– Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Kommt gebt mir was zu fressen!“ aus Peter Rühmkorf: Gedichte. Werke Bd. 1. –
PETER RÜHMKORF
Kommt gebt mir was zu fressen!
Kommt gebt mir was zu fressen!
Ich bin der erste große Nachkriegsdichter;
Nur fehlt mir Fett und Eiweiß.
Ich habe keine Lust
Als Frühvollendeter schon zu krepieren,
Und noch ist was zu machen.
Hier gibt’s was zu verdienen:
Ich gebe Aktien aus auf meine Lyrik;
Kommt, laßt uns meine Seelenqualen abbaun!
Ich werde später Geld
Aus meinen grausigen Visionen schlagen –
Kommt, gebt mir was zu fressen, ich habe Hunger!
(Peter Rühmkorf: Gedichte. Werke 1, hg. v. Bernd Rauschenbach, Reinbek b.H. 2000, 23)
Kommt gebt mir was zu fressen! oder: Der Dichter auf dem Markt
– Zur Eröffnung einer Konstellation bei Peter Rühmkorf. –
Peter Rühmkorfs frühe Lyrik, so scheint es, hält es mit den menschlichen Grundbedürfnissen. Stellt der junge Poet darin bereits den Bedürfniskreislauf der Nachkriegsgesellschaft als Kyklos und ,Variation‘ von „Fressen, Trinken, Schlafen, Scheißen“ und „Fögeln“ dar,102 widmet er sich in „Kommt gebt mir was zu fressen!“ den elementaren Ansprüchen der Dichterexistenz. Das Gedicht veröffentlichte Rühmkorf erstmals vollständig in jenem Buch, das einen umfassenden Einblick in die Existenznöte des freien Schriftstellers bietet: in seiner Autobiographie Die Jahre die Ihr kennt aus dem Jahr 1972. Dort allerdings erschien es unter dem abweichenden Titel „Annonce“ und unter fast vollständigem Verzicht auf Interpunktionszeichen.103 Die erste Strophe des Gedichts zitierte Rühmkorf schon ein Jahr zuvor in seiner Antwort auf die Frage„ Warum schreiben Sie?“, dem Text „Bei solchen Voraussetzungen“.104 Während der Autor das Gedicht in diesen Publikationen Anfang der 1970er Jahre eher dem Zeitraum „1946/47“ bzw. „Kriegsschluß bis 1947“ zuordnete,105 datierte er dessen Niederschrift später stets auf das Jahr 1948,106 schließlich gar genauer auf das „Frühjahr 1948“.107 Bei der zeitlichen Einordnung dieses Gedichts, ebenso wie zahlreicher weiterer, muss die Forschung gegenwärtig den Angaben des Autors vertrauen;108 dass das Gedicht in der hier präsentierten Form tatsächlich bereits vom 18-jährigen Stader Oberschüler zu Papier gebracht wurde, kann derzeit (noch) nicht überprüft werden – vermutlich gibt Rühmkorfs Nachlass, der im Deutschen Literaturarchiv Marbach betreut und erschlossen wird, hierzu näheren Aufschluss.109
Das Gedicht, in dem die Sprecherinstanz drastisch ihren Nahrungsbedarf artikuliert und auf dem Markt zu gesellschaftlichem Gehör bringt, entstand in einer Zeit, in der diese Sorge von vielen Mitmenschen geteilt wurde. Denn das im Gedicht beklagte Fehlen von „Fett und Eiweiß“ steht nicht nur synekdochisch für die Unterversorgung bzw. -ernährung des angehenden Dichters, der nüchtern und wenig wählerisch seinen Nährstoffmangel beseitigt wissen will. Es verweist zugleich allgemein auf die prekäre Ernährungssituation der Nachkriegszeit, die insbesondere durch den Mangel an eben Fett und Eiweiß geprägt war.110 Dass das lyrische Ich seiner persönlichen Not mit einem Tauschangebot Abhilfe schaffen will, erweist sich wiederum als nachkriegstypisch – auch mit Blick auf Rühmkorfs Biographie, der damals seinen Unterhalt bestritt, indem er sich „im allgemeinen Tauschverkehr“ jener Zeit bewegte.111
Mit der Währungsreform endete diese Phase abrupt, und sowohl die Aufrechterhaltung seiner ökonomischen Existenz als auch das ,Fressen‘ begannen, ihm Probleme zu bereiten. Eine „Zwangsneurose“ – genauer: eine „Anorexie“ mit der Folge eines lebenslang schwierigen Verhältnisses zur Nahrungsaufnahme – plagte ihn über nahezu drei Jahre.112 Diese führte Rühmkorf lange ursächlich auf den mit der Währungsreform einhergehenden Wegfall seiner ökonomischen Basis als Schwarzhändler zurück und stellte somit selbst einen Zusammenhang „zwischen wirtschaftlicher Daseinserschütterung und Dauerdiarrhöe“,113 zwischen Stoffwechsel- und Wirtschaftssystem her. „Die sogenannte Normalisierung des Wirtschaftslebens“ beendete demnach zum einen die kleine „wirtschaftliche[] Selbständigkeit“ des Schülers und stand dabei zum anderen auch stellvertretend für eine umfassende gesellschaftliche Rückkehr zur Normalität, die Rühmkorf im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen buchstäblich wie im übertragenen Sinne nicht einfach habe verdauen können.114 Gegen die Rückkehr in den großen Verwertungszusammenhang, so die nachträgliche Deutung des Dichters, rebellierte das körpereigene Verwertungssystem. Seine Kritik an einer reaktionären Gesellschaft, die zugunsten einer Schein-Normalität den Krieg und seine Verbrechen ebenso verdrängte wie künftige Bedrohungen, setzte Rühmkorf in seiner frühen Lyrik mithin immer wieder in das Bild von den bedenkenlos Weiterfressenden und fröhlich Verdauenden, etwa in „Homo sapiens“, „Nach dem Essen fünf Minuten“ oder „Verzeihung! Haben Sie den Menschen gesehn?“115
Zwar waren die persönlichen Krisenerfahrungen der Nachkriegszeit für Rühmkorf mit der ernüchternden Einsicht verbunden, dass „[g]eistige Interessen […] sich schon gar nicht kapitalisieren [ließen]“,116 gegen Ende dieses Entwicklungsabschnitts habe trotzdem ein fester Vorsatz gestanden: „Entschlossen, mein Ich zum Selbstkostenpreis in Kunst aufgehen zu lassen und dennoch Haus und Garten nicht aus dem Auge zu verlieren“.117 In diesem zunächst paradox wirkenden Satz – der bezogen auf das Rühmkorf’sche Verhältnis von selbstbezüglicher Ich-Poetik und angestrebter Gesellschaftsanbindung zugleich poetologisch lesbar ist – wird die Vorstellung entworfen, auf den ersten Blick Disparates miteinander verbinden zu können: die künstlerische Selbstaufopferung und ein bürgerliches, wirtschaftliches Auskommen. Benannt ist damit ein Spannungsfeld zwischen Poetenideal und Schriftstellerexistenz, das bereits in dem frühen Gedicht „Kommt gebt mir was zu fressen!“ paradigmatisch eröffnet wird und das sich von dort leitmotivisch durch Rühmkorfs gesamte Werk- und Schriftstellerbiographie zieht. Indem es die Rühmkorfs Texte bestimmende Konstellation von Markt und Dichtung in für ihn charakteristischer Weise aufgreift, zeigt das Gedicht des Abiturienten tatsächlich schon die „Ansätze zu einem eigenen Stil“,118 die ihm der Autor später selbst attestiert, bzw. die Spuren der ,Frühvollendetheit‘, die sich die Sprecherinstanz selbst bescheinigt. Wie sehr hier bereits „der Dichter in der Nussschale“119 steckt, wird deutlich, wenn man ihn von dort aus, nämlich der bisher kaum beachteten Anfangszeit, in den Blick nimmt.
Seine Auswahl aus dem eigenen lyrischen Frühwerk der Jahre 1947–1952, in der sich auch „Kommt gebt mir was zu fressen!“ findet, stellte Rühmkorf im Rahmen des Gedichtbandes seiner Werkausgabe unter die Überschrift „Die Pestbeule“. Die Benennung erfolgte nach dem Namen seines ersten literarischen Projekts, jener „Zeitschrift in einem Exemplar“, die Rühmkorf zusammen mit zwei Stader Klassenkameraden „Ende 47/Anfang 48“ herausgab.120 Die Pestbeule (mit dem Untertitel „Vereinigung der KZ-Anwärter des 4. Reiches“) nannte sich wenige Jahre später auch das Hamburger Studentenkabarett, das Rühmkorf u.a. zusammen mit Klaus Rainer Röhl gründete.121 Die Bezeichnung verrät neben dem konfrontativen Außenseiteranspruch deutlich die Anbindung an den Expressionismus (zu denken wäre etwa an Paul Boldts Auf der Terrasse des Café Josty, in dem das nächtliche Berlin mit einer Pestbeule verglichen wird). Dieser bildete die zentrale Lektüreerfahrung des Schülers Rühmkorf,122 der 1947 ein parodistisches expressionistisches Frühlingsgedicht mit dem Bild aufbrechender blauer Beulen begann.123 Entsprechend verstanden die Gymnasiasten ihre Zeitschrift als „ein eigenes postexpressionistisches Verkündungsorgan“.124 Und jene Phase, für die Rühmkorf sein Gedicht „Kommt gebt mir was zu fressen!“ als beispielhaft anführt, beschreibt er als geprägt vom „Rückzug auf deutschen Expressionismus und subjektivistische Sachlichkeit“.125
Diese Töne sind im Gedicht deutlich vernehmbar. Expressionismus, das hieß für den jungen Rühmkorf vor allem: „Konzentration, hartes Profil, die ungebrochene Linie, grobe Geste“, aber auch „Aufbruch“, „Wende“ und „Keim kommender Epochen“.126 In seinem groben Ausdruck erweist sich das Gedicht mit von Bormann als „Protest gegen den traditionellen ,poetischen‘ Gestus“.127 Das lyrische Dichter-Ich fragt nicht höflich nach einer Essensspende, sondern verlangt „was zu fressen“, wobei man die beiden Imperative, mit denen er dies einleitend tut, wahlweise als Spondeus oder Jambus lesen kann, wie er das Gedicht danach fast ausnahmslos bestimmt. Dass die Botschaften des Sprechers eindeutig verstanden werden, dafür sorgen die (an den eröffneten Kommunikationsraum angepasste) konzeptionelle Mündlichkeit und – damit einhergehend – der überwiegende Zeilenstil, mit dem sich die Sprecherinstanz in den vier Terzetten verständlich macht.
,Unlyrisch‘ mutet dabei nicht nur der Ton, vielmehr auch das Dichterbild an, das im Gedicht präsentiert wird – und das Rühmkorf im „Selbstporträt 1958“ noch einmal auf die Wendung bringt:
Zu wahr, um schön zu sein:
auch der Feingeist muß fressen.128
Während seiner Schulzeit und noch in der Nachkriegszeit sah sich Rühmkorf Versen ganz anderen Stils ausgesetzt, so wie etwa den folgenden Josef Weinhebers von 1938:
Nicht vom Brote allein, es
lebt vom Traume der Mensch. […]
Heilig dunkelnde Kunst, du
schöne Seele des Vaterlands!
Dich zu haben, ist viel. Du
beugst im Ausgang das Haupt dem Sänger.129
Solchem ,pontifikalen‘ – oder mit dem Lehrmeister Benn: „seraphische[n]“130 – Ton setzt Rühmkorf im Sinne der Brecht’schen Zweiteilung der Lyrik131 einen ,profanen‘ Materialismus entgegen.132 Sein Dichter bittet weder um Träume oder Musenküsse noch steht ihm irgendwer gebeugten Hauptes Spalier. Auf Brot allein ist er in seiner Situation angewiesen und muss dafür um Aufmerksamkeit werben. Er spricht mitten aus der Gesellschaft, an die er sich wendet. In geradezu neu-sachlicher Betrachtung und marktgerechter Mündlichkeit muss er die Dichtung als Geschäft, als verlockende „moderne ökonomische Transaktion“133 schmackhaft machen.
In dem Hinweis des Gedichts auf die ökonomischen Vorbedingungen des Dichtens werden u.a. zwei weitere Stimmen hörbar, die Rühmkorf unter der Überschrift „Wo ich gelernt habe“ als Einflussgrößen der unmittelbaren Entstehungszeit von „Kommt gebt mir was zu fressen!“ nennt: Majakowski und Brecht.134 Letzterer hat in seinem „Lied der Lyriker“ dieselben erklären lassen:
Heute wird nichts mehr bezahlt für Gedichte. Das ist es.
Darum wird heut auch kein Gedicht mehr geschrieben!
Denn der Dichter fragt auch: wer bezahlt es? Und nicht nur: wer liest es?135
Von Majakowski wiederum mag sich Rühmkorf hier zudem die antibürgerliche Pose des poète maudit abgeschaut haben, der etwa in dem frühen Gedicht „Billiger Ausverkauf“ (1916) hungernd und ebenfalls strotzend vor Selbstbewusstsein seine Lyrik öffentlich an- und auspreist.136 Darüber hinaus lässt sich sein „Gespräch mit dem Steuerinspektor“ über die Dichtkunst anführen, in dem sich der Dichter mitten in der arbeitenden Massengesellschaft verortet:
Meine Arbeit
ist jeglicher
Arbeit
vergleichbar
[…]
ich hab
jedes Wort
mich was kosten lassen
[…]
Dichten
ist dasselbe wie Radium gewinnen.
Arbeit: ein Jahr.
Ausbeute: ein Gramm137
ähnlich wird Rühmkorf später in seiner „Einfallskunde“ und unzählige weitere Male darlegen, dass man es bei einem fertigen Gedicht mit „Arbeitskondensat von etwa einem Zwölftel Jahr“138 zu tun habe und deshalb eine angemessene materielle Vergütung und symbolische Anerkennung einfordern.
Auch wenn man dem Gedicht „Kommt gebt mir was zu fressen!“ eine ebenfalls vorausweisende charakteristische Mischung aus Selbstbewusstsein und Selbstironie (dem ,Frühvollendeten‘ droht die Frühverendung) zugestehen mag, der hier formulierte Anspruch, der „erste große deutsche Nachkriegsdichter“ zu sein, leitet sich bei Rühmkorf einerseits aus der beschriebenen Traditionsanbindung, andererseits aus der polemischen Negation konkurrierender Entwürfe sowie dem eigenen Innovationspostulat ab:
Das war ein Ton, von dem ich glaube, dass er sonst in der deutschen Lyrik damals nicht so vertreten war. […] Eines war bei mir von Anfang an klar, war mir selbst klar, obwohl es nachträglich und immer noch hybrid klingt: Ich dachte, so gut dichten wie ich kann keiner sonst. Ich hab mir doch angesehen, was in der Zeit passierte. Ich hab doch gesehen, was Karl Krolow und was Wolfgang Weyrauch, was sie alle geschrieben haben. Und ich fand meine Gedichte immer doch noch markanter und treffender und mehr der Situation entsprechend, als das, was sich sonst an Nachkriegslyrik abspielte.139
Seine Ablehnung zeitgenössisch dominierender Schreibweisen brachte Rühmkorf insbesondere in seiner Kolumne für den Studenten-Kurier (ab 1957 Konkret), Leslie Meiers Lyrik-Schlachthof (1956–1958), wirkmächtig zum Ausdruck. Große Teile dieser Texte und weiterer früher Beiträge zur Nachkriegslyrik fasste Rühmkorf 1962 zu seinem Essay „Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen“ zusammen. Darin schreibt er über den „Zeitraum zwischen 1948 und 1952“, der mit der eigenen lyrischen Frühphase zusammenfällt:
Aufs gesamt war es wohl eher eine Karenz- und Stillhaltezeit als eine Periode neuen Landgewinns. […] Eine schöpferische Revision des deutschen Expressionismus und eine Besinnung auf die eigenen modernen Traditionen, die man dem Neubeginn wohl hätte zumuten mögen, fanden dabei nicht statt.140
Um genau diese ausgebliebene Rückbesinnung und damit den Anspruch, zumindest als erster rechtmäßiger deutscher Nachkriegsdichter gelten zu können, war es Rühmkorf und mehr sogar noch seinem Freund Werner Riegel zu tun. Riegel gab von Dezember 1952 bis Januar 1956 insgesamt 26 Hefte der Zeitschrift Zwischen den Kriegen heraus (die ersten beiden noch zusammen mit Albert Thomsen), für die Rühmkorf zahlreiche Beiträge unter verschiedenen Pseudonymen verfasste. Wie Riegel Richard Huelsenbeck in einem Brief aus dem Oktober 1953 erläutert, bestand die Idee der Zeitschrift darin, „eine Verbindung herzustellen […] zwischen den letzten Überlebenden einer grossen Literatur und uns, den sich als legitime Nachfolger Fühlenden“.141 Riegel und Rühmkorf ging es um nicht weniger als eine Neuausrichtung der deutschen Nachkriegslyrik, um einen Gegenentwurf vor allem zu den naturlyrischen Schreibweisen („die Kräutersammler und Botaniseure der Naturlyrik“),142 die in Kontinuität zur naturmagischen Schule seit ,um 1930‘ noch bis in die 1950er Jahre hinein bestimmend waren.143
Ihr auf einen „Poesieputsch“[] zielendes Literaturprogramm brachten sie auf die Formel vom „Finismus“.144 Diesen verstanden sie Rühmkorf zufolge als „literarisches Wiederholungsprogramm. Er beschwor, angesichts eines neu vor uns aufgezogenen Katastrophenhimmels, ein geistiges Genossenschaftsreich zwischen erster Vorkriegsgeneration und der unseren, gerade mal auf Abruf verschonten“.145 Jene „grausigen Visionen“, die bereits die Texte des Nachwuchsdichters in „Kommt gebt mir was zu fressen!“ auszeichnen, bestimmen in Form von Endzeit- und Untergangsvisionen sowohl die Texte von Zwischen den Kriegen im Allgemeinen als auch Rühmkorfs vielfach noch von epigonalen Tönen geprägtes lyrisches Frühwerk im Besonderen. Im ersten Heft der Zeitschrift legen die Herausgeber ihre Überzeugung dar, „dass wir heute zwischen zwei Kriegen leben. Sie [die Hg.; P. B.] sind der Meinung, dass der nächste Krieg unmittelbar vor der Tür steht, und dass es Menschen gibt, die sich anschicken, die Tür zu öffnen, um den Krieg einzulassen.“146 Getragen von solchem „apokalyptische[n] Grundgefühl“147 überschrieben Rühmkorf und Riegel ihre Lyrik mit griffigen Verlautbarungen wie:
Finismus ist kein Negativismus. Er verneint nicht, er bejaht das Ende.148
So wie aber in „Kommt gebt mir was zu fressen!“ „grausige Visionen“ zugleich als lohnendes Investitionsobjekt für die Zukunft angeworben werden können, so versteht Rühmkorf den Finismus als „eine Bewegung, die der ganzen Anlage ihrer Träger nach gleichzeitig progressiv und resignativ ist“.149 Der Anspruch auf kommende Größe und die gegenwärtige Außenseitergeste widersprechen sich nicht, sondern bedingen einander im Sinne der „Regeln der Kunst“. Für die Position der ,Häretiker‘, die Rühmkorf und Riegel im literarischen Feld der Zeit einnehmen, sind dezidiert antibürgerliche und antiökonomische Argumentationsmuster konstitutiv150 – auch diese antikapitalistische Haltung wird Rühmkorf später auf den Expressionismus rückbeziehen.151 In programmatischen Aufsätzen wie „Kunst und Publikum“, „Negativ-Position“ oder „Kunst und Armut“ erklärt Rühmkorf Armut, Hunger, Verkanntheit und eine außergesellschaftliche Position zu den Bedingungen wirklich großer Kunst.152 „Das Genie braucht sein Unglück wie sein täglich Brot“,153 heißt es da, und auch das für Rühmkorf so zentrale Selbstbild vom gefährdeten Künstler auf dem Hochseil findet sich dort bereits.154 Vergleichbar mit dem hier besprochenen Gedicht, sieht sich der finistische Künstler einer ihm mit Gleichgültigkeit begegnenden Gesellschaft gegenüber, an die er sich unter dem bezeichnenden Titel „Über die Künstler und die Andern“ in nur wenig ironisch verkleideter Selbstüberhöhung wendet:
Ihr betätigtet Euch als Zwischenhändler und Kaufleute, als wir an den Fresken des Petersdomes sassen, während wir an der Bibel schrieben, begosst Ihr gerade den Rosenkohl in Euren Gärten. […] Habt Ihr wenigstens Zeit, unsere Pietas zu betrachten?155
Auch Riegel polemisiert gleich im zweiten Heft der Zeitschrift in seiner „Proklamation des Hektographismus“ gegen das „Ideal des materiell erfolgreichen Künstlers“ und dessen reale Vertreter – d.h. vor allem gegen jene, die sich „als Gruppe 47 etabliert haben, die über ihr schlechtes Leben stöhnen und sich gegenseitig Literaturpreise verleihen“.156 Sie diskreditiert er einem gängigen ,häretischen‘ Vorwurf gemäß als allein ökonomisch orientierte, ergo fremdbestimmte „Spiesserliteraten“ auf dem „Weg in die Grossindustrie“, während die Finisten die Armut zugunsten ihrer Autonomie und Widerständigkeit akzeptierten.157 Genauso wird Rühmkorf alias Johannes Fontara sich im achten Heft unter der Überschrift „Die Literaturwilderer“ unversöhnlich gegenüber jenem Establishment geben, dem er ab 1960 selbst angehören sollte. Die Gruppe 47 nennt er das „Avantgardeschoßhündchen der Bundesrepublik“ und stellt unmissverständlich klar:
Der modische Mief dieser kloakenständischen Affenärsche stinkt zum Himmel. Wer mit denen geht, sich nur irgendwie bei denen anmeiert, ihnen entgegenkommt, hat in der aufkommenden Kunst nichts zu suchen. Gegen den ästhetischen Kanakenklüngel muß sich der Stoßkeil junger Geistigkeit richten.158
Wenn Rühmkorf hier zum „häretischen Bruch“159 mit einer Gruppe von zum Teil nur wenig älteren und gerade erst etablierter Autoren aufruft, wenn er bezogen auf den zeitgenössischen Literaturbetrieb unbeugsam festhält: „Zwischen Barrikade und Altenteil gibt es keine Kollaboration“,160 dann mag es sich dabei zwar um eine vorgeblich antiökonomische Haltung handeln, allerdings um eine, welche mit den Prinzipien und Mechanismen des literarischen Marktes sehr wohl vereinbar ist, ja diese geradezu bedient. Die Inszenierung einer Bewegung, die Erfindung eines hochgradig distinkten Ismus als ,Marke‘, der Anspruch generationeller Repräsentanz, der konfrontativ-revolutionäre Paria-Gestus, die Umdeutung mangelnder Konsekration in symbolischen Gewinn, die energische Traditionsanbindung auf der einen Seite und die polemische Negation konkurrierender Entwürfe auf der anderen – das alles sind Faktoren, die den Gesetzen literaturbetrieblicher Aufmerksamkeitsökonomie durchaus entsprechen.
Dieser Gesetze waren sich Rühmkorf und Riegel früh bewusst. Als den zeitgemäßen, „geborene[n] Mensch[en]“ einer ,finistischen‘ Epoche hatte Letzterer dementsprechend einen „lyrische[n] Dichter“ genannt, der weiß:
Er muß sich bemerkbar machen, […]. Er kann, als Aggressiver, Tiefbewegter, nur anarchisch auftreten, als Kämpfer gegen die Titelhalter der Ideen, gegen alle also.161
Und gefragt nach der Aufmerksamkeit generierenden Provokationspoetik der frühen Jahre, erklärte Rühmkorf:
Also ein junger Autor, […] der fetzt vor allem erst mal seine Gegenspieler weg. Wer nicht in sein Muster paßt, wer nicht bestimmte innere Gewebefasern mit ihm teilt, der wird von ihm zer-fasert, auseinandergenommen, im ärgsten Fall ,geschlachtet‘, […]. Eigenartigerweise habe ich die literarische Bühne schon sehr früh als Arena empfunden, eine Arena, in der Meinungen verfochten und Werte im Streit ermittelt wurden […].162
Bei den ,Werten‘, die hier Rühmkorf zufolge auf dem literarischen Markt agonal ausgehandelt werden, hat man es nach seinem mehrdeutigen Verständnis vom Markt als „Kampf und Tummelplatz“ bzw. „Wettkampfarena“ einerseits und „Warenumschlagplatz“ anderseits sowohl mit Überzeugungen und Programmen als auch mit ,Marktwerten‘ und Kapitalien zu tun.163 Wer noch keinen rechten Marktwert besitzt oder diesen steigern möchte, muss folglich auf sich aufmerksam machen.
Dass dieser Umstand für den Lyriker in besonderer Weise gilt, setzt Rühmkorf in „Kommt gebt mir was zu fressen!“ eindrücklich ins Werk. Das Gedicht, das zunächst unter dem Titel „Annonce“ veröffentlicht wurde, zeigt einen Dichter, der sich auf dem Markt selbst annonciert, der als Propagator seiner selbst auf den (literarischen) Nachkriegsmarkt tritt. Damit wiederum in die für ihn zeitlebens charakteristische Rolle des Selbstpromoters und -kommentators tretend, wollte Rühmkorf das „Gedicht des 18jährigen Oberschülers“ im Rückblick als „zynisch dialektische Antwort“ auf die Marktsituation des Lyrikers gedeutet wissen und führt in seiner Selbstinterpretation aus:
Daß mir der kapitalistische Markt schon früh suspekt geworden ist, hängt, zugegeben, auch mit den von mir erzeugten Produkten zusammen, die auf dem freien Markt kein rechtes Aufkommen finden. Obwohl mir der Beruf eines freien Schriftstellers schon mit 17–18 Jahren als ein lichtes Ideal vor Augen schwebte, konnte ich in der sogenannten Freien Marktwirtschaft nie eigentlich einen Partner für meine geistigen Höhenflüge erkennen […]. Ich erkannte schon in frühen Jünglingszeiten, daß bildliche Redewendungen, wie „Seelenverkauf“ oder „seine Haut zu Markte tragen“, aus dem täglichen Wirtschaftsleben gegriffen waren, und mein ganzes Innere warf sich dagegen auf.164
Tatsächlich wird die von Rühmkorf bald topisch beklagte „konstitutive Schrägstellung[] der Poesie zum Marktgeschehen“,165 das Problem, dass Lyrik „einen denkbar ungeeigneten Verkaufsartikel“ darstelle und „auf dem freien Markt kein Aufkommen“ habe,166 bereits im Frühwerk kritisch-ironisch reflektiert. Dafür wählt Rühmkorf schon in seinen Anfängen die Rolle eines mit dem Markt konfrontierten Selbstvermittlers und literarischen Kleinunternehmers.
So wird auf der Rückseite des siebten Heftes von Zwischen den Kriegen ein Marktschreier-Jargon angestimmt, der im Sinne des Gedichts Geld aus den ,grausigen‘ finistischen Visionen machen möchte:
WIR BIETEN: […] Monatlich […] FINISTISCHE LYRIK, […] den BLICK DURCH DAS FINISCOP, mit den Augen der finistischen Publizisten betrachten Sie das Ende der abendländischen Welt […]. Versäumen Sie nicht diese Zeitschrift zu lesen!167
Das gleiche Werbe-Idiom nimmt die Figur des Lyrikers in dem 1951 von Rühmkorf zusammen mit Klaus Rainer Röhl verfassten Stück Die im Dunkeln sieht man nicht nach der Begegnung mit einem Werbevertreter für Waschmittel an. Dieser erklärt ihm, dass Gedichte „völlig wertlos“ und Werbung „die wahre zeitgenössische Lyrik“ sei.168 Um die Aufmerksamkeit der Menschen auf dem Markt zu gewinnen, schlägt nun auch der Dichter den besagten Ton an:
Literatur! Literatur! Lyrik, prima prima Lyrik! Nur noch heute so billig. Die gute Nachkriegslyrik! […] Die Lyrik mit dem Katharsisfaktor. Auch Sie, mein Herr, ein Lyrikheft gefällig? Oma, komm näher, das ist ein Sonderangebot […].169
Wie sich hier bereits andeutet, hat Rühmkorf in der Werbung, dem Schlager und dem Wandel der Unterhaltungsmedien eine Konkurrenz zur Lyrik oder mindestens gewichtige Einflussgrößen für deren Rezeption und stets von ihm beobachteten „Marktchancen“ gesehen.170 Auch das lyrische Ich in „Kommt gebt mir was zu fressen!“ konkurriert – so suggeriert die Sprechsituation – mit anderen Angeboten um die Gunst der Umwelt. Im Gegensatz zu Denkfiguren der hermetischen Lyrik oder Adornos Ansicht, die Autonomie der Lyrik werde „umso vollkommener sein, je weniger das Gedicht das Verhältnis von Ich und Gesellschaft thematisch macht“,171 plädierte Rühmkorf entschieden dafür, die Töne und den Jargon dieser Medien, ja die von ihm skeptisch betrachtete Marktsituation selbst in das Gedicht zu integrieren.172 Gerade „die Rolle des Selbstanzeigers, Conférenciers und Marktschreiers“, die er in seiner Lyrik immer wieder einnimmt (erkennbar vor allem an der direkten Ansprache des Lesers/Hörers und der mündlichen Ausdrucksweise), erscheint ihm dabei im Unterschied zu den ,sakralen‘ und „abgehobenen Tonlagen“ konkurrierender lyrischer Programme geeignet,173 das Gedicht zur (markt-)kritischen Reflexionsinstanz zu machen und im Gedicht die „Bedingungen, zu denen es angetreten, kritisch zu reflektieren“.174
In der Aussprache eines lyrischen Ich, das wie in „Kommt gebt mir was zu fressen!“ seine Unzufriedenheit und prekäre soziale Stellung auf dem Markt artikuliert, das sich in jener Logik und Diktion der Ökonomie verständlich macht, mit der es im selben Augenblick hadert, eröffnet das Gedicht nach Rühmkorfs Überzeugung aber zugleich Wege vom „Marketing-Jargon“, vom „lyrischen Monolog“ hin zum „sozialen Plural“.175 Die Lyrik als „fast schon aus der Welt herausrationalisierte Gattung“, die sich gegenüber einer gewinnorientierten und auf kurze Produktion und schnellen Konsum ausgerichteten Warenwelt per se widerständig verhalte,176 besinge „mit den eigenen Wettbewerbsschäden das Konkurrenzkampfopfer schlechthin“.177 Dieses könne im Gedicht vom „Konfliktträger […] zum positiven Sinnbild“178 aufrücken – auch und gerade durch „eine Ich-Poesie, in der das Ich sich freiweg in den Superlativ und in die Überheblichkeitsform begibt und in der doch gerade die gesteigerte Selbstwahrnehmung den Sozialisationsfaktor darstellt“.179
Das Ich, das sich – sowohl in der fingierten Kommunikationssituation des Gedichts als auch im realen Vortrag – vor Publikum über seine eigene Bedrängnis ausspricht, dient diesem demnach als Identifikationsfigur und Gefühlsträger. Es spricht stellvertretend und gleichzeitig in Behauptung seiner Individualität, adressiere dabei das „verschüttete[] ICH im angesprochenen DU“, wodurch dem Gedicht die Funktion zukomme, Sammlungsmedium, „Sammeladresse“ und „Gesellungswerk“ zu sein.180 In solchem Sinne kündigt sich in dem Vers „Kommt, laßt uns meine Seelenqualen abbaun!“ gewissermaßen schon Rühmkorfs Poetik des ,Von mir – zu euch – für uns‘181 („ich red von mir, / zu euch, / für uns“)182 an. Aus der Gemeinschaft stiftenden Funktion von Lyrik und dem Umstand, dass diese sich den allgegenwärtigen ökonomischen Prinzipien widersetze, ergibt sich für Rühmkorf darüber hinaus die Erfordernis und das Argument dafür, diese gemeinschaftlich zu unterstützen183 – sei es ggf. auch in Form der im Gedicht vorgeschlagenen lyrischen Kapitalgesellschaft, die so besehen noch ganz andere als bloß ökonomische Gewinne abwirft. In dieser Logik versteht Rühmkorf den Markt, wie das Gedicht ihn hier ganz konkret als Kommunikationsraum entwirft, nicht bloß als Ort des Wettbewerbs und Warenverkehrs; vielmehr kann er auch ein Platz der Vergemeinschaftung, ein „politisches Forum“ sein.184 Diesem doppelten Verständnis folgend, hat Rühmkorf zum einen den Markt (im Ton und als Thema) in die Lyrik geholt und dessen Mechanismen dort kritisch reflektiert, zum anderen hat er (mit Michael Naura und Wolfgang Schlüter) die Lyrik im wörtlichen Sinn auf den Marktplatz gebracht.185
Die Idee, auf den Marktplätzen und Bühnen der Republik immer wieder unmittelbaren Kontakt zu seinem Publikum zu suchen, verdankt sich bei Rühmkorf nicht allein einem politischen Impetus. Sein Selbstverständnis – und seine Inszenierung186 – als „literarischer Selbstunternehmer und Selbstvertreiber“187 entwickelt er vor allem aus der ökonomisch prekären Lage als freier Schriftsteller, die er zumal in dem Zeitraum zwischen der Aufgabe seiner Lektortätigkeit 1964 und den 1976 nach langer Prämiierungspause erhaltenen Auszeichnungen als äußerst drückend empfand, ja die ihn sogar dazu bewog, die lyrische Produktion zeitweilig ganz einzustellen. Insbesondere im Zuge des sich andeutenden Scheiterns seiner Theaterambitionen spürt der Dichter die „nackte wirtschaftliche Existenznot“188 und fühlt sich bald darauf endgültig „äußerlich und innerlich pleite“.189 Die Idee vom literarischen Privatunternehmer, wie sie im Gedicht vom Nachkriegslyriker noch zukunfts- und selbstgewiss angestrebt wird, hat sich für Rühmkorf „als reichlich luftige Fata Morgana erwiesen“.190 Wie die Sprecherinstanz im Gedicht hat Rühmkorf allerdings nie ein Hehl aus seinen finanziellen Nöten gemacht, sondern so offensiv und anhaltend darauf hingewiesen, dass er sich die Frage gefallen lassen musste:
Sagen Sie mal, haben Sie eigentlich kein anderes Thema außer immer wieder Geld?191
Wer in der Nachkriegszeit, wie vom Nachwuchsdichter in „Kommt gebt mir was zu fressen!“ angeworben, Aktien auf Rühmkorfs Lyrik gezeichnet hätte, der dürfte damit sehr lange allenfalls symbolisches Kapital erworben, nicht aber ökonomische Dividenden erhalten haben. Denn Rühmkorf erreichte zwar vergleichsweise schnell den Status eines der bekanntesten deutschen Lyriker seiner Zeit, die Lyrik musste er nach eigener, ebenfalls mehrfach wiederholter Aussage jedoch stets subventionieren bzw. querfinanzieren:
[I]ch kann, wenn ich Gedichte schreibe, von diesen Gedichten nicht leben. Die Gedichte leben vielmehr von mir […]. Trotz allem habe ich mich seltsamerweise mein Leben lang als freier Schriftsteller durchschlagen können, mit Aufsätzen und biographischen Schriften, mit sogenannten schriftstellerischen Nebenarbeiten, mit Zeitungskritiken, Hörspielen, Zweit- und Drittverwertungen, zwei Märchenbüchern, schließlich zahllosen Vortragsreisen […].192
Wie das Zitat zeigt, hat Rühmkorf Praktiken entwickelt, mit dem Konflikt zwischen lyrischer Selbstverwirklichung und notwendigem Broterwerb umzugehen. Dazu gehört in erste Linie das, was Rühmkorf mit ,eben noch verantwortlicher Prostitution‘ oder ,auf den Strich gehen‘ bezeichnet.193 nämlich das Verfassen von Auftragsarbeiten wie Rezensionen, Essays und Vorworten für Zeitungen, Zeitschriften und Verlage. Dass diese einen beträchtlichen Teil seines Gesamtwerks ausmachen, dass er sich dieser Texte immer wieder bediente und sie zum Teil vielfach in seinen Werken abdruckte, verweist auf ein weiteres für Rühmkorf charakteristisches (text-)ökonomisches Verfahren: die Mehrfachverwendung bzw. den Mehrfachabdruck von Texten.194
Anhand der von Wolfgang Rasch zusammengestellten Rühmkorf-Bibliographie lässt sich schnell feststellen, dass Rühmkorf diese Methode in beträchtlichem Umfang schon in der Anfangszeit praktizierte, indem er etwa Texte aus Zwischen den Kriegen später im Studenten-Kurier bzw. Konkret nochmals veröffentlichte. Während Rühmkorf diese Praxis später wohl nicht zuletzt aus ökonomischen und werkpolitischen Erwägungen heranzog, war sie zunächst vermutlich eher ein effizientes Mittel zur Erzeugung von größtmöglicher Bekanntheit und Aufmerksamkeit. Zu diesem Zweck – und wiederum ganz in der Tradition von „Kommt gebt mir was zu fressen!“ – schreckte der junge Autor selbst vor vermeintlich unlauteren Methoden nicht zurück und rezensierte 1955 im Studenten-Kurier unter dem Pseudonym Hans-Werner Weber die eigenen Gedichte.195 Aus der Rückschau nimmt dies wenig wunder, denn wie kaum ein anderer Dichter hat Rühmkorf sich unermüdlich selbst interpretiert und kommentiert – so etwa auch sein hier behandeltes Gedicht, das er mehrfach als Beispiel früher Marktskepsis anführte.196 Er, der den klassischen Vermittlungsinstanzen wie Literaturkritik, Philologie und Akademien nicht traute, weil er sich ständig von ihnen vernachlässigt sah, begab sich folglich auch auf dem Markt der Deutungen und bleibenden literargeschichtlichen Marktwerte in die Rolle des Selbstpromoters und Direktvermarkters.197 Noch dort, wo er eigentlich über Kollegen zu sprechen vorgab, suchte und porträtierte er in erster Linie sich selbst. Dies wird etwa in seinem literarhistorischen Interesse an der lyrischen Selbstannoncierung erkennbar, dem er gerade in der Phase seiner vielleicht größten ökonomischen und mentalen Krise Anfang der 1970er Jahre nachging.
Damals fand Rühmkorf Orientierung bei literaturgeschichtlichen Vorbildern, nämlich bei Walther von der Vogelweide und Friedrich Gottlieb Klopstock.198 In beiden entdeckte er die eigene Existenz als „literarische[r] Privat- und Einzelunternehmer“, als „Wanderarbeiter“ und „Saisonjobber“ wieder.199 Besonders mit Walther und seinem prahlerischen Spielmannsgestus identifiziert sich Rühmkorf. Ihn liest und deutet er auf sein eigenes Programm hin. Dieser Optik gemäß erscheint ihm Walther als „lyrische[r] Soloposaunist“, der „mit allen Mitteln der Selbstpropaganda gegen einen Panoramahintergrund von Vorgängern, Nebenbuhlern, Mitbewerbern oder Widersachern abzuheben sucht“.200 Sich in Sachen Eigenwerbung mit dem lyrischen Vorbild in Übereinstimmung glaubend, überträgt er u.a. dessen „Ir sult sprechen willekomen“. Durch effektvolle Abweichungen von einer wortgetreuen Übersetzung (z.B. „mære“ als „neuer Ton“ anstelle von ,Neuigkeiten‘ oder das Angebot eines Tauschgeschäftes „schlicht um schlicht“) rückt er die erste Strophe in deutliche Nähe zur Sprechsituation des selbstbewusst die Bühne betretenden lyrischen Kleinhändlers und Selbstvermarkters in „Kommt gebt mir was zu fressen!“
Ihr dürft mich willkommen heißen!
Was ich mitbring, ist ein neuer Ton.
Eure hier bislang bekannten Weisen
sind nur heiße Luft was ist das schon?
Allerdings die Kasse muß schon stimmen, oder etwa nicht?
Gebt ihr solchermaßen schlicht um schlicht,
Aufgepaßt, was ich euch hören lasse.201
Was man von Walther hätte lernen können, musste man offenbar schon dem 18-jährigen Rühmkorf nicht mehr beibringen, denn eine Lektion – das zeigt das hier besprochene Gedicht – hatte er bereits früh verinnerlicht: „Klingeln gehört zum Tingeln.“202
Philipp Böttcher, aus Rüdiger Zymner, Hans-Edwin Friedrich (Hrsg.): Gedichte von Peter Rühmkorf. Interpretationen, mentis Verlag, 2015








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