Dichtersprache, Gebrauchssprache, Universalsprache
Das prekäre Vermächtnis der «konkreten Poesie»
Teil 4 siehe hier …
Das bereits erwähnte «Programm» von 1958 stellte den dichterischen Konkretismus als «eine allgemeine Wortkunst» heraus, «das dichterische Produkt als Gebrauchsgegenstand». Durch diese Verallgemeinerung und Nutzbarmachung – jeder ein Dichter! jedes Gedicht ein Gebrauchstext! – heben sich die «Konkreten» von den literarischen Avantgardisten der 1910er Jahre deutlich ab: Deren elitären Bedeutungsentzug konterkarieren sie mit der «allgemeinen» Verständlichkeit und Verwendbarkeit ihrer dichterischen Produktion.
Eugen Gomringer hat sich diese Verallgemeinerung in seiner langjährigen Spracharbeit konsequent und exemplarisch mit professionellem, gelegentlich auch mit spielerischem Ernst zur Aufgabe gemacht, und als einziger unter den konkreten Dichtern hat er in der Folge eine gewisse Popularität erreicht – seine Texte sind in grosser Anzahl gedruckt worden und werden stetig nachgedruckt, sein Werk ist reichlich in die Sekundärliteratur, in Anthologien und Schulbücher eingegangen. Zu seinem 100. Geburtstag (Januar 2025) und nach seinem Tod (August 2025) ist Gomringer weithin als ein «Jahrhundertautor» und als «Klassiker der Moderne» gewürdigt worden.1 Er selbst hat sich freilich nie als Grossschriftsteller oder literarischer Fraktiuonsführer geriert, er begnügte sich mit unaufwendiger, dabei präziser Wortarbeit, sah sich gleichermassen als Sprachingenieur und als Textbastler. Entsprechend bescheiden nimmt sich sein dichterisches Credo aus (Expo 1964): «dass wir lernen, auf worte zu achten, worte zu sehen, worte zu hören, dass wir freude haben an worten, dass wir heiter werden mit worten, dies ist des dichters anteil an den tätigkeiten der menschen.»
Worte (genauer: Wörter) zu sehen und zu hören, statt sie bloss ihrer Aussage nach zu «verstehen» – das war Gomringers permanente Aufforderung an seine Leserschaft, und dementsprechend hat er denn auch besonders auf die typographische Ausarbeitung und die visuelle beziehungsweise akustische Qualität seiner Texte geachtet; einige davon sind als Textbilder zu Ikonen «konkreter» Sprachkunst geworden.
Das Konzept des Gedichts als «Gebrauchsgegenstand» hat Gomringer als vielseitig engagierter Werbetexter nachhaltig durchgesetzt und hochgehalten. Werbetext und Gedicht sind bei ihm formal kaum zu unterscheiden, in beiden Fällen wird der Wortbestand in variable «Konstellationen» umgesetzt, wobei in der Werbung naturgemäss der Appellcharakter überwiegt, im Gedicht hingegen die subjektive Anschauung «konzentrierter ästhetischer information» (Gomringer 1966). Durchwegs jedoch kommt es dem Autor (der sich hier als ein konservativer Avantgardist erweist) auf die Pflege und Bewahrung des Sprachgebrauchs, des Sprachgefühls, des Sprachvertrauens an. Nicht primär als Bedeutungsträger, vielmehr als Gegenstand sinnlicher Erfahrung und Erkenntnis nimmt Gomringer die Sprache wahr: «denn worte», so erklärt er in einem seiner poetologischen Traktate (Expo 1964), «sind gegenstände, worte sind druckerschwärze, worte sind wellen, worte sind projektionen, worte sind taten, worte sind gestalten, worte haben formen.»
Dies bewusst zu machen, es eigens hervorzuheben, ist bei aller Schlichtheit der Aussage nach wie vor opportun, heute – angesichts der zunehmenden Verflachung und Vernutzung der Gebrauchs- wie der Literatursprache – wohl noch mehr als damals.
… Fortsetzung am 13.12.2025 …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik










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