ich hatte aber nie den Eindruck, daß ich frei genug bin, anderenorts wat zu schnallen. Dazu war ich nicht lange genug an einem bestimmten Ort und hatte zudem meist keinen „Führer“, der mir die Eigenheiten und Geheimnisse der Lokalität zeigt. Partielle Ortsahnung habe ich lediglich von Chicago, Belfast und Moskau. Wenn ich dahergelaufene Freunde und Bekannte durch Berlin „führe“, versuche ich, ihnen versteckte Orte des speziellen Interesses zu zeigen, und ihnen beizubringen, sich nicht allzu sehr verarschen zu lassen. Ich bin in Bewegung, weil ich durch meine Umtriebigkeit, sprich: Lesungen, Übersetzungen, Veranstaltungsorganisation und Herausgabe von Büchern und Zeitschriften, viele Leute treffe, hin und wieder auch sonst wo, wobei einiges an Mitteilung bei rum kommt, was mich bewegt. Nur der Bewegte bewegt, aber: Nicht bewegen kannst du den Beweger des Bewegens.

Krohn: Warum durftest Du bereits 1987 in den Westen reisen? Wie wirkte Westberlin damals auf Dich?

Papenfuß: Seit Anfang der 80er Jahre bekam ich immer wieder Einladungen zu Lesungen in Österreich und Westdeutschland, zu denen ich als Untergrunddichter natürlich nicht fahren durfte. Ab 1986 setzte dann so etwas wie ein kulturpolitisches „Tauwetter“ ein. 1987 erhielt ich eine Einladung zum Poetry International Festival in Rotterdam, Christa Wolf und Karl Mickel setzten sich für mich ein, und ich kriegte das Visum. Wahrscheinlich hat sich auch Sascha Anderson von West-Berlin aus, wo er seit 1986 lebte, bei der Stasi für mich eingesetzt. Jedenfalls war Sascha der Lyrikvertreter für den Westen und ich der für den Osten Deutschlands auf diesem internationalen Festival. Wir stellten im Vorfeld eine Band zusammen aus den Musikern, mit denen wir schon im Osten zusammen gearbeitet hatten, die jedoch mittlerweile auch in West-Berlin lebten. Sascha und ich hatten Solo-Lesungen, traten danach aber mit unserer Band auf, die wir spontan STERNCKOMBO nannten. Die Kritiken unserer Auftritte waren sehr aufs Äußerliche bedacht und schlecht, Sascha wurde wegen seiner „SS“-Schaftstiefel angemacht und ich verschwand hinter meiner Ganzkörperlederkluft – barocke Filigranpoesie und elektrischer Krach sind nicht jedermanns Sach’, oft auch nichts „Für Sie“. Wir waren auf jeden Fall zu existenzialistisch für die holländische Multikulti-Szene, haben aber gut gefeiert, die Hotelrechnungen überzogen und Leute kennengelernt, mit denen wir später zusammenarbeiten sollten.
Ich hatte damals eine englische Freundin, die nach Rotterdam kam, und in unserer „Ckombo“ Klarinette spielte. Sie lud uns nach London ein, und nachdem ich mir in der Westdeutschen Botschaft einen Paß hatte ausstellen lassen, fuhren wir nach London, was mich mehr beeindruckte als Holland. Auf der Fähre sangen englische Fußball-Fans „We are the Nazis, we are the warriors“. In Dover wurden wir gefilzt, meine Freundin Diana erklärte dem Öler sinnloserweise, daß wir von einem „Poetry Festival“ kämen, was er als Provokation auffaßte, und begann, nach Küken im Kofferraum zu suchen – er hatte „Poultry“ (Geflügel) verstanden. Freundlichkeit zahlt sich nicht aus, und mit Poesie soll man nie protzen.
In den 80er Jahren hatte ich so einen allgemeinen Keltenknall, die „Irische Sache“ war mir ans Herz gewachsen, und ist es teilweise heute noch, aber das steht auf einem anderen Blatt, unter uns. Jedenfalls fuhren wir in den keltischen Süden der Insel, nach Cornwall – waren kurz in Lands End und fuhren dann zu Uther Pendragons Festung Tintagel, wo sich an Merlins Strand meine Schuhe im Atlantik auflösten. In London kaufte ich mir 10-Loch-Docs für 15 Pfund und einen Haufen Platten (Pogues, The Men They Couldn’t Hang usw.), auf dem Rückflug von Amsterdam nach Ostberlin hörte ich aber T-Rex’ Futuristic Dragon, yes.
Auf diese Art und Weise blieb mir die Frontstadt als Westeinstieg erspart, aber es ging weiter. 1988 wurde mir auf einer Party beim inzwischen seligen Diller gesteckt, daß ich in Südtirol einen mit 7.000 Bunten dotierten Literaturpreis gewonnen hätte. Also beantragte ich wieder einen Paß, der genehmigt wurde, sogar für 3 oder 6 Monate. So April oder Mai 88 war ich dann vor der Reise nach Italien zum ersten mal in Westberlin, zu einem Auftritt beim Stakkato-Festival für Neue Musik und Kunst im Bahnhof Schlesisches Tor, hab aber erst mal wenig mitgekriegt von dem Kaff, weil’s gleich weiter ging. Später dann in Ruhe hab ich viele Leute getroffen, die ich noch aus den Osten kannte bzw. im Osten kennengelernt hatte, die aber in Kreuz- und Schöneberg wohnten. Die meisten krepelten rum, hatten kein Geld, keine Arbeit und keine Lust zu malochen, kamen kaum raus aus der umzingelten Stadt, deswegen ja auch die rituellen Krawalle und Kellerlochparties mit zeremonieller Substanzeneinnahme, was auf die Dauer natürlich ins Geld und auf den Docht geht. „Am Arsch vorbei“ war das Modewort dieser Tage. Von den Konzerten sah man sich nur die Zugaben an, weil dann der Eintritt frei war.
Ich hatte Kohle, weil ich ja nur da war, wenn ich eine Lesung oder sonst welche Honorare hatte. Ich war privilegiert, man warf mir meine billige Miete im Osten vor. Ein Freund forderte von mir mich zu entscheiden – wenn ich Beck’s trinken wolle, müsse ich auch die Konsequenzen ziehen. Im Rahmen meiner Möglichkeiten versuchte ich, meine Ex und meine Tochter zu unterstützen, die in einem besetzten Haus wohnten.
Ich lernte eine Frau kennen, die mit mir im Osten wohnen wollte, aber im Westen als Journalistin, Übersetzerin und Schriftstellerin arbeitete. Sie bekam ein Arbeitsvisum vom Aufbau-Verlag, mit dem ich in Beziehung stand, mein erstes offizielles Buch war dort in Vorbereitung. Der Verlag bot an, uns bei der Wohnungssuche bzw. Vergabe von Objekten behilflich zu sein, was wir dankend ablehnten. Wir haben uns auch bald getrennt, aber sie war die erste, die ich kennenlernte, die – als Ex-Trotzkistin – „the best of both sides“ wollte.
Sowas war damals kurzzeitig möglich, dann kam der Kladderadatsch. Zur Stadt Westberlin selber fällt mir nicht viel ein – Stadt ist Stadt. Natürlich war Westberlin sehr geleckt und zugepflastert im Vergleich zum Osten, aber man wußte:

Das geht auch wieder ab.

Mein Eindruck von Berlin war 1971 stärker, als ich begann, mich hier rumzutreiben, oder 1976 als ich herzog, und ins Kaffee Burger ging.

Krohn: Wie weit geht bei Dichtern schauspielerisches Talent? Kannst Du bei der Beantwortung der nächsten Frage in eine Rolle schlüpfen und in einer für Dich untypischen Sprache glaubwürdig rüberkommen?

Papenfuß: Dichter sollten so gut schauspielern können, daß sie ihre Texte überzeugend rüberbringen, nervöses Gestammel ist eine Qual für den Vortragenden und Zuhörenden. Wenn Dichter zu Schauspielern geraten, was in der repetitiven Performance Poetry gang und gäbe ist wird’s abgeschmackt – sind schließlich extra keine Rockstars. Lacher provozieren ist eitel Selbstdarstellung der eigenen Ausdrucksunfähigkeit mit anderen Mitteln. Von manchen Romanschriftstellern, z.B. Leonid Andrejew, ist bekannt, daß sie in Rollen schlüpfen; inwieweit das gut oder gar nötig ist, können sie meinetwegen stecken lassen. Einige ticken durch und steigen aus, wie Andrejew, der sich über seinem misanthropischen Tagebuch des Satan vom Leben verabschiedete. Auf diese Weise hat er ein unvollendetes und dennoch gutes Buch hinterlassen. Andererseits spinnen Dichter und Schriftsteller, verbreiten Märchen über sich und befördern die Legendenbildung, oft wechselseitig bzw. gegeneinander, so auch Gorki und Andrejew. Schwamm drüber, hauptsach’ liest sich jut und kommt Uffschluß bei rum.

Krohn: Weil Du ihn so magst, wieder Benn: Altern als Problem für Künstler – inwiefern haben sich Deine Ansichten über Lyrik in den letzten 20 Jahren verändert?

Papenfuß: Altern ist überhaupt ein Problem, nicht nur fürs Künstlergesocks. Mich fasziniert die Diskontinuität des Alterns; ich war mit 19 älter als mit 43, und mit 30 ungefähr so alt wie mit 46 usw., Zipperlein und Wehwehchen können einem jungen Menschen mehr zusetzen als einem mittelalterlichen, kommt auf die Erlebenstiefe der jeweiligen Abgründe an. Ob man Verjüngungsprozesse forcieren sollte, weiß ich noch nicht so genau. Meine Ansicht über Dichtung hat sich in den letzten 30 Jahren insofern geändert, als ich mich heut nicht mehr so wichtig nehme wie seinerzeit, und das lyrische Ich immer rhetorischer geworden ist, geblieben ist der beharrliche Mangel an Themenvielfalt, die vom Eigentlichen, was wiederum durch mich geht, ablenken könnte. Die Darstellung des Prozesses einer Findung oder Verirrung muß durchsichtig bleiben und Klang schöpfen, und brechen. Das Eigentliche ist hierbei das Ich im Wir und umgekehrt bzw. seine Artikulation oder Simulation, je nach dem, was man will.

 

WIDERSTAND UND SCHÖNHEIT

Krohn: Ist Literatur immer Widerstand?

Papenfuß: Nee, Betroffenheit, Erregtheit, Bewegtheit, Ergriffenheit sind auch legitime Motive. Man erfährt durch andere Menschen Tiere und Pflanzen, das muß man erst mal zulassen. Wenn Widerständiges in den Mitteilungen der Lebewesen bzw. Ex-Lebewesen wie z.B. Fossilien, Erdöl usw. enthalten ist, wird Aufbegehren zur Ehrensache. Wenn das nicht der Fall ist, hat man Pech und muß sich selber durchdringen, durchsetzen, erwehren und behaupten.

Krohn: Wogegen?

Papenfuß: Erst mal gegen die Überwältigung durch das Klischee, denn das bringt einen nicht weiter – und weiter muß man, was man diesmal nicht schafft, hat man erst mal verpaßt. Immer schön die Quantitätshürde nehmen und den Qualitätssprung verbessern.
Mutation braucht Freiraum. Das Klischee kulminiert im Staat, der das Gegenteil von Freiraum ist, also muß er weg. Sowohl in Form der persönlichen Konditionierung als auch der politischen Regierung. Freiheit von Staat, wie Freiheit überhaupt ist erst mal Quatsch, Befreiung hingegen ist ein Prozeß am lebendigen Leibe. Staat funktioniert nur im Tier- und Pflanzenreich, für Menschen ist er Krebs. Tiere kennen keine Macht- und Vorratswirtschaft, die zu Ausbeutung und Unterdrückung benutzt werden. Wenn ein Tier Macht über ein anderes gewinnt, frißt es die Beute und basta. Wenn Tiere Vorräte anlegen wie der Hamster, diese lahmarschige Frostbeule, dann weil sie zu langsam sind und das Wetter nicht vertragen. Menschen haben im Laufe ihrer Entwicklung den sozialen Impuls eingebüßt und müssen ihn sich entweder wieder erarbeiten oder ein Äquivalent dafür. Schreiben im Widerstand ist hierbei nur eine Form.

Krohn: Bezieht sich der Titel Deines neuesten Werkes Rumbalotte auf den Witz mit dem Seemann?

Papenfuß: Ja, mehr ist erst mal nicht dahinter. Der zweite Teil der Opera semiseria heißt dann allerdings Rumbalotte continua, in Anspielung auf die Fortsetzung der Roten Brigaden „Lotta continua“ – „Der Kampf geht weiter“. Ein bißchen vorausschauend sollte man schon arbeiten, was heißt hier arbeiten, schreiben meine ich, und lachen.

Krohn: Siehst Du Buchstaben oder Worte in Farben?

Papenfuß: Nö, mich interessiert das abseitige, oft auch zwiespältige Wort, und das ist oft düster. Ich bin wohl eher fixiert auf die Grade der Helligkeit bzw. Dunkelheit, als auf Farben. Ich hab, das Farbgeschwafel bei den Symbolisten auch nie gemocht, gab’s ja auch in der Musik, Skrjabin usw. – hat aber dazu beitragen, mehr rauszuholen aus dem Wort an sich, Nuancen zu artikulieren und hat dann insbesondere bei den russischen Kubo-Futuristen dazu geführt, überlieferte Bedeutung aufzubrechen und neu zu montieren bzw. neue Sinne zu deduzieren. In derselben Zeit hat auch Ernst Fuhrmann seine Sprachtheorie entwickelt, in der es ja um den solaren, lunaren und astralen Ursprung der vorgeschichtlichen Lautbildung geht. Auf- und Untergang, Ab- und Zunahme, hell und dunkel, Ein- und Ausatmen. Außerdem, bei Lichte besehen bzw. vor allem in der Dunkelheit, gibt es keine Farben, alles nur Brechung durch Oberfläche, wenn auch schöne. Was ist Schönheit für Dich?

Krohn: Im Sinne des englischen Wortes sense vielleicht: eine Sensation. Ich habe keine Ahnung was Schönheit ist. Alles kann schön sein, es kommt auf den Blickwinkel an. Als Ende der Siebziger Punker begannen, um zu provozieren, sich schäbig und häßlich zu kleiden, entstand im selben Moment ein Stück Kultur, daß genau diese Art von Schäbigkeit oder Häßlichkeit Schönheit werden ließ. Wenn man das als degeneriert ansieht, muß man vermutlich jeden kulturellen Wechsel als degeneriert ansehen – aber was soll’s, wurde und wird ja auch. Eine bloße Aneinanderreihung von Dingen, die ich schön finde, brächte auch nichts. Ich schrieb, in Myanmar leben die schönsten Frauen der Welt. Sie sind meist klein, etwas untersetzt und haben rundliche Gesichter; ich meinte die Gestik, den Gang, das Lächeln und die Sprache der Augen dabei. Schönheit hat etwas mit Reinheit zu tun. Schimpft Deine auch immer, wenn Du einen abgebissen hast?

Papenfuß: Logen! Reinheit, Unverdorbenheit, „Natürlichkeit“ sind mir zu mißverstanden romantisch, durch und durch kleinbürgerlich unbefleckt – natürlich ist auch Verderbtheit, Mit-allen-Wassern-Gewaschenheit und Mit-allem-Ätzenden-Gegerbtheit, Reife, Überreife, Fäule. Ich hab’s gern aquatisch, Schönheit muß fließen, veränderlich sein.

Krohn: Ich sprach nicht von Natürlichkeit, sondern von Reinheit. Fließend wächst auch das Krebsgeschwür oder fallen Bomben vom Himmel; der Daumen am Abzug der Todesspritze macht auch eine fließende Bewegung. Das Wort „rein“ fand ich in dem Zusammenhang brauchbarer als das Wort „kleinbürgerlich“.

 

KOMPETENZ UND WIRKSAMKEIT

Krohn: Was ist ein gutes Buch?

Papenfuß: Von einem Sachbuch erwarte ich Kompetenz, von einem literarischen Buch Authentizität. Der kleinste gemeinsame Nenner von Kompetenz und Authentizität ist Substanz. Ein Gutteil der Substanz ist Humor. Ein gutes Buch muß in Sach und Fach Pfiff haben, und möglichst nicht allzu dünn. Pfiff ist auf Kompetenz und Authentizität angewandter Humor – der Düsternis des Untergangs gemäß, es herrscht schließlich keine Aufbruchsstimmung in Mitteleuropa.

Krohn: Wie oft liest Du Deine eigenen Bücher?

Papenfuß: Möglichst lese ich meine Bücher gar nicht. Ich habe sie vor der Drucklegung bis zur Vergasung Korrektur gelesen und kann sie nach dem Erscheinen, das hoffentlich mit einem guten Anblick verbunden ist, nicht mehr sehen. Bei Lesungen trage ich Sachen vor, an denen ich noch arbeite und vorlesend an ihnen weiterfeile. Wenn ich doch mal gezwungen werde, ältere Texte zu lesen, fällt mir gewöhnlich mein handtuchschmales Themenspektrum auf und störende wörtliche Wiederholungen, die bei jeden normalen Menschen als Borniertheit ankommen müßten. Vermutlich habe ich durchgeballerte und wohlmeinende Leser, die dies als Beharrlichkeit deuten. Wenn ich der Pause wegen an nichts Neuem arbeite, oder noch nicht so weit bin, daraus vorzutragen, lese ich gerne Texte von meinen Lieblingsautoren Max Stirner, Ernst Fuhrmann, Franz Jung usw. vor, und zwar ziemlich schlecht.

Krohn: Hast Du auch lebende Lieblingsautoren?

Papenfuß: Nicht wirklich. Ich komme aus einer Zwischengeneration; unsere Elterngeneration hat in der Nachkriegszeit und der Aufbauphase der DDR Erfahrungen gemacht, die an die Substanz gingen, einige von ihnen wie Karl Mickel, Sarah Kirsch, Heiner Müller, Elke Erb, Adolf Endler, Volker Braun sind meiner Meinung nach gute Autoren oder gute Autoren gewesen, da z.T. gestorben oder abgeflacht. Meine Generation ist bestenfalls von der Vergangenheit bewegt, in uns kulminiert nichts bzw. nur etwas, das aus Wenigem zehrt und von wenigen Hundert rezipiert werden kann, deswegen wirft man uns auch gerne Elitismus vor, wat nich’ weiter schlimm is’, James Joyce war auch keine Massenbewegung. Aus meiner Generation die liebsten Autoren sind mir Stefan Döring, der angeblich aufgehört hat, zu schreiben, und Thomas Kling, der sich notgedrungen etwas zu sehr in den Literaturbetrieb begeben hat. Auch bei den jungen, eher hedonistisch orientierten, Autoren der Lesebühnenszene gibt es Leute, die ich mag, z.B. Konrad Endler, siehe www.hortkind.de. Gut is’ die Dichterin Tone Avenstroup, mit der zusammen ich viele ihrer Texte aus dem Norwegischen übersetzt habe, gut ist Anna Hoffmann mit ihrer versprengten Veröffentlichungen im GEGNER oder sonstwo, gut sind die lakonischen Prosagedichte von Ekaterina Tangian.

Krohn: „Wirft man uns Elitismus vor“ – Wer ist „man“ und wer ist „uns“?

Papenfuß: „Man“ ist eine, leider in die Sprache geschliffene, autoritäre Hyperstruktur, die gelegentlich weg kommt, wenn Zeit ist, sich wieder um die Weiterentwicklung der Sprache zu kümmern. Diese Zeit wird eintreten, wenn das derzeitige mediengewollte Verkümmern des sprachlichen Ausdrucks einer größeren Menge talentierter Dichter aufstößt, und diese Arsch genug haben, sich Gehör zu verschaffen. „Wir“ sind der Interessenverbund, der dafür in Frage kommt. Kannst Du Dir ein geruhsames Leben in künstlerischer Wirksamkeit vorstellen?

Krohn:

Wohin zieht es uns
durch diese öde Not
wo kein Licht, kein Weg uns gilt
was soll zum abertiefen Schiffswrack denn
durch diese Wogen toben
Es hat kein anderes uns gehört.

Wenn, ach wenn was trägt zutage
aus unser düsterliegen Stadt
lügentiefem, gutverborgen
Fischkußkorallengrab;
Dann wärs ein Wunsch:
Seemannswiesentag.

Dieses Gedicht schenkte mir Dany Mertineit 1995, wie er schrieb, „zum 600sten Geburtstag“. Deiner diametralen Diskontinuitätstheorie zufolge, müßte ich mich derzeit bei 530 oder so eingepegelt haben, was hoffentlich meine altmodische Einstellung zu Deiner Frage erklärt.
Ich glaube, daß Kunst in Deiner Gegend und Zeit oft aus persönlichen Defiziten und Defekten, aus Zerrissenheit und schlecht austarierten inneren Druckverhältnissen, aus Panik und Kompensation von Reaktionsunfähigkeit, und auch aus Talent, entsteht. Mit dieser Ansicht landet man schnell in einem Terrain, auf welchem Leute herumsegeln, die einem dazu Worte wie „Kitsch!“ oder „Pathos!“ entgegenrufen, ist aber nicht meine Schuld, daß diese grundsolide Arbeitsweise zum Klischee geworden ist.
Talent haben erstmal mehr, als gemeinhin angenommen wird, finde ich. In meinem engeren Bekanntenkreis gab es anfänglich einige gelungene Melodien oder Textzeilen – Glückstreffer quasi, die aber nicht als das verstanden wurden, was sie meiner Meinung nach waren, eine Art Vorschuß, der mit kommendem zu begleichen ist. (Zwecks Neuverschuldung.) Die Arbeit, die Unsicherheit der persönlichen Situation waren die meisten nicht bereit in Kauf zu nehmen, und so blieb er eben uneingelöst. Aber
es passiert nicht nebenbei, man lebt es.
Ganz gut ertragen läßt sich das dann auch durch den einsetzenden Lusteffekt und nicht verwunderlich ist, daß es auf dieser Schaukel zwischen Lust und Zwang gelegentlich entartet, also vermenschlicht.
Was ich dabei nicht so ganz verstehe, ist die ständige Aufspaltung des Geistes. Ich habe schon erlebt, daß etwas kopflastig oder gefühlsüberschwappend gelingt, aber im großen und ganzen funktioniert es doch weitestgehend zusammenfassend – ich habe das Künstlerische immer als etwas Tastendes verstanden, nicht als gezieltes Herumstochern; aber – alle sind verschieden und jeder nach seinem Faconschnitt. Auch gibt es eine Ausnahme: (Vokuhilas) Die Genies. (Ich mag das Wort gar nicht, ich habe noch nie erlebt, daß sich damit ein vernünftiges Gespräch führen läßt, ohne daß dein Gegenüber denkt, man selbst denke, er könnte denken, usw. Es bringt nichts, als sich an die erste Silbe zu halten: Leute, die genetisch bedingt einen Diamanten nach dem anderen zu Tage fördern, und das mit Leichtigkeit.) Diese machen, Bildern und Fotos nach, sehr oft einen geruhsamen, um nicht zu sagen, schwer relaxten, Eindruck – ich denke da z.B. an Picasso oder an unser aller Hengst, Goethe. Wahrscheinlich blühten die in ihrer Arbeit auf, sowas läßt sich ja immer schwer einfangen, ich kenne auch keine Bilder von Schiller, wie er an faulen Äpfeln herumschnüffelt, die er angeblich zwecks Inspiration immer in der Schublade hatte. Apropos Goethe – seit wann bist Du eigentlich Skatologe?

Papenfuß: War ich nie, ich unterdrücke nur ungern Sprachkomponenten, wenn sie dem Kontext nutzen. In meinen Gedichten kann man viele Elemente aus Fachsprachen finden: Seemannssprache, Rotwelsch, Archaismen, Propagandagedöns, Jägersprache, um nur einige unsortiert zu nennen, und eben auch Gossenschnauze. Diese Versatzstücke sind eingesetzt, um einen, meist ja satirischen, Effekt zu erzielen. Subsprachen haben immer auch eine politische Konnotation, Propagandageschnäuz und Jägersprache z.B. sind Artikulationen politischer Macht; Rotwelsch, Seemannssprache usw. oft trotzige Selbstbehauptung im Unterbutterungsprozess der realen Existenz, ob nun „soz.“, kap., imp., neolib. oder sonstrum. Sub- und fachsprachliche Elemente in einem Text können somit auch polarisieren, oft jedoch wird Authentizität vorgetäuscht, um eine direkte Ansprechbarkeit übers Ohr zu brechen. Laß Dich nicht ablenken.

Krohn: Mach ich. Mir fällt nämlich ein, das ich noch etwas unterbringen wollte, bisher aber nicht die passende Gelegenheit dazu fand; und da ich nicht glaube, das sie noch kommt, mach ich’s mal auf die plumpe: Es handelt sich um meine beiden Lieblingswitze und ich bezweifle, daß sie bereits irgendwo aufgeschrieben worden sind. Sie sind aus der Rubrik der sog. „sinnlosen Witze“ – vielleicht kannst Du Dich an Klassiker wie: „Stehn zwei Männer auf ’ner Brücke und der andere heißt Herbert“ erinnern, oder an diesen hier (wie ich finde, durchaus platten- oder buchtiteltauglichen): „Nachts ist’s dunkler als draußen“. Ich habe leider vergessen, wer mir die beiden Witze erzählt hat, ich weiß nur, daß sie bisher lediglich zwei Menschen lustig fanden – der eine hieß Murphy. Ich lernte ihn kennen, als ich 1990 ein halbes Jahr durch Nordamerika trampte. Einmal, an einer Tankstelle im Bundesstaat Nevada, las mich ein alter VW-Bus auf, der aus Kalifornien kam – ich habe das teilweise in den drei nun folgenden Kurzgeschichten thematisch verbraten:

ANHALTER

Ein junger Mann fährt per Anhalter durch Kanada. Es ist kalt,
Oktober und Abend. Er wird an einer Tankstelle abgesetzt
und steht dort noch eine Weile, bis es dunkel wird. Es hält
aber nur ein Mann, der etwa dreißig Meilen weiter fährt. Das
lohnt sich nicht. Der Mann ist im Gesicht tätowiert und fährt
ein altes Auto. Er bietet dem Anhalter etwas zu rauchen an
und der Anhalter nimmt es.
Einen Schlafplatz findet er auf einer Wiese hinter der
Tankstelle, weit genug entfernt von eventueller Gefahr, nah
genug am Licht.
Er raucht und will schlafen. Alles verändert sich nun, er denkt,
er stirbt. Er weiß, daß bei Sterbenden der Körper von unten
aufwärts kalt wird. Jetzt werden seine Füße kalt, dann seine
Waden usw. Am Himmel blinkt ein Stern, die eine Hälfte
schwarz, die andere rot. Er hört einen Frauenchor. Sie singen:
ME – LO – NE und WIR – HOLEN – DICH.
Der erste Ton ist ein E, der zweite ein Cis, der dritte ein B. Auf
dem Cis verweilen sie länger. Am nächsten Morgen fühlt er
sich zerschlagen, das Intervall hat er sich gemerkt.

 

ANHALTER

Ein junger Mann fährt per Anhalter durch Amerika. Es ist
morgens, er steht in San Francisco, am Eingang der Golden
Gate-Brücke und hält seinen Arm hinaus. Das ist verboten, es
hält aber trotzdem jemand. Er hat Glück und fährt den
ganzen Tag, am Abend übernachtet er in einer Casino-Stadt in
Nevada, in einem für Touristen aufgestellten Wigwam. Es
sind circa null Grad Celsius, er hat noch acht Dollar und sieben
Tage Zeit nach Montreal, Kanada zu kommen.
Am nächsten Tag hat er nicht so viel Glück. Er landet abends
an einer verlassenen Autobahn-Auffahrt mit fast gar keinem
Verkehr. Er friert, ist hungrig und hat Fieber. Er ist müde. Es
dämmert. Er denkt sich, er wartet jetzt noch zwanzig Minuten,
bis es dunkel ist, dann legt er sich an den Rand eines Hauses,
um zu sterben. Er war noch nie so müde.
Dann hält ein VW-Bus mit sechs Jugendlichen, drei Tage
später ist er in Albany, New York.

 

ANHALTER

Ein junger Mann sitzt im Staat New York, in einem Fast
Food-Restaurant an einem Tisch vor einem Becher Kaffee und
schläft. Dann ist es Morgen. Er läuft zu einer Autobahn-
Auffahrt und hält seinen Arm hinaus. Er hat noch fünf
Dollar, als er am Abend in Montreal, Kanada ankommt, hat er
fünfundsechzig. Jemand hat ihm vierzig Dollar geschenkt, ein
anderer zwanzig. Er mietet sich für drei Tage ein Zimmer in
einer leerstehenden Wohnung, bevor er nach Hause fliegt. Für
das restliche Geld kauft er Bier, Wein, Brot und Instant-Suppe.
Die ganze Zeit regnet es. Er bleibt in seinem Zimmer, sitzt auf
dem Boden und schaut aus dem Fenster. Die Wohnung liegt
im Erdgeschoß, wenn er rauskuckt, sieht er eine Wand aus
roten Ziegeln. Er starrt drei Tage auf dieses Wand.
Wenn er später, wieder zu Hause, seinen Freunden von seiner
Reise berichtet, wird ihnen nur die Episode mit der Wand in
Erinnerung bleiben.

Die sechs Jugendlichen waren deadheads, wie sich die Fans der Rockgruppe Grateful Dead zu nennen pflegen, und kamen gerade von einem Konzert. Sie waren zwischen 15 und 17 Jahren alt und Murphy war sozusagen ihr Anführer. Die anderen erwähnten mehrmals voller Ehrfurcht, daß Murphy bereits vier Monate im Irrenhaus war und in der Tat tat er sich durch ungewöhnliche Schlauheit hervor. Geld hatte eigentlich niemand. Entweder stahlen sie Essen oder Zigaretten, die sie an der nächsten Tanke wieder verhökerten oder gegen Benzin eintauschten, oder sie bezirzten die Mädchen, die bei McDonald’s am Ausschank arbeiteten und erhielten prompt tütenweise Gratis-Burger. Den Trip überhaupt finanzierten sie durch LSD-Schmuggel, sie hatten hunderte Trips an Bord; die einzelnen, etwa 5mm großen, mit der entsprechenden Säure beträufelten, Löschpapier-Quadrate kamen in großen Bögen, die sie der Tarnung halber zu Kassetten-Einlegern gefaltet hatten – ziemlich clever gemacht das ganze, Murphys Idee.
Einmal fragte mich einer von ihnen:
„Hey Xandi, do you know Bob Dylan?“
„I come from GDR!“
„Bob Dylan once took
twelve trips! And you know what…?“
,,GDR!“
„… Murphy took
thirteen)“
Ursprünglich wollten sie mich nur bis zur nächsten Stadt mitnehmen, es wurde langsam eng, ich kauerte auf dem Boden, Gepäck und Schlafsäcke hatten sie auch, es war feucht und kalt, es roch auch ein bißchen; aber nach einer Weile freundeten wir uns eben an und so bretterten wir alle zusammen in drei Tagen (und Nächten) über den Kontinent.
In Mexiko hatte ich für meinen Schwager Tequila gekauft, lauter kleine 59 Flaschen, und nach und nach spendierte ich eine nach der anderen – der Abend endete auf einem Parkplatz; einer fuhr mit dem Bulli immer im Kreis, Murphy stand auf dem Dach, reckte seine Fäuste in den Himmel und brüllte was, und wir anderen warfen mit Steinen nach ihm.
Zum Abschied dann umarmte mich Murphy und sagte: „Keep on truckin’!“ – ein Ratschlag, den ich bis zum heutigen Tag beherzigt habe. Adressen haben wir natürlich nicht ausgetauscht, Ehrensache.

Der andere hieß Joe. Mein Freund Franz Kowalski nahm mich einmal Anfang der Neunziger mit in Joes Wohnung. Die beiden hatten derzeit eine Band am Laufen, die sich pfiffigerweise Joe Franz nannte und verhältnismäßig lange vor sich hindümpelte, kurz absackte, sich nochmal aufrappelte und endgültig abnippelte – es ist immer wieder beeindruckend. An Joes Badezimmertür stand, ungefähr 30 mal hintereinander: „Ich hasse meine Eltern“, und dadrunter stand:

Aber Joe, wir lieben Dich doch.

Ich verlor ihn dann aus den Augen, soweit ich informiert bin, ist er, nachdem im Tacheles seine Trommeln abgebrannt waren, ins Rat Pub-Haus in die Kastanienallee gezogen, in das selbe Haus, das auch als Tuntenhaus bekannt wurde, und in welchem auf dem Hinterhof „Anton der Drucker“ mehr oder weniger kostenlos verschiedenste Sachen, unter anderem auch vorliegenden Quader hier, druckt. Im Rat Pub selbst war ich nur ein- oder zweimal zu Gast, es soll dort einen Kachelofen gegeben haben, und das letzte, was ich von oder über Joe hörte, war, daß jemand an diesen Ofen geschrieben haben soll:

Joe spinnt.

Auch ging das Gerücht um, daß Joe mal Patient einer psychiatrischen oder psychotherapeutischen Anstalt war – das kann ich allerdings (da ich mich so gut wie nie mit ihm unterhalten habe) nicht bestätigen. Jedenfalls fühlte ich mich von Anfang an zu ihm hingezogen, vermutlich deshalb, da ich an jenem Wochenende, an dem ich ihn mit Franz in seiner Wohnung aufsuchte, gerade Ausgang hatte. Die beiden Witze gehen so:

Ein Mann arbeitet in einer Legosteinfabrik.
Er befördert die Steine von der Fabrik zum Versand.
An diesem Tag hat er 1.000 Legosteine zu liefern.
Bevor er losfährt, zählt er nach, ob es auch 1.000 sind.
Es sind 1.000.
An der Eingangskontrolle fragt man ihn,
ob es auch sicher 1.000 waren.
Er sagt: „Ja.“.
Sie zählen nach.
Einer fehlt.

Und nun der andere:

Eine Oma sitzt mit ihrem Hund in einem Zug.
Ihr gegenüber sitzt ein Mann und raucht Zigarre.
Er pafft dem Hund den Rauch ins Gesicht.
Irgendwann steht der Mann auf und wirft die Zigarre aus dem Fenster.
Dann nimmt er den Hund und wirft ihn hinterher.
Die Frau zieht die Notbremse.
Sie schreit.
Sie läuft, so schnell es ihr eben möglich ist, zum Ausgang.
Sie öffnet die Tür und sieht, daß der Dackel ihr Gott sei Dank entgegenkommt.
Aber etwas hat er im Maul…
Was hat er im Maul?

Den Legostein. Eine andere Sache, die es mir bisher nicht gelang, unauffällig in diesen Text miteinzuflechten, ist ein Ausspruch meines Freundes Ulrich Schrade, der, bis auf eine Ausnahme,1 noch nicht weiter literarisch in Erscheinung getreten ist, und ich glaube, er hat diesen Ausspruch sogar selbst erfunden. Er wendet ihn meistens dann an (und zwar in der Regel sehr schnell hintereinander gesprochen), wenn er versucht, jemandem einen mehr oder weniger komplizierten Sachverhalt zu vermitteln, im Anschluß aber feststellt, daß dieser kein Wort verstanden hat – ich werde ihn am Ende meiner Antwort zum besten geben. Vorher möchte ich noch auf eine Beobachtung aufmerksam machen, die mich oft beschäftigt. Ich glaube, sich in der Unruhe, im Abseitigen, im „Untergrund“ gehen zu lassen, fest zu machen, arbeitet auf Dauer eventuell der Wirksamkeit entgegen. Man muß sich offen halten, so oder so. Vielleicht bin ich aber nun dabei, mich gedanklich zu verheddern; ins Palavern gekommen bin ich auch (nichts von wegen wortkargem Barock), was ich eigentlich sagen wollte, ist: An ein geruhsames Leben denke ich oft, künstlerisch wirksam bin ich sowieso nicht.

Verstehste?
Nee, erzähl mal.
Hab ick doch grad.
Na dann ist gut.

Papenfuß: Weil Du im Tingeltangelgerangel nicht mitspielen willst. Wenn zwei „Einzige“ „Ihrs“ machen, bewirken sie schon was, für-, mit- und durcheinander, und um sich herum. Und wenn Du angegriffen wirst, schießt Du doch zurück.

 

HUMOR UND SCHMUTZ

Krohn: 1977 erschienen erstmalig Gedichte von Dir in der Zeitschrift temperamente. Seitdem hast Du zwölf Bücher geschrieben. Warum veröffentlichst Du Deine Texte?

Papenfuß: Neben einer Reihe originalgrafischer Bücher, die ich nicht überblicke, habe ich 13 Gedichtbände publiziert, wenn man Haarbogensturz, der ja auch Gedichte enthält, mitrechnet. Nicht veröffentlicht ist ein großes, ich sage mal: zweibändiges, Manuskript namens Odium, das zwischen 1982 und 1989 gedrechselt wurde. Kommt noch. 1972 habe ich angefangen Erfahrungen einer kleinen widerspenstigen Gruppe von Leuten zu verdichten. Es entstanden dann in rascher Folge drei Manuskripte (naif, till und harm, die 1993 bei Gerhard Wolf Janus Press erschienen), aus denen ich ab 1976 hin und wieder in auffälligen klandestinen Gruppen vorgelesen habe. Zwischen 1977 und 1980 arbeitete ich an SoJa, das dann 1991 sehr eilig, und somit fehlerhaft, bei Galrev ediert wurde. Ab 1977 fand sich eine Gruppe in Berlin zusammen, die dann später „Prenzlauer Berg Connection“ genannt wurde. Mein Thema innerhalb dieser Gruppe war die Über-Ich- und Überbauproblematik inklusive Beziehungskiste. Meine, oft ja sehr derben, negativen und hinlänglich witzigen und verstiegenen, Artikulationen wurden erstaunlicherweise verstanden, was mich ermutigte, meine Elaborate einem größeren Kreis von Leuten zu vermitteln. Ich begann, mich um Publikationen zu bemühen, was offiziell nicht lief, aber – im Zuge der Popularisierung durch den verständigen Lutz Rathenow und den schwierigen Sascha Anderson – Kultstatus einfuhr. Kleine Heftchen, illegale Zeitschriften und Kassetten der musikalisch-literarischen Kollaborationen kursierten in jedem besseren kulturkritischen Klüngel. Ich war ein Dichter geworden – Dichter fragen sich nicht, warum sie publizieren.
Die Frage „Warum publizieren?“ hat mich in den siebziger Jahren bewegt, und durch die Annahme der Texte beantwortet. In den achtziger Jahren wollte der Großteil der „Prenzlauer Berg Connection“ weder im maroden Staate DDR noch im satten Westen publizieren, wir kaprizierten uns auf den Aufbau einer unabhängigen Subkultur, die mir immer zu wenig Konterkultur war. Ende der achtziger Jahre begann die offizielle Kulturschiene der DDR, uns integrieren zu wollen – skeptisch stellten wir Forderungen, die schleppend erfüllt wurden. Im Januar 1989 erschien mein Band dreizehntanz als erstes Buch der Reihe Außer der Reihe im Aufbau-Verlag in einer Auflage von 5.000 Exemplaren, die sich innerhalb weniger Monate verkauften. Dann kam der Putsch, die „Prenzlauer Berg Connection“ wurde noch eine Weile durch den Westen gehätschelt – nach dem Stasi-Knatsch wurde noch eine Weile gehechelt, dann war die Klappe zu und der ostdeutsche Lyriker erst mal tot. 1993 schwante uns dann der Große Kladderadatsch, und nach reiflichem Erwägen und Kräftesammeln erschien dann ab 1994 die Zeitschrift SKLAVEN als Organ des verbliebenen Gegengespinstes. Die Frage „Warum publizieren?“ hätten wir damals beantwortet mit der Haltung:

Wir sind dagegen! Mit uns nicht! Dagegen muß man was tun! Wenigsten anschreiben…

Viele SKLAVEN-Autoren schreiben inzwischen „dafür“, die SKLAVEN erwiesen sich als Sprungbrett für Einsteiger. Vom Wir zurück zum Ich: Nicht aufgeben! Immer wieder von vorn! Jetzt erst recht!

Krohn: Bei welcher Lektüre hast Du das letzte mal schallend gelacht?

Papenfuß: Sehr knifflig, diese Frage – streng genommen unbeantwortbar, jedenfalls von mir und hier aus. Wenn ich tot bin, sage ich Bescheid. Aber eines der vorletzten male war es ungefähr 1998 bei der Lektüre des Buches Das Leben der Insekten von Wiktor Pelewin (Reclam Verlag, Leipzig, 1997). In den Geschichten wechseln die Protagonisten zwischen Insekten- und Menschenexistenz hin und her und reflektieren mehr oder minder witzig über die proto-postsowjetische Evidenz. Im Schwarzen Reiter erklärt ein russischer Kiffer seinem Kumpel das Puffen beim Kiffen. Im Gras würden Haschflöhe wohnen, und wenn man einen aufraucht, knastert’s eben. Wenn die Haschflöhe übrigens aus dem Gras flüchten, droht eine Haussuchung, und es ist höchste Zeit, das Zeug woanders zu bunkern. Die beiden  Kifferkumpels leiden unter Paranoia, fühlen sich von den Bullen verfolgt, flüchten sich auf einem Müllplatz in eine Betonröhre, in die dann plötzlich Kisten gestopft werden, die gleich darauf entzündet werden – es erhebt sich ein starker Feuersturm, und die beiden werden platzend aufgeraucht. Mit dem „Schwarzen Reiter“ ist die Gestalt auf der Papirossy-Packung Kasbek gemeint, die den Kasbek doch sehr in den Hintergrund treten läßt und auf die beiden Haschflöhe bedrohlich wirkt.
Ich hab das Buch Rex Joswig geborgt, der es in seiner Radio-Show Grenzpunkt Null präsentieren wollte. Jetzt hab ich es noch mal gelesen, und fand es nicht mehr so witzig. Wladimir Kaminer hat mir erzählt, daß Pelewin lediglich alte Hüte aus dem Anekdotenschatz des sowjetischen Undergrounds für den Westen ausgeschlachtet hätte. Als Pelewin nach einer Lesung am Rosentaler Platz ins Kaffee Burger kam, wo gerade der sibirische Punker Jegor Letow gespielt hatte, setzte er sich zu Kaminer an den Tisch, schnöselte ein bißchen rum und pöbelte die Tischdamen an, woraufhin er rausflog. Russische Schriftsteller passen nicht zueinander, besonders im Ausland.
Gelacht habe ich seinerzeit an der Stelle der Geschichte, als klar wird, daß sich die beiden Kiffer in einem Joint befinden, bei anderen Geschichten konnte ich bestenfalls schmunzeln. Im Mittelhochdeutschen wird aus smunzeln, smunzen allmählich smutzen. Smutzen wird doppeldeutig, einerseits steht es für „schmunzeln“, andererseits für „streichen, schlagen, beflecken, herabsetzen, beschädigen, in den Gliedern reißen, zucken“. Der Personenname Smutzler wird seltener – der Schmutz hat sich etabliert.
Was findest Du eigentlich schmutzig?

Krohn: Die Frage wäre besser: Welcher Schmutz liegt mir, welcher nicht? Früher konnte ich z.B. schmutzigen Hotelzimmern etwas abgewinnen, heute kaum noch. Wenn Schmutz ein Zeichen von Altern ist, gefällt mir das oft. In meiner Stammkneipe, der Bornholmer Hütte, haben die Wände eine warme, rotbraune Farbe und die Wirtin erzählte mir einmal, daß sie 40 Jahre nicht hat streichen lassen – Nikotin und Ausdünstungen. Ist das nun Schmutz? Andererseits, könnte ich zwischen einer neuen und einer gebrauchten Gitarre wählen, würde ich die neue vorziehen, denn die andere wäre eben irgendwie „beschmutzt“. Würde mich allerdings beeilen, die neue hinzuhunzen, zu bearbeiten oder wenn man so will, zu beschmutzen; möglichst auf natürliche Weise, weshalb ich sie hin und wieder säubern würde, den Schmutz putzen, sozusagen. Bekannt ist auch, das Schmutz Schmutz anzieht, man kann das an Müllkippen im Wald beobachten oder an sich selbst. Wenn ich einen kleinen Schwipps habe, habe ich oft einen Jieper auf Junk-Food. Nach dem Essen fühle ich mich dann schmutzig, noch schmutziger irgendwie, jedenfalls nicht gut. Erzählt mir wiederum jemand einen schmutzigen Witz, der gut ist, ist das zwar schmutzig, aber gut.

Die feine Nase
habt ihr oft besungen.
Der letzte Ton, sagt ihr
ist schon verklungen.
Jedoch
er klingt und klingt und klingt
und stinkt –
denn was ihr riecht, ist
schon in euren Lungen.

Die Schriften des linksradikalen Aktivisten Franz Jung haben einen starken Einfluß auf Deine Arbeit. Gibt es etwas, was Dir an ihm unsympathisch ist?

Papenfuß: An Jung schätze ich vor allen Dingen sein desillusioniertes Engagement, auch seine karge, nüchterne Sprache, die er effektvoll einsetzt. Der Ton seiner frühen Prosa hatte ein lyrisches Potential, Gedichte hat er jedoch nicht geschrieben – er war zu beschäftigt mit Zwangsjournalismus, Partei-, später auch Geheimdienstprosa, Dramatik in Dienste der Sache usw., er fand ja kaum Zeit für seine ureigene Existenzprosa. Erst nach 1945, dem Ende seiner Kampfzeit, feilte er nach und nach am Weg nach unten und anderen autobiographisch motivierten Texten.
Ernst Fuhrmann, den Jung schätzte und herausgab, hat mit Lyrischem angefangen, dann aber im Interesse der Idee, und der Quer-, Schräg-, Längsidee, aufgehört und sich nicht mal mehr um die literarische Ausformulierung seines Ideenwustes, der mich allerdings inspiriert, gekümmert.
An Jung ist mir nichts unsympathisch, an Fuhrmann das Monomane, das Fanatische, alles in den Dienst seiner Idee stellende, was sich aber im Verlaufe seines Lebens relativierte, oft auch humoristisch durchwachsen war. In einem Gedicht über die Geschichte Pommerns zitiere ich Fuhrmann falsch. Sein, zwischen 1908 und 1913 geschriebener, Text lautet:

Dichten, verdichten,
Erflügeln, fliegen,
Landen in Tempeln,
Götter besiegen.

Aus „Tempeln“ habe ich „Tümpeln“ gemacht. Die Tempel haben mich eigentlich gar nicht gestört, schlimm fand ich das „Erflügeln“. Die Tümpel heben die Flügel auf. Witzig wäre nach dem „Landen in Tümpeln“: Frösche besiegen. Aber Götter sind ja oft schon ganz schöne Frösche. Möglich wäre auch: Fröschen unterliegen. Oben das hehre Geflatter, unten der Sumpf der Niederlage. Hau ab, du Bein – Spaß muß sein.

 

DIGITALITÄT UND ANIMÖSITÄT

Krohn: Was hältst du denn nun vom Internet?

Papenfuß: Wenig, als Informationsquelle ist es nicht zu gebrauchen, zuviel Halbwissen und übereilte Desinformation, deren eventuelle Korrektur dann auch keine Rolle mehr spielt. Ein oberflächlicher Überblick des Aktuellen suggeriert, daß der User informiert ist; Information ist aber eine Ware, die teuer bezahlt werden muß wie die Preise für Fachliteratur zeigen, von klandestinem (Macht-) Wissen mal ganz abgesehen. Das Internet forciert Halbbildung, reißt nur an, ist ureigentlich Werbung, so wie Pornographie Werbung für Prostitution ist, inklusive Unterdrückung, Ausbeutung und Ausschlachtung. Nur einige extreme Überzeugungstäter stellen alles ins Netz, was sie haben, und machen auf diese Weise auf ihre erbärmliche Blöße aufmerksam. Für Radikale ist das Internet kaum zu nutzen, Radikale heutzutage sind (inkognito) reisende Kommunikatoren, Agitatoren und Aktivisten. Das Internet ist genauso gründlich wie eine Zeitung flach ist – für Journalisten reicht’s.
Zur Schleunigkeit der Informationsübermittlung: Unser Gespräch könnten wir genauso gut durch Briefe und notfalls Telegramme führen, war etwas teurer und langsamer, aber ein bißchen Zeit zum Nachdenken schad’t ja auch nix. Wir basteln beide nicht an einem Umsturz, der morgen früh stattfinden soll. Teuer ist die Anschaffung, Wartung und Reparatur eines Rechners, das wiegen die billigen Emils niemals auf. Promptheit jedoch stellt manchmal bloß.
Dem 75-jährigen Martin Walser kommt es nach 50 Jahren hochdotierten Absahnens neuerdings so vor, als wäre etwas faul im Staate Kulturpolitik. Er schrieb einen Schlüsselroman, in dem er den sog. Starkritiker Marcel Reich-Ranicki (in den Zeitungen steht immer „MRR“ – für mich heißt MRR immer noch Maximum Rock’n’Roll ein bißchen anpißt, wurde ich das mal salopp ausdrücken, wofür er vom Feuilleton des Landes jetzt des Antisemitismus bezichtigt wird. Walser hat sich dann moralisch aufgebäumt und erklärt, daß er lediglich Machtmißbrauch innerhalb eines medialen Kulturbetriebes darstellen wollte. Mir geht das alles völlig am Arsch vorbei, nie habe ich das Literarische Quartett gesehen, Hochkulturwichse jenseits meines Interessenhorizontes allein der Anblick! Ich mußte dies vorausschicken, um zu folgendem zu kommen. Die Übertragungsgeschwindigkeit der Nachrichtenübermittlung zwingt die Involvierten zu Summary und Phrase. Nichts kann in seiner Komplexität dargestellt werden, das ist z.B. engagierten Dokumentarfilmen vorbehalten, die dann Jahre später ihre Elaborate in Programmkinos zeigen dürfen. Zurück zur Rassismusdebatte; Walser gab n-tv ein Interview und beantwortete hinterher im Rahmen eines sog. Chats Rechnerbesitzerfragen. Auf die Frage „Haben Sie ein Haustier?“ antwortete er:

[…] Im Augenblick ist der vierte Hund im Haus und heißt Bruno. Er ist über alle Maßen schön. Rasse: Appenzeller.

Soviel zum Thema Rassismus im rasanten Medium, nee, noch nicht ganz; die FDP hat sich das Ziel gesetzt, 18 Prozent der Stimmen bei der nächsten Wahl einzuheimsen. Ihr Wahlkampf steht unter dem Motto „Projekt 18“, Westerwelle spricht im Stern-Interview auch von „Strategie 18“, das klingt mir doch sehr nach der englischen Neo-Nazi-Organisation Combat 18 bei denen steht 18 für den 1. und 8. Buchstaben des Alphabets, womit sie auf Adolf Hitler anspielen. Jeder Deutsche braucht sein AH-Erlebnis, sagte mein Kollege Mitch Cohen in den Siebzigern.

Krohn: Du hast Dich mehrmals abfällig über Journalismus geäußert: „Alles was man am Kiosk kaufen kann, ist dummes Zeug.“ usw. Die meisten Leute wissen nicht, wie Dinge des täglichen Gebrauchs funktionieren; geschweige denn verstehen sie politische oder wirtschaftliche Zusammenhänge – glaubst Du nicht, daß Journalismus, wachend und berichterstattend, wichtig ist?

Papenfuß: Die allgegenwärtige Präsenz der elektronischen Medien hat auf den Journalismus geschlagen. Unter der irrigen Annahme, daß die elektronischen Medien objektiv berichten, hat sich in den 60er Jahren der subjektive Journalismus als Pendant zur, schon als fraglich vermuteten, Objektivität entwickelt. Diese Tendenz hat sich bis auf den heutigen Tag immer mehr verstärkt. Herausgekommen ist dabei eine oberflächlich geschriebene, leicht zu lesende – wie die Medienverantwortlichen meinen – Befindlichkeitskolportage. Die Leute sind ja ohnehin schon so zugeballert von elektronischen „Informationen“ da kann man sie nicht noch zusätzlich belasten – unsere armen Käufer. Ausgesuchte möglichst aalglatte Journalisten werden zu Stars der Literaturszene aufgebaut, teils um die schwierigen Literaten in die Schranken zu weisen, aber hauptsächlich einer lohnenden Zweitverwertung wegen. Ein Buch mit den gesammelten Kolumnen eines Starjournalisten ist genau so teuer wie die vorher schon gekauften Zeitungen, aus denen die Schwarte dann zusammengeklaubt wurde und schon hat der Kunde in der Ära des Easy Reading 100 Mark hingeblättert.
Den politischen Tendenzjournalismus übergehe ich jetzt mal geflissentlich, ebenso wie „Vermischtes aus aller Welt“ und Legendenbildendes aus den Nischen der Schauspieler, und was sonst noch für ABM-Schriebs in Zeitungsredaktionen gibt. Nichtsdestotrotz gibt es aber auch guten Journalismus, die beste Adresse in antiglobalen Rahmen ist www.zmag.org, im lokalen ist www.telegraph.ostbuereo.de eine gute Adresse. Helmut Höge sei als Ausnahme-Journalist genannt – in der Tradition von Alfred Döblin stehend, bringt er zwar oft Details und Fakten durcheinander verwirrenderweise stimmt aber in seinen Reportagen und Recherchen das Große und Ganze fast immer.
Die beste Informationsquelle ist aber die mündliche vor Ort. Da beißt die Maus kein Kabel ab.

Krohn: Inwiefern läßt sich Anarchie auf der Toilette praktizieren?

Papenfuß: Da keiner von uns öffentlich, also vor Publikum, kackt, schlage ich vor, daß jeder das für sich selbst rausfindet. Du hast ja schon sehr schon vorgeführt, was für grundstürzende Überlegungen über Klobecken man anstellen kann. Staatstragend kann man Dein Gedicht jedenfalls nicht nennen. Klein anfangen, würde ich vorschlagen, und dann groß rauskommen. Als die Ramones Anfang des Jahres in die Rock’n’Roll Hall of Fame aufgenommen wurden, sagte der mittlerweile selige Dee Dee Ramone:

I’d like to congratulate myself, and thank myself, and give myself a big pat on the back. Thank you Dee Dee, you’re very wonderful.

Dee Dee spielte, nachdem er die Ramones verlassen hatte, eine Zeitlang mit G.G. Allin zusammen, der nun wirklich in der Öffentlichkeit kackte, und auch gerne mit Scheiße um sich schmiß, weswegen seine Art Punk Rock auch Toilet Rock genannt wurde. Der ebenfalls selige G.G. drückte seine Dankbarkeit der Weltöffentlichkeit gegenüber noch etwas knapper als Dee Dee aus; auf einer seiner Platten heißt es unter Credits:

I’m not thanking any fucker but myself!

In meinem Exemplar der G.G. Allin-DLP Dirty Love Songs steckt eine Visitenkarte von MRR, darauf steht: Mit freundlicher Empfehlung überreicht von MARCEL REICH-RANICKI. Ca. 1991 erschien ein Gedicht von mir in der Frankfurter Anthologie, woraufhin ich ein Expl. der FAZ zugeschickt bekam, anbei Visitenkarte. Wozu die Frankfurter Anthologie gut ist, weiß ich nicht, und will es auch nicht wissen. Schöne Scheiße mit der ganzen Anarschie.

Krohn: Dein Freund, Fan und Kollege Jan Faktor bezeichnet in seinem Aufsatz WARUM AUS UNS NICHTS GEWORDEN IST Dein links-radikales Auftreten als pubertär. Was denkst Du dazu?

Papenfuß: Jan Faktor urteilt von einem politischen Standpunkt aus. Ich weiß daß er meine Texte schätzt, na gut, vielleicht nicht alle, aber viele zumindest die bis vor einigen Jahren geschriebenen. Politik ist für mich der entwicklungsgeschichtlich pubertäre Versuch, Menschlichkeit bzw. Zwischenmenschlichkeit regeln bzw. reglementieren zu wollen. Poesis (ποίησιϛ = das Machen, Dichten) ist für mich ein antipolitischer Prozeß.

Nicht weiter erstaunlich ist, daß in den Frühwerken von sogenannten reifen Dichtern oft schon der gesamte Kosmos ihres eigentlichen Werkes sich ausbreitet, sich aber frischer und widersprüchlicher, somit spannender, liest. Dies spricht für eine frühe Erkenntnis, zu der dann Witz sich gesellt, der allerdings im Laufe des Schreibens fast immer nachläßt. Das Spätwerk von Dichtern geht oft ins Aquatische oder Mineralische, letzteres mit der Tendenz ins Atomische. Bestenfalls moddern sie so für sich hin, – was auch nicht unbedingt unpubertär ist, und oft in die Hose geht; weshalb man sie auch Klugscheißer nennt – andernfalls verknöchern sie in archäologischem Weistum und versteigern sich in Versteinerung.
Ich kann mir für Dichter und Schriftsteller nur zwei Lebenshaltungen denken: Die des antipolitischen Gegners und die des zurückgezogenen, in sich ruhenden oder meinetwegen auch aufgeregten, Poeten, der allerdings nie ins unpolitische abdriften darf – diese Gefahr ist jedoch groß, wie zigtausend Fälle der sogenannten inneren Emigration zeigen. Das Gros der Literaten will im Betrieb mitmischen sollnse meinetwegen, ich muß das ja nicht lesen.

Krohn:

KLO

Die Form des Klos
ist bekannt: Brille, weiß plus
Deckel. Das eigentliche Klo
ist aus einem Guß –
Metall.

Vielleicht Edelstahl. Trichter-
förmig geht es hinab. Ende,
Grund nicht erkennbar. Wasserstand
von 6, 7 cm ist zu registrieren.

3 cm unter Oberrand des Klos
sind kreisförmig, in regelmäßigen
Abständen 6, 7 „Dinger“ angebracht,
unverständlich wieso; da ja aus einem Guß.

Klar verfärbt sich
nach leichtem Gebrauch
Richtung
bernstein, rostbraun,
das Klowasser.

Bildliche Anleitung Marke
„Idiotensicher“ rät nach Vollzug
Pedal zu drücken,
wie Autokupplung.

Warten.
Dann erinnert grelles
Pfeifen,
daß man wieder vergessen hat,
sich die Ohren zu zu halten.

Die „Dinger“ müssen Schrauben sein,
oder Nuten – aber: kein Schlitz,
kein Schraubkopf, nur rund und breit
wie sehr dicke Silbermünzen (ohne Prägung).

Beeindruckend das matt glänzende,
gleichmäßig konisch Zulaufende
des Trichters, plan geschliffen,
geschmeidig, glatt, weich.

Unter den „Dingern“ vereinzelt Haare,
vermutlich Schambereich, drumherum
weiße Spuren, irgendwas Ausgefälltes,
sonst nicht viel los.

 

AZOIKUM UND SCHLUSS

Krohn: Hast Du schon mal Angst vor einer Veröffentlichung gehabt?

Papenfuß: Nein, nach dem Korrekturlesen stellt sich freudige Spannung auf das ja immer irgendwie mißlingende Druckwerk ein. Mit zunehmendem Alter fällt auch der Leistungsdruck ab, der manchmal kontinuierliche Veröffentlichungen begleitet. Der vorübergehende kapitalistische Literaturbetrieb interessiert mich ungefähr genauso brennend wie der selige sozialistische. Man muß dagegen sein, um sich wirkungsvoll herauszufinden.

Krohn: Meine vorletzte Frage ist gleichzeitig ein Rätsel: Was ist Bert Papenfuß im Jahr 2024?

Papenfuß: Tot oder lebendig. Wenn lebendig, dann ein ausgewachsener 68er. Mit 17 war ich mir nicht sicher, ob ich 20 werden wollte, mit 19 noch viel weniger. Im selben Jahr kam jedoch ein gutaussehender Lebensimpuls an mich herangetreten, und ich gab mich geschlagen. Nach dem Scheitern des Kleinfamilienprojektes in meinen hohen Zwanzigern war ich wiederum unsicher, ein weiteres Dezennium vollzumachen, entschied mich aber fürs Erwachsenwerden. Mit 40 hatte ich soviel („Sklaven“-) Arbeit und Existenznöte um die Ohren, daß ich gar keinen angemessenen Seinszweifel kultivieren konnte. Ab 6 mal 7 kommt man in die Wechseljahre, was das genau bedeutet, überblicke ich noch nicht so richtig. Jedenfalls kann man nicht mehr so viel saufen, wie man Durst hat, ohne dafür mit gelegentlichen Ausfällen zu büßen. Dazu kommen noch Haare, Zähne, Bauchspeck und andere Zipperlein. Zunehmend geht mir die Demse auf den Sack. Mit steigender Nachdenklichkeit und nachlassender Eitelkeit überblickt man das Chaos, das man angerichtet hat. Sporadisch kommt Wiedergutmachungswille auf, gerät in Vergessenheit und schwärt dort weiter. Den Kulturschaffenden überfällt eine gelassene Natürlichkeit. Überlebende Suizidäre beschäftigen sich gern mit Archäologie, Paläontologie, Lithologie; die Spezialstrecke der Härtesten ist das Azoikum. Sie haben Heimweh nach dem Tod, denn tot waren wir schließlich alle schon mal – bis aufwühlende Depressionen uns aus der Starre rissen. Elster, Saale, Weichsel, Günz, Mindel, Riß, Würm und etliche Interglaziale.
Die Demse schlägt auf die ausgelaugte Scholle, das Naß verdunstet, weil tiefere Bodenschichten wegen der profitmaximierten Oberflächenlandwirtschaft kein Wasser mehr aufnehmen, infolgedessen regnet die geballte Wasserkraft an den Bergen ab, Bäche und Flüsse werden zu reißenden Ungeheuern, die reichlich mitgetragenen Schwemmstoffe drücken auf die Kontinentalplatten, führen zu verstärkten Krustenaktivitäten, Vulkane brechen aus, dann wird es „finster, und auch so bitterkalt“ – Manöver Schneeflocke, Muspilli, Enduring Freedom, Fimbulwinter, Irak-Krieg, Ragnarök.

ZWIESEL IM DORNICHT

wir leben in einer spannenden zeit
die ungewißheit, was so reinschneit
sollte grund genug sein, mitzumischen
spute dich, steißbein; weg mit mitsubishi

aaaaagespannt die hähne
aaaaavoller häme entflammt
aaaaaaufgekocht die träne
aaaaaweht eine brise an land

an der zwiesel im dornicht klafft ein borst
dort ist die scheide – hier tröpfelt durst
geflissentliche stillung auszuwischen
der zweizackigen grünen manalishi
2

Now, when the day goes to sleep and the full moon looks
The night is so black that the darkness cooks
Don’t you come creepin’ around – makin’ me do things I don’t want to

Can’t believe that you need my love so bad
Come sneakin’ around tryin’ to drive me mad
Bustin’ in on my dreams – makin’ me see things I don’t wanna see

’Cause you’re da Green Manalishi with the two prong crown
All ma tryin’ is up – all your bringin’ is down
Just taking my love then slippin’ away
Leavin’ me here just tryin’ to keep from following you

Peter Green, 1970

aaaaagespannt die hähne
aaaaavoller häme entflammt
aaaaaaufgekocht die träne
aaaaaweht eine brise an land

Krohn: Die richtige Antwort hätte auch lauten können: das selbe wie jetzt – da Du 2024 die Hälfte Deines Lebens im Osten, die andere Hälfte vermutlich im Westen gelebt haben wirst, wirst Du einen offiziellen Sekundenbruchteil lang – eine zwielichtige Person.3
Du wußtest auf alle bisherigen Fragen eine Antwort – was macht Dich sprachlos, „schreiblos“?

Papenfuß: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schreiben. Mit anderen Worten:

LOCH, SCHLOT & GOTT

Plötzen, Kröten, Ergötzen
Federlesen, Gedränge, Handgemenge
Bannfluch, Empörung, Gegenangriff; Krieg

Klaps, Knacks, Grundsturz
Stickstoff, Schmerz, Vergnügen
Luftstreitkraft, Aufruhr, Entspannung; Sieg

aaaaa„Streben, Sterben, Bersten“
aaaaaaaaaaRauchen – Zeugen; Gebären
aaaaaaaaaaaaaaaSaufen – Säugen; Begehren

Labsal, Balsam & Nektar

aus Astrachan. Alexander Krohn und Bert Papenfuß in Plauderton und Lokalismus. telegraph surrogate #3, Mai 2003

 

 

Sprachgewand(t) – Ilona Schäkel: Sprachkritische Schreibweisen in der DDR-Lyrik von Bert Papenfuß-Gorek und Stefan Döring

 

Mario Mentrup & Volker Sattel: Der Adler ist fort (The eagle is gone).

Heribert Tommek: „Ihr seid ein Volk von Sachsen“

 

 

Mark Chaet & Tom Franke sprechen mit Bert Papenfuß im Sommer 2020 und ein Auftritt mit Herbst in Peking beim MEUTERLAND no 16 | 1.5.2019, im JAZ Rostock

 

Kismet Radio :: TJ White Rabbit presents Bertz68BirthdaySession_110124_part 2

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Lorenz Jäger: ich such das meuterland
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.1.2016

Zeitansage 10 – Papenfuß Rebell
Jutta Voigt: Stierblut-Jahre, 2016

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Thomas Hartmann: Kalenderblatt
MDR, 11.1.2021

Fakten und Vermutungen zum AutorInstagram +
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Autorenarchiv Isolde OhlbaumDirk Skibas Autorenporträts +
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Einladungskarte zur Beerdigung von Bert Papenfuß

Einladungskarte zur Beerdigung von Bert Papenfuß

 

Nachrufe auf Bert Papenfuß: FAZ ✝︎ taz 1 & 2 ✝︎ BZ 1, 2 & 3 ✝︎
Tagesspiegel ✝︎ LVZ ✝︎ telegraph ✝︎ lyrikkritik 1 & 2 ✝︎ NDR ✝︎
junge Welt 1 & 2 ✝︎ freitag ✝︎ nd 1 & 2 ✝︎ Zeit ✝︎ MZ ✝︎ Facebook ✝︎
Abwärts! 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7  ✝︎ Volksbühne ✝︎ Faustkultur ✝︎ DNB ✝︎
artour ✝︎ Fotos

 

 

 

Nachruf auf Bert Papenfuß bei Kulturzeit auf 3sat am 28.8.2023 ab Minute 27:59

 

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Das Papenfuß-Gorek“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Bert Papenfuß

 

Bert Papenfuß liest bei OST meets WEST – Festival der freien Künste, 6.11.2009.

 

Bert Papenfuß, einer der damals dabei war und immer noch ein Teil der „Prenzlauer Berg-Connection“ ist, spricht 2009 über die literarische Subkultur der ’80er Jahre in Ostberlin.

 

Bert Papenfuß, erzählt am 14.8.2022 in der Brotfabrik Berlin aus seinem Leben und liest Halluzinogenes aus TrakTat zum Aber.

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