Gerald Zschorsch’ Gedicht „Slawa“

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GERALD ZSCHORSCH

Slawa

Ich hatte zwei Brüder:
Abel und Kain.
Einer ist tot;
der andere allein.

Mit dem Mal auf der Stirn
und dem Wort im Ohr.
Mit dem Blitz im Gehirn
und dem Engelchor.

Ich hatte zwei Brüder:
meiner und mich.
Jetzt habe ich keine mehr;
zwiefach dich.

nach 2000

aus: Gerald Zschorsch: Torhäuser des Glücks. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2004

 

Konnotation

Nach einem Diktum des Rechtsphilosophen Carl Schmitt (1888–1985) begann die Weltgeschichte erst mit der Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain. Die biblische Legende hat der gegen alle herkömmlichen Denktraditionen anschreibende Dichter Gerald Zschorsch (geb. 1951) sehr eigenwillig umgedeutet. In seinem nach 2000 entstandenen Rollengedicht spricht zunächst ein Bruder oder eine Schwester des tragischen Bruderpaars.
Eine Figur slawischer Herkunft (darauf deutet der Name „Slawa“) spricht mitten hinein in das biblische Unheilsgeschehen. Damit wäre schon genug Irritation erzeugt. Aber Zschorsch, der es liebt, seinen Versen die denkbar härteste Fügung zu geben, potenziert noch den Rätselcharakter der von ihm neu erzählten biblischen Legende. Die dritte Strophe ist als Vexierspiel angelegt: Das Ich entfaltet eine Art schizophrene Selbstspiegelung.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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