Die Wonne geht
Auf und munter
Sterben ist hau ab
Grund zum Überleben schwarz
Wer nicht
Was denken wenn
Der lenkt was
Er nicht weiß
Ein Leben weiter
Und herunter.
Wie dichte ich heute?
– Felix Philipp Ingold beantwortet die Frage mit einer Musterkarte. –
Vieles an Literatur, die nicht auf der Hauptstraße marschiert, sondern, abseits, erst zeigt, was Literatur sein kann, würde nicht veröffentlicht, wenn es nicht Verlage gäbe wie etwa den Rainer Verlag. So auch nicht Felix Philipp Ingolds „Gedichte aus dem Deutschen“ mit dem Obertitel Fremdsprache. Was heißt aber: Gedichte aus dem Deutschen? Sind sie nicht in deutscher Sprache geschrieben? Wo liegt der Unterschied zwischen aus und in? Sind Ingolds Gedichte etwa aus dem Deutschen ins Deutsche übersetzt worden, wobei Verfasser und Übersetzer dieselbe Person wäre? Ich befrage ein zufällig aufgeschlagenes Beispiel.
Lieb! eine Schönheit immerhin
Ohne Technik und Fehden.
Du scheinst sie meint für dich: Still ihn!
Und sinkst in umgekehrtem Sinn
Singst endlich statt zu reden.
Gereimt immerhin. Am Anfang das Wort Lieb, das Liebe wie Liebste heißen kann, mit Ausrufezeichen. Also etwas Wichtiges. Das andere Ausrufezeichen folgt der Aufforderung: still ihn. Was stillen: Hunger, Durst, Begierde? Ödipus an der Mutterbrust? Der dritte Vers scheint abgekürzt, müsste vielleicht ergänzt werden zu: du scheinst zu meinen, daß sie meint, jemand solle ihn (dich) stillen. Dieses du sinkst dann in umgekehrtem Sinn, was ja eigentlich bedeutet: du steigst. Warum sinken? Weil nur so der Kalauer: sinken singen zustande kommt. Und singen tust du endlich statt zu reden. Das würde heißen, daß umgekehrtes Sinken gleichbedeutend ist mit der Verwandlung der Rede in Singen. Frei interpretiert (übersetzt oder rückübersetzt?) könnte das heißen, wenn einer, dem die Liebe in der Liebsten als Schönheit erscheint und so als stillende Befriedigung verstanden werden kann, sinkt-steigt, so wird er statt zu reden singen.
Aber wenn es das heißen soll, warum sagt er’s nicht so? Ich muß dazu bekennen, daß dies ein „leichtes“ Gedicht war. Mein vielleicht nicht ganz korrekter Interpretationsgang hat aber erkennbar gemacht, daß Ingold mit ein paar methodischen „Tricks“ arbeitet, die sich herausziehen lassen. Etwa mit Satzverkürzungen, Wort- und Satzvertauschungen, Gleichklängen, die ungenaues Sprechen voraussetzen, Reimen, die nicht binden, sondern irreführen, Assoziationen, die quer zum Wortgebrauch laufen, Überkreuzungen von semantischen und phonologischen Anklängen usw. Dies sind nur Andeutungen. Um genauer formulieren und argumentieren zu können, müßte ich in eine Mehrzahl von Detail-Analysen eintreten. Dafür ist hier nicht der Platz. Ich kann und will nur skizzieren, was Ingold ungefähr tut. Er benutzt methodische Verfahren aus unterschiedlichen Bereichen. Er benutzt sie poetologisch, das heißt, macht mit ihrer Hilfe die grammatische Sonderform, die man traditionell Gedicht nennt. Das Befremdende besteht schlicht darin, daß die methodischen Mittel konträr stehen zu denen, die traditionell gebraucht wurden (Vers, Strophe, Strophen- und Reimorganisation), ja sie abstoßen. Das wird dort besonders deutlich, wo er so tut, als ob er die alten Formen auch benutzt, etwa das Sonett.
„Gedichte aus dem Deutschen“ könnte so auch gelesen werden als: dies sind Gedichte, die aus dem Deutschen herausführen, weil es heute nur so Gedichte werden können. Was man so Form nennt, muß offenbar erfunden werden, wenn etwas Aktuelles darin Sprache zu werden vermag. Und wenn überlieferte Form, muß sie neu erfunden werden (Brechts pornographische Sonette). Ingold mischt dies alles zusammen und alles durcheinander. Er hat so etwas wie eine Musterkarte angelegt, an der man studieren kann, was in dieser oder jener Richtung praktikabel ist, was in dieser oder jener Verbindung drin ist. Er ist weniger „poetisch“, so will ich einmal sagen, als Oskar Pastior, der so etwas auch durchprobiert hat. Aber müßte das nicht Ingold zum Vorteil angerechnet werden?
Ich muß gestehen, daß manche dieser Gedichte mir bis heute unzugänglich geblieben sind. Aber wäre das nicht auch ein Vorteil in einer Zeit, in der so ungeheuer Vieles gedruckt wird, das allzu rasch zu verstehen ist? Auch das Sperren gegen den Schlüssel, der aufschließt, gehört zu Ingolds Methoden. Man könnte ein methodisches Übungsseminar mit diesen Gedichten veranstalten. Ich stelle mir vor, daß die merkwürdigsten Dinge dabei zum Vorschein kämen. Die ranzig gewordene historische konkrete Poesie, die der fünfundsiebzigjährige Max Bense noch immer als Gipfel der Rationalität hochlobt, könnte ihre verdiente Ruhe finden.
Die Taube die hat keinen
Schlag: versetzt Gebirg
Was steht daß geh
Laß wehn Gelinden!
Vorsicht an Schmerz wer
Könnte sonst gelingen?
Versprecht euch
Kannst?
Sich versprechen können, heißt das, taugt zum Dichten besser als das schwarze Geheimnis von Eugen Gomringer oder Benses lahmes Paradoxon von der Zerstörung des Durstes.
Helmut Heißenbüttel, Süddeutsche Zeitung, 2.3.1985
Weiterer Beitrag zu diesem Buch:
Rudolf Käser: Vom Deutschen ins Deutsche
Neue Zürcher Zeitung, 10. 1. 1985
Jan Kuhlbrodt: Versuch über Ingold
poetenladen.de, 28.10.2012
Jan Kuhlbrodt: Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie
Zum 70. Geburtstag des Autors:
Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012
Zum 80. Geburtstag des Autors:
Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022
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