Albert Vigoleis Thelens Gedicht „Nacht“

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ALBERT VIGOLEIS THELEN

Nacht

Ich atme den schweren Atem der Nacht
und sauge das Nachtblut ein,
und kühle die Stirn, die im Hader wacht,
am kalten Sternenschein.

Ich höre Rufe, die niemand ruft,
und Schritte, die niemand schlürft
und sehe im Düster dunkel gestuft
die Schatten, die niemand wirft.

Ich horche den Herzschlag der Stunden ab
und tappe mich blind durch die Zeit.
Groß gähnt die Nacht wie ein Massengrab
am Rande der Ewigkeit.

nach 1940

Privatdruck

 

Konnotation

Als „vielseitig verkrachte Existenz“ hat sich der Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen (1903–1989) im Prolog seines allseits bewunderten Monumentalromans Die Insel des zweiten Gesichts (1953) vorgestellt. Den größten Teil seines Lebens hat dieser Autor im Exil verbracht: Nach 1936 musste er aus seiner Wahlheimat Mallorca fliehen und gelangte über Umwege nach Portugal, wo ihm der von ihm übersetzte Dichter und Mystiker Teixera de Pascoaes Obdach bot. In Deutschland dauerte es bis in die 1980er Jahre hinein, bis der literarische Nomade Thelen als Autor von hohem Rang erkannt wurde.
Die meisten seiner Gedichtbände konnte Thelen nur als Privatdrucke veröffentlichen. Als er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten von deutschen Diplomaten auf Mallorca bespitzelt wurde, reagierte Thelen panisch und mit Verfolgungswahn. Dieses Gefühl der Bedrohung hat sich auch in der „Nacht“ niedergeschlagen, in der das lyrische Ich von unheimlichen Schatten und Schritten heimgesucht wird. Die Vorstellung des „Massengrabs“, in dem das Ich versinken könnte, ist in der unentrinnbaren „Nacht“ schon präsent.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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