LIED
Nimm hin mein Lied −
Es ist nicht froh,
Der Regen weint und weint.
Und wer ihn sieht
Weiß sowieso,
Wie es das Glück gemeint.
Es ist vorbei
Die helle Zeit,
Die Lachen uns gelehrt.
Sie gingen entzwei,
Zwiespalt gedeiht −
Wenn auch die Welt sich wehrt.
Kehrt sie zurück?
Ich weiß es nicht.
Vielleicht weiß es der Wind.
Er kennt das Glück,
Wenn’s nicht zerbricht,
So sagt er’s uns geschwind.
Doch sieh, der Wind
Verbirgt sich doch −
Er ist ja gar nicht da.
Ganz wie ein Kind,
So glaubt er noch:
Nur er weiß, was geschah.
Nimm hin mein Lied.
Vielleicht bringt es
Das Lachen einst zurück.
Und wer es liest,
Der sagt: Ich seh’s,
Und meint damit das Glück
Wie Anne Frank erlitt das Mädchen Selma, Tochter deutsch-jüdischer Eltern aus Czernowitz, den Tod in einem faschistischen Konzentrationslager. Als Fünfzehnjährige begann sie Gedichte an ihren Freund zu schreiben, Gedichte von besonderer Empfindungstiefe. Über die träumerische Sinnlichkeit erster leidenschaftlicher Liebe fallen die Schatten der drohenden Deportation. Vertrautheit mit der Natur, das Gefühl für den Augenblick einer Stimmung prägen die Verse, aber auch die Angst, nicht zu Ende schreiben zu können. Doch sie sind mehr als spontaner Ausdruck von Lebensbejahung und Lebensschmerz, es sind Zeugnisse einer reichen Kenntnis deutscher und internationaler Dichtungstradition die auf eigene Weise hier lebendig wird. Auf abenteuerlichen Wegen gerettet, spät entdeckt, sind diese Gedichte – Bruchstücke eines gewaltsam abgebrochenen Lebens – bewahrenswerter Bestandteil deutschsprachiger Lyrik unseres Jahrhunderts.
Ankündigung in Vilém Závada: Poesiealbum 165, Verlag Neues Leben, 1982
ein Dichtungsversuch und eine Dokumentation von vollkommen jugendlicher Unschuld und sensibler Schönheit. Etwas entfaltet sich in ihnen rasch zu einer zarten lyrischen Tonart, zu einem ahnungsvoll reifenden Lied, das immer wieder angestimmt wird, als wolle es nicht enden. Diese Bruchstücke haben tatsächlich etwas von einem ein für allemal und wie ununterbrechbar angestimmten Ton.
Karl Krolow, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1981
Frank Schlösser: Nur Zeit für eine „Blütenlese“
Das Max-Samuel-Haus zeigt derzeit eine Ausstellung über die jüdische Lyrikerin Selma Meerbaum-Eisinger (1924–1942) aus Czernowitz.
Jörg Aufenanger: „Dass man wie Rauch ins Nichts verfließt“
Frankfurter Rundschau, 4.2.2024
Nina May: Perpetuierte Fehler
Deutsche Zeitung, 13.2.2024
Ich sing’ dir von Weh und von Tod und vom Ende … Selma Merbaum (1924–1942) zum 100. Geburtstag. Ein Abend mit Nora Gomringer am 5.2.2024 im Lyrik Kabinett, München.
Selma Meerbaum-Eisingers Gedicht Sonne im August gesungen von Hermann van Veen.
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