HAUSROTSCHWANZ
sieh-, sieh-, sieh-, siehst du mich nicht?
hie-, hie-, hierrrr bi-, bin isch doch!
glitzernde arterien
der giebel
lassen frische triebe wir
und wassersilben
sinken
bis riginschirm ihr
schimrigin zieht
ikschtrim küssnützlich
küssnützlich
ikschstrim ikschtrim
Ulrike Draesner: what is poetry
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„Subsong“, „whisper song“ oder „Plaudergesang“
ist ein leiser Vogelgesang: Eine Ansammlung vertrauter Rufe und neuer Lautserien, aus dem Augenblick entstanden, aus Freude. Gedichte als Subsongs. Da wird Wortschatz weitgesungen, da dehnt die Liebe immer beides, Sprache und Herz. Subsongs sind besonders schön: sie haben keine Funktion. Es wird familiengeschwätzt, gelallt, versucht. Ohne es zu bemerken beobachtet man Poesie. Ulrike Draesner „poetisiert die Welt“: Indem sie ihr ihre Töne abnimmt, sie in Sprache übersetzt. Exakt. Melodiös. Lächelnd zugewandt.
Luchterhand Literaturverlag, Ankündigung
„Subsong“, „whisper song“ oder „Plaudergesang“
ist ein leiser Vogelgesang: Eine Ansammlung vertrauter Rufe und neuer Lautserien, aus dem Augenblick entstanden, aus Freude. Gedichte als Subsongs. Da wird Wortschatz weitgesungen, da dehnt die Liebe immer beides, Sprache und Herz. Ulrike Draesner schält Stimmen heraus, die wir überhören, folgt den subkutanen Liedern in unseren Metaphern. Über ein Dutzend Vögel zeigen Körper und geben Laut, ein Kind lernt sprechen, eine Stimme aus dem Aufwachraum erklingt. Wie übersetzen wir uns „Natur“? Und unseren Körper? Welche Bilder machen wir uns von der Verknüpfung Sprache und Ich? Und was macht die Poesie mit einer Welt, die in den vielfältigsten Zungen erscheint?
Subsong: Das Rauhe am Ton, das Melodiöse. Schönheit und Brechung, Plastikkanister und Idyll, Fremdheit und Schichtung der Zeit. Subsong: die Wissenschaft steht vor einem Rätsel, dem Hörer öffnet sich das Ohr. Subsongs sind besonders schön: sie haben offenbar keine Funktion. Es wird familiengeschwätzt, gelallt, versucht, die Kehle geölt. Ohne es zu bemerken beobachtet man Poesie.
Ulrike Draesner „poetisiert die Welt“: Indem sie sie erforscht, ihr ihre Töne abnimmt, sie in Sprache übersetzt. Exakt. Lächelnd zugewandt.
Luchterhand Literaturverlag, Klappentext, 2014
Subsong
„Subsong“, „whisper song“ oder Plaudergesang ist ein leiser Vogelgesang: Eine Ansammlung vertrauter Rufe und neuer Lautserien, aus dem Augenblick entstanden, aus Freude.
So lockt die Werbeabteilung des Verlags neugierige Leser, die über den Umschlag hinaus ihren Blick auf den ersten Lautstotterer geworfen haben: rotten torten stotterdamen / sich zurotterstotterdamendramen / werden… ähh, verstehe ich Bahnhof? Also zurück zum Klappentext:
Ulrike Draesner schält Stimmen heraus, die wir überhören, folgt den subkutanen Liedern in unseren Metaphern, über ein Dutzend Vögel zeigen Körper und geben Laut.
Bis zu dieser Feststellung vermag ich zu folgen, dann aber folgt:
ein Kind lernt sprechen, eine Stimme aus dem Aufwachraum erklingt. Wie übersetzen wir uns ,Natur‘? Und unseren Körper? Welche Bilder machen wir uns von der Verknüpfung Sprache und Ich? Und was macht die Poesie mit einer Welt, die in den vielfaltigsten Zungen erscheint?
Eine vorläufige Antwort erhält der noch immer rätselnde Leser nach der Titelage auf der Seite 5: Subsong sei eine Art meist relativ leisen Gesangs von Singvögeln. Er unterscheide sich vom Territorialgesang der jeweiligen Vogelart und trete auch „bei Arten auf, die nicht singen, um Reviere zu markiere.“ Und was tun sie stattdessen? Sie plaudern, weil sie „noch nicht um Brutplätze oder Weibchen konkurrieren, oder von erwachsenen Vögeln außerhalb der Brutzeit.“ Soweit, so beinahe verständlich, wenn es nicht zwei unterschiedliche Definitionen von Subsong gäbe. Vorne im Klappentext: Subsong:
Das Rauhe am Ton, das Melodiöse. Schönheit und Brechung, Plastikkanister und Idyll, Fremdheit und Schichtung der Zeit (?). Subsong: die Wissenschaft steht vor einem Rätsel, dem Hörer öffnete sich das Ohr.
Und sieben Seiten weiter:
Der Subsong besteht in der Regel aus Rufen und plappernden Lautserien und kann Imitationen beinhalten. Er ist stark individuell geprägt.
An dieser Stelle folgt der Hinweis der Autorin, dass die Ornithologie Subsongs lange ignoriert habe, was umso bedauerlicher sei, denn sie sei „Melodie hinter der Melodie, Melodie in Teilen, im Aufbau, auf dem Weg zu etwas Neuem“. Und wie läuft die sprachlich-untertonige Umsetzung der Subsongs ab? Zunächst vollführt ein Vokabeltrainer das „Einsingen“, wobei lautmalerische Silbensprünge, kindliche Rede, in der Buchstaben verschwinden, poetisch hoch gestochene Ausdrucksformen und vieles mehr sich abwechseln. Beispiele? (p) einkaufen p(.)atürlich… weinend: früchterlich / der russverschleiß oder „später steigt feucht das gras / ins herz: das planschrondell / der eigenen tochter rosaweiß / -rosa von nichts.“
Der Vokabeldehner, der sich dem Weitsingen gewidmet hat, wildert in chaotischen Liebesverhältnissen, wie der Text „pandora reicht’s“ zeigt:
… die zweite brust war besser als die gieranie
mömps und fleichfarbenes äugeln
Was solche „gefpoppten“ Wortkaskaden im akustischen Reizgedächtnis auslösen, verspürt die Dichterin, die gerade mit dem Christian-Morgenstern-Preis ausgezeichnet wurde, sicherlich immer wieder. Ihre übermütigen Wort- und Satzabbrüche, ihre überraschenden semantischen Assoziationen und syntaktischen Abbrüche erzeugen beim Hörer unerwartetes Kichern, so als ob… Und die angekündigten Subsongs der Vögel? „lippkarü! lippkarü! (brchnchsprch)“. Was auf der Seite 57 sich zwitschernd meldet, erweist sich als eine lichttastende Reise durch eine Vogelwelt, in der es, wie erwartet, drunter und drüber geht. In einer „speech of seefee“ jauchzt ein Reiher „hoiiiij hoiiije“ und gleich nebenan tauchen „mücken auch im binsen… / und verfangen küsst’ ins kissenmoos / das schilf licht fleckenrot mikadolich“. Und in diesem „subsongigen“ Schilf geht so wild zu, dass sich sogar einige Wörter ganz klein machen:
Liebe
saus liebes
aus und mücken auch im binsen
Und wer tobt noch über, unter und durch Seen und Meere? Bekassinen, Möwen, Krebse, Elstern (in einem wunderbaren onomatopoetischen Singsang!), Raben, Spechte, Blaumeisen, Hausrotschwänze und mit vielen anderen auch ein junges Amselweibchen, das leise im März, auf der Antenne sitzend, einen Subsong anstimmt.
Und wie sieht es aus mit der versprochenen ,sprch‘? Er ist einem beinahe ausgestorbenen Vogel gewidmet, der Waldrappe (Geronticus eremita). Dank eines Artikels aus der Hand des Tierschützers Daniel Lingenhöhl (Eintrag vom 9. September 2009 bei Google) kann sich auch der Leser über diesen Vogel informieren, der im Mittelalter in Europa so verbreitet war, und dann wegen seines wohlschmeckenden Fleisches von den Menschen beinahe ausgerottet wurde. Ulrike Draesner setzt sich in ihrem Text mit der ironischen Anspielung „jetzt wird wieder in die näpfe gespuckt…“ und der anschließenden Lautmelodie „grigriigriiigriii…“, den imitierten Rufen der Waldrappe, mit der Tatsache auseinander, dass Tierschützer sich für die Wiederansiedlung der wenigen Vögel in den Alpen einsetzen:
es lernte die waldrappe nun fliegen
hinter dem leichtmetall – aufzucht nach
hand renatur.
Seit 2004 nämlich geleiten sie mit Leichtmetallflugzeugen die Waldrappen jeden Herbst bis an die Küste der Toskana, von wo aus sie ihren Weg nach Nordafrika finden, um dort zu überwintern. Doch so tröstlich und ermutigend die Rettung dieser Vögel auch sein mag, der sarkastische Kommentar der Dichterin spricht Bände für den Zustand unserer Erde:
die rosanackten Köpfe,
…
über den spiegel zogen
von einem naturschutzgebiet
zum nächsten see
wäre es da nicht einfacher
eine neue erde
(sag mal) zu b-b-b-b-auen?)
Je weiter der Leser in das mit immer neuen Überraschungen ausgestattete Reich der unerschöpflichen Subsongs vorstößt, desto mehr entdeckt er die untertonige Klangwelt unserer Vögel. Die auf leider nur drei Seiten (S. 227ff.) festgehaltenen Erläuterungen der Autorin helfen ihm sicherlich dabei. So wie das Motto ,sub aus dem kollektiven ohr‘, das einem Brief von Francesco Petrarca über die Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336 entnommen wurde, oder die Entstehung des Zyklus Beatles-sub-songs. Aber es tauchen auch viele andere musikalische Motive auf, die an dem Ohr des Lesenden vorüberrauschen, aber sicherlich viele Aha-Erlebnisse auslösen, wenn die Subsongs im Hörkanal der Rezipienten ankommen. Das bezeugen die sub songs vom berge mit dem anmutigen und zugleich zynischen Text über die Arche Noah ebenso wie der Zyklus „sub“ aus dem „sänger song“ (petrarca/ s /tempel), in dem Elemente der visuellen Poesie (Wortkaskaden in Gestalt von Bäumen) auftreten.
Dass Ulrike Draesner nicht zuletzt aufgrund ihres Anglistik-Studiums ein besonders Faible für die englische Pop-Lyrik entwickelt hat, zeig-hören die beatles-subsongs, in denen weltweit bekannte Songs der Beatles parodiert werden. Da verwandelt sich die berühmte „Yellow Submarine“ in „Gelbe Suppmarie“ und „Strawberry Fields“ in „Strohbeerfilz“. Was in solchen Passagen ehrwürdige Verteidiger der abendländischen Poesie als Kitsch bezeichnen könnten, erweist sich, wenn auch nicht immer geglückt (vgl. „When I’m Sixty-Four“ mit „Im Jahr Sechzig-vier“) als Unsinnslyrik mit vielen überraschenden Schattierungen.
Und der anthropologische Bezug des dichtenden Ichs zu dieser Art von Lyrik? In dem Text „sub aus dem körper“ (vgl. S. 181–188) gibt Draesner etwas kund, was sie in einem Gespräch mit dem Redakteur der Zeitschrift OSTRAGEHEGE, Axel Helbig, offenbarte:
Wir haben so viel körperliches Empfinden, das wegen der Armut unserer Sprache nicht erfasst werden kann. Zu dieser sprachlichen Umsetzung müsste auch Mimik und Gestik gehören.
(vgl. Axel Helbig. Der eigene Ton 2, Dresden 2014)
Im „subsong“ spricht sie orphisch-verklärt davon, dass ihr lyrisches Ich in der Abendstunde ein späterer Geist des normalen betäubten Menschen werde:
denn auch wir hören vögel die es sichtbar
nicht gibt
und haben überall öffnungen für zeiten und
übungen der trance
die ein anderer dem körper
schenkt.
Ist es nicht wunderbar, dass ein führender deutscher Literaturverlag einer so experimentierfreudigen Dichterin die Möglichkeit eingeräumt hat, mit ihren phantasiegeladenen Texten in untertonige Bereiche vorzustoßen, die unseren von Stress betäubten Zeitgenossinnen und -genossen so fremd sind? Also auf in die Hörwelten der Ulrike Draesner, in denen wir uns als Artgenossen unserer vom Aussterben bedrohten Vögel und als Zuhörer unserer untertonigen Welt wiederfinden werden!
Wolfgang Schott, Ostragehege, Heft 75, 2015
Hörbilder, Sprachspiele
– Ulrike Draesner erforscht in ihrem neuen Gedichtband den Spracherwerb von Kindern und die ersten Töne von Jungvögeln und macht dabei wunderbare poetische Entdeckungen. –
Ulrike Draesner hält es mit den Anfängen, insbesondere den Verlautbarungen, welche in früher Kindheit der Kehle entsteigen und erst allmählich Sprache werden. Diese beschäftigen die in Berlin arbeitende Lyrikerin, Essayistin, Romanautorin bei Mensch und Tier. In subsong, ihren neuen Gedichten, ist es vor allem der Spracherwerb der eigenen kleinen Tochter, und es sind, wie sie eingangs erklärt, die „Plaudereien“ junger Vögel, die noch nicht im Dienst der Arterhaltung stehen. Solche „Erprobungen des Vokabulars“ werden in der Ornithologie Subsong genannt. Nicht codiertes Singen und Sprechen hat spätestens seit der Romantik die Dichter bezaubert, vermehrt noch jene, die sich wie Ulrike Draesner der literarischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts verpflichtet fühlen. Ihr Bestreben geht dahin, den ungezähmten Laut für die Poesie fruchtbar zu machen. Die sprachtheoretisch gebildete Autorin scheint zu suchen, was in den 1970er Jahren Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihren Plädoyers für die „kleine Literatur“ das „Unterdrückte in der Sprache“ und die „sprachliche Unterentwicklung“ nannten.
Diese Suche nach vergessenen Territorien des Ausdrucks gerät oft überraschend, im lustigen Text „Gelbe Suppmarie“ beispielsweise. Die Ich-Figur erinnert sich da an die Elfjährige, die den Beatles-Song „Yellow Submarine“ falsch verstanden hat. Die Verse holen eine ganze vorpubertäre Lebensphase wieder hervor. In „pangen (sie spicht kein r)“ steht im Mittelpunkt das Kind, das ohne den Konsonanten „r“ auskommt. Und wie es diesen endlich beherrscht, macht sich die dichtende Mutter in „paprika mamrika“ fasziniert ans rhythmisierende Überkompensieren:
seit drei tagen kann sie das r und
wie sagte sie „paprika“ nach der kita
„mamrika“ wir lachten liefen riefen
ros…
Am variantenreichsten fallen die Vogelstimmen-Gedichte in der Abteilung „lippkarü! lippkarü! (brchnchsprch)“ aus, die über fünfzig Seiten umfasst. Die vorangestellten lautmalerischen Zeilen, die Rufe u.a. von Hornrapp, Leierschwanz oder Zaunkönig wiedergebend, beruhen teilweise auf eigenen Aufzeichnungen – wie überhaupt die genaue Kenntnis, etwa auch kulturhistorischer Art, die abenteuerlichen Wortgebilde immer wieder zu erden vermag: der „viktorianisch koloniale“ Papagei fällt als „tulpengemälde“ ins Auge, „drei millionen gulden wert“, gleichzeitig mag einen die unter dem dichten Federkleid „ganz und gar verborgene dünnknochige gestalt“ ergreifen.
Anderes gerät allzu zielstrebig zum Experiment, um nicht zu sagen, zur Spielerei, und verlangt der Geduld der Leser denn doch zu viel ab. „sub aus dem sänger song (petrarca / s / stempel)“ beispielsweise besteht aus Übermalungen von Petrarcas Laura-Sonetten. Das Schriftbild zeigt eine Aufreihung zurechtgestutzter Lorbeerbäumchen, die zwar eher deutschen Tännchen gleichen. Es sind Figuren- oder Bildgedichte, wie sie im Barock und später wieder in der konkreten Lyrik beliebt waren. Auch wenn Liebestöne, Liebesnöte aus heutigen Tagen daraus vernehmbar werden, folgt man der Autorin nur unwillig. Im Bemühen, in den verbalen Hörbildern, all den Rätselklängen, einen Sinn zu erhaschen, ist man versucht, sie mit einem ihrer eigenen Statements zu widerlegen:
Aufklärung? Gewiss. Und doch: Klärt man auf, gerät man sogleich in die nächste Dunkelheit.
Hinter der Manier vermisst man, um mit Heiner Müller zu reden, denn doch gelegentlich den „Tanzschritt Ich“, also Rhythmus und Dringlichkeit einer existenziellen Aussage.
Eine solche gewinnt Ulrike Draesner allerdings in zwei exzellenten Texten zurück: in „sub mère détachée“, einem eigentlichen Tochter-Mutter-Drama in Versen, und in „3 what is poetry?“, dem Schlussgedicht zum Alltag mit Kind, Haushalt, Garten und plötzlicher Selbstbegegnung in einem Spiegelbild, das die Betrachterin mit einem fragilen, wissenden und gleichzeitig undurchschaubaren Wesen konfrontiert. Da stösst dieses Schreiben in überraschende Zonen vor.
Beatrice von Matt, Neue Zürcher Zeitung, 19.3.2015
Falsche Fründe stonn zesamme
– Wenn die Beatles und die Bibel beim Wort genommen werden: Ulrike Draesner stellt in ihrem neuen Gedichtband Subsong die Frage nach dem Wesen der Poesie neu. –
Sind Gedichte Kugelblitze? Ballen sie Erfahrungen, Erkenntnisse, Beobachtungen blitzartig zu Augenblicken? Mit dem meteorologischen Phänomen haben sie gemein, dass ihre Entstehung und Wirkung nicht eindeutig erklärt werden kann. Lassen sich Gedichte dehnen wie Räume, Körper oder Gegenstände? Kann man ihre Bestandteile zusammenzurren oder durch Lücken auflockern? Ulrike Draesner kann das und vieles mehr. Vor allem aber können ihre Gedichte singen. Vom Ursprung der Poesie, dem rhythmischen Gesang ausgehend, üben sie „einsingen“ und „weitsingen“ als „vokabeltrainer“ und „vokabeldehner“, so die Untertitel der ersten Kapitel.
Subsong markiert den vorläufigen Höhepunkt einer assoziativen Sprachbewegung, die Ulrike Draesner mit ihrem lyrischen Erstling gedächtnischleifen (1995) facettenreich in Gang gesetzt hat. Neben Romanen, Erzählungen und Essays publizierte sie fünf weitere Gedichtbände, in denen sie sowohl geschlossene als auch offene Formen erprobt und bis zur Perfektion weiterentwickelt hat. Subsong greift erneut die minutiösen Alltagsbeobachtungen der gedächtnisschleifen auf, aber auch die in anis-o-trop (1997) bevorzugte Form der Ode und des altehrwürdigen Sonettenkranzes. Seit dem Band für die nacht geheuerte zellen von 2001 fließen die Fragen der Genbiologie und der Reproduktionsmedizin ein, neuerdings ergänzt um die Sprache der digitalen Welt ein. Wie schon im Band berührte orte (2008) stellen die Gedichte zugleich ihren mehrsprachigen Charakter aus.
Das sind Wörterwandlungswelten, die mit Texten anderer Autoren korrespondieren. Unter ihnen Friederike Mayröcker, Thomas Kling, Hilda Doolittle, Gertrude Stein (die die promovierte Philologin ins Deutsche übersetzt hat) und viele andere. In subsong bevorzugt sie die Kontrafaktur, ein Verfahren, das die Form des Originals weitgehend übernimmt, aber mit abweichenden Inhalten füllt, zum Beispiel bei der eigenwilligen „Übersetzung“ von Bibel-Motiven im Zyklus „sub-post-bible“ und bei der Übertragung von Beatles-Songs („beatles-sub-songs“). Sie gestaltet durchkomponierte Systeme, die – statt wohltönende Sprachklänge abzuspielen – Gegensätze aufeinanderprallen lassen.
Subsong ist ein umfangreicher, thematisch und stilistisch komplexer Band, der einmal mehr die Frage nach dem Wesen der Poesie stellt. In ihrem Gedicht „What is poetry?“ sieht eine Frau, die sich inmitten der atemlosen Verrichtungen des Alltags ihre Empathie bewahrt hat, für Sekunden die Spiegelung ihrer selbst im Gartenteich. Von diesem Spiegelbild heißt es: Es weiß „mehr über dich als dir recht sein kann“. Was sich dem Wissen entzieht und dem Wissen darüber, dass wir es nicht wissen, ist im Gedicht aufgehoben. Fern jeder Mystik, geerdet durch einen beiläufig ins Bild kommenden Beziehungs- und Familienalltag („marmeladenbrot schmieren / marmeladenbrot vom teppich klauben“), intoniert Ulrike Draesner die Melodien hinter den Melodien und lässt ihren Blick zwischen „tümpel“ und „sonnensturm“ schweifen. Selbstverständlich bezieht Draesner Fremdsprachen, vor allem Englisch und Französisch, in ihre Gedichte ein. Das entspricht dem zeitgenössischen Gebrauch der digitalen Medien. Ganze Kapitel der subsong leben von den abweichenden Bedeutungen der Übersetzungen. Aus dem Phänomen, das Sprachwissenschaftler „Falsche Freunde“ (false friends) nennen, zog schon Draesners Erzählung „hot dogs“ (2004) ein sarkastisches Vergnügen.
False friends: Was sich im Englischen und im Deutschen orthographisch oder phonetisch ähnelt, hat meist auf der Ebene der Semantik nichts miteinander zu tun. Die aus den vermeintlichen Ähnlichkeiten resultierenden Trugschlüsse und Irritationen machte sich vor fünf Jahren auch Uljana Wolf in dem Lyrikband Falsche Freunde zunutze. Ulrike Draesner zieht aus false friends einen besonderen Spaß in den „beatles-sub-songs“, die auf den ersten Blick als Jux erscheinen mögen. „Quietschen Holz“ heißt Ulrike Draesners Übertragung des Songs „Norwegian Wood“, der im Original von einer verpassten erotischen Episode erzählt. Die Frau bleibt gleichgültig, entzieht sich dem Mann. Die bewusst „falsche“ Übersetzung aber verkehrt die Aussage des Songs ins Gegenteil: Der verschmähte Mann verwandelt das Girl in seiner Erinnerung in eine aufdringliche Gegnerin. Aus der Umworbenen wird eine Hassfigur, die per „Übersetzungsfehler“ infolge vager Lautähnlichkeiten plötzlich die miesesten Eigenschaften und Verhaltensweisen nachgesagt werden. Ein Racheakt des Abgewiesenen?
Draesner schürft hier tiefenpsychologisch mit den Mitteln der Sprache. Echte „Falsche Freunde“ im linguistischen Sinne sind das nicht. Die Autorin hat die – im Original nur zu ahnenden – Dissonanzen in ihrer Übersetzung mit Bravour auf die Spitze getrieben. Erstaunlich, was da in den Ohrwürmern der Beatles – von „Yellow Submarine“ über „Michelle“ und „For No One“ bis „Strawberry Fields Forever“ – im Subtext zum Vorschein kommt an unterschwellig vorhandenen Geschlechter-Vorurteilen und -Empfindlichkeiten. Draesner präsentiert sie mit hintersinnigem Witz in irren Tohuwabohu-Szenen. Bei „When I’m sixty-four“ geht sie ins Parodistische, wenn aus „We shall scrimp and save“ ein „Wir schäl’n Schrimps im Safe“ wird. Manchmal findet sie unter dem vermeintlich Tragischen das Triviale, neben dem Melancholischen das Komische, unter dem Romantischen das Gefühlsduselige und den Nonsense. Wer immer die Songs der Beatles je im Ohr hatte, nimmt sie nach der Lektüre der subsongs anders wahr. Poesie wirkt hier als Totengräber der Nostalgie.
Die Sprachkunst der Ulrike Draesner unterscheidet sich vom willkürlichen Verhackstücken von Sprache oder vom rational kalkulierten Formenspiel unter anderem durch die den Gedichten innewohnende Empathie für Mensch, Tier und Natur. Das gesamte dritte Kapitel ist den Vögeln gewidmet. Die Gedichte orientieren sich an der jeweiligen Lautsprache der Vögel, unter ihnen Rabe, Spatz, Schwalbe, Zaunkönig, Wanderfalke und viele andere. Von den Gedichten des jungen Amerikaners Jeffrey Yang, der in seinem Buch Ein Aquarium die unwiederbringliche Schönheit aussterbender Meerestiere besungen hat, aber auch von den jüngsten Versen der Silke Scheuermann zum Thema Artensterben, hebt sie sich durch das Vermeiden jeglichen Lamentos ab.
Draesner schlägt den Bogen von gegenwärtigen Natur-Details zu großen universalen Zusammenhängen. („überrest einer reise / von millionen von jahren“). Erinnerungen an Urzeitliches und Auswüchse heutiger Tier-Industrie und Tier-Vermarktung (etwa in den Gedichten „kiepen“ und „schwalbennestsuppe“) kommen ins Bild. Den Bemühungen von Gentechnikern, ausgestorbene Arten wiederzubeleben, setzt sie die rhetorische Frage entgegen, ob es nicht leichter wäre, eine neue Erde zu bauen. Draesners Gesellschaftskritik kommt ohne erhobenen Zeigefinger aus, wirkt in ihrer scheinbaren Beiläufigkeit umso eindringlicher.
Mit wortwandlerischem Vergnügen ernste Themen durchzuspielen, ist ein Vorzug der Gedichte Ulrike Draesners. Sie lässt die „reiheruhr“ ticken, stürzt sich „rabenkoppheister“ in die Vogelwelt und folgt der „elektronenquappe“ auf den Grund des Seins.
Dorothea von Törne, Die Welt, 27.12.2014
So schön singen nur Jungvögel
– Die Aufdeckung der Untertöne: Ulrike Draesners neuer Gedichtband Subsong geht der Sprache unter die Melodiehaut. –
„Dieser Text ist verschwunden.“
Wulf Segebrecht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.2.2015
Weitere Beiträge zu diesem Buch:
Elke Engelhardt: Schreiben als Stoffwechsel
fixpoetry.com, 7.1.2015
Michael Braun: Stimmen aus dem kollektiven Ohr
signaturen-magazin.de
Ulrike Draesner stellt ihren Gedichtband Subsong am 4.11.2014 in der literaturWERKstatt berlin vor. Hier ist die Veranstaltung zu hören.
Christian Schlösser im Gespräch mit Ulrike Draesner.
(Das Gespräch wurde am 16. April 2005 in Oxford am Rande einer von Karen Leeder am New College organisierten international besetzten Fachtagung zur Lyrik des 20. Jahrhunderts geführt.)
„Als ob“
Ulrike Draesner im Interview mit sich selbst über ihr Leben als Schriftstellerin und als Professorin für literarisches Schreiben.
Auf einen Kaffee mit… Ulrike Draesner
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Anton G. Leitner interviewt die Schriftstellerin Ulrike Draesner – Werk, Wirkung, Wirklichkeit 4.1
Anton G. Leitner interviewt die Schriftstellerin Ulrike Draesner – Werk, Wirkung, Wirklichkeit 4.2









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