– Zu Jan Wagners Gedicht „1 (shepherd’s pie)“ aus Jan Wagner: Achtzehn Pasteten. –
JAN WAGNER
1 (shepherd’s pie)
schafe sind wolken, die den boden lieben.
der schäfer liebt marie, streut nüsse auf
den hang, souffliert die drei berühmten worte.
die herde blökt, frißt sie als weiße schritt
aufs tafelgrün. dahinter springt der punkt,
der hirtenhund. am grund des tales zieht
man abendschatten vor die fenster. Sieht
den hang nicht und die hügel, nicht die wolken.
wolken, die schafe sind, vom wind getrieben.
„Dahinter springt der Punkt“
Im Zyklus „achtzehn pasteten“ im Allgemeinen und im Gedicht „shepherd’s pie“ im Besonderen widmet sich Jan Wagner den Themen Essen, Liebe und Dichtung oder, abstrakter formuliert, Kultur, Anthropologie und Ästhetik. Sowohl Zyklus als auch Gedicht werden schon in der Buchgestaltung jeweils doppelt hervorgehoben: Achtzehn Pasteten ist auch der Titel des 2007 erschienenen Gedichtbandes von Jan Wagner. Und der 18 Gedichte umfassende Zyklus ist zudem der einzige der insgesamt vier Abschnitte dieses Bandes, der einen eigenen Titel trägt, womit die Eigenständigkeit gegenüber den restlichen Kapiteln und Gedichten ebenso betont wird, wie die innere Geschlossenheit des Zyklus. Ebenfalls doppelt hervorgehoben ist das Gedicht „shepherd’s pie“. Zum einen wird sein programmatischer Charakter als signature poem schon dadurch deutlich, dass es als erstes Gedicht den Zyklus „achtzehn pasteten“ eröffnet, zum anderen ist es zudem auf der Rückseite des Schutzumschlages abgedruckt: Das erste, was man als Rezipient somit von diesem Band sieht, ist der Titel Achtzehn Pasteten auf der Vorderseite und das Gedicht „shepherd’s pie“ auf der Rückseite des Buches. Und die Umschlaggestaltung unterstreicht die Bedeutung der zentralen Themen von Zyklus und Gedicht noch zusätzlich durch Abbildungen aus alten Kochbüchern und – Metadiskurs und Ästhetik einer dichterischen wie kulinarischen Präsentation der ,Speisen‘ symbolisierend – von Pastetenornamentik.
Die genannten zentralen Themen werden also einerseits bereits durch den Titel – Pasteten als Synekdoche der Kulinarik – und andererseits die programmatische Platzierung und Inszenierung von „shepherd’s pie“ etabliert, wodurch die Kulinarik zudem an die Bukolik und damit immerhin an eine der ,ältesten‘1 sowie selbstreferentiellsten Dichtungsgattungen angebunden wird. Dem Zyklus sind zwei Motti vorangestellt, die die Verbindung von Essen und Dichtung zum dritten Element der Thementrias, Liebe, herstellen. Im Folgenden soll anhand dieses Themendreieckes sowie der jeweils spezifisch thematischen Querverbindungen ein Schlüssel zum Verständnis des Gedichtes „shepherd’s pie“ wie des Zyklus „achtzehn pasteten“ entwickelt werden. Zunächst wird eine nähere Betrachtung der Motti die Verbindung von Essen und Dichtung beleuchten, bevor die Untersuchung des Zyklus’ „achtzehn pasteten“ das Verhältnis von Essen und Liebe und abschließend die Analyse des Gedichtes „shepherd’s pie“ die Relation Liebe – Dichtung in den Blick nimmt.
I. „Einbildungskraft und Urteil“ – die Motti
Mit dem ersten Motto, einem Zitat aus Samuel Pepys Tagebüchern,2 legt Wagner die Motivation und den Auslöser für seine Arbeit am Zyklus „achtzehn pasteten“ offen, wie er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk erläutert:
Der Auslöser zu diesem Zyklus war ein Zitat von Samuel Pepys, dessen Tagebücher ich vor einigen Jahren las, er berichtet von einem Abendessen bei einem Freund. Dieser Freund hatte den 18. Hochzeitstag, deswegen auch die Feier. Auf dem Büffet, schreibt Pepys in seinem Tagebuch, hätten nicht nur Köstlichkeiten wie eine Rinderlende gestanden, sondern auch 18 Pasteten, und zwar für jedes Jahr der Ehe eine Pastete. Als ich das las, gefiel mir das sehr gut, weil ich dachte, das wäre eine schöne neuartige Zusammenführung der alten Themen Essen und Liebe – und hab mir das rausgeschrieben ohne zu wissen, was ich damit anfangen sollte irgendwann. Dann war eben die Idee, diese Themen Essen und Liebe anhand von 18 Pasteten zusammenzuführen – beziehungsweise 18 Pasteten zu „schreiben“, die sich an jeweils einem Gericht orientieren, aber das mit dem Thema Liebe vermischen, und dann von salzigen Pasteten bis hin zur Süßspeise das durchexerzieren.3
Generell ist es ein wichtiges Merkmal von Jan Wagners Dichtkunst, dass ein Thema nie erwartbar behandelt wird, ja dass es ihm gerade bei konventionellen Motivbereichen stets um die Brechung sprachlicher wie thematischer Stereotype zu tun ist. Darüber hinaus zeichnen sich seine Gedichte oftmals durch eine thematische Verbindung des Naheliegenden mit dem Abweichenden, des Alltäglichen mit dem Sublimen oder des oftmals Gehörten mit dem Unerhörten aus. Wagner hat selbst die entsprechende poetologische Maxime formuliert, dass „[d]as Gedicht […] an der Schnittstelle zwischen dem sogenannten Banalen und dem sogenannten Erhabenen“ entstehe.4 In Wagners Interview fallen zwei Formulierungen besonders ins Auge: So spricht er an keiner Stelle davon, dass Pepys Tagebucheintrag ihn dazu inspiriert habe, zu dichten bzw. Gedichte zu schreiben, stattdessen möchte er die beiden Themen anhand von „Pasteten zusammenführen“ bzw. sogar „Pasteten […] ,schreiben‘“. Mit dieser Formulierung wird in der Thementrias Liebe – Essen – Dichtung die Verbindung der beiden Aspekte Literatur und Kochkunst bzw. Kulinarik zu einem poetischen Prinzip erhoben. Anders formuliert: Für Wagner steckt im Vergleich zwischen Dichten und Kochen/Essen die Möglichkeit eines poetologischen Metadiskurses. Und direkt mit dem zweiten Motto-Zitat aus Carl Friedrich von Rumohrs Geist der Kochkunst macht Wagner deutlich, welche Gemeinsamkeit für ihn zwischen diesen beiden Bereichen besteht: „Es läßt sich alles Ersinnliche zu Pasteten verwenden, und in der Zusammensetzung derselben kann ein braver Koch recht deutlich zeigen, daß er Einbildungskraft und Urteil besitzt.5
Durch die Betonung des Handwerklichen wird dieses Zitat zusätzlich zur Beschreibung der Fertigkeiten eines Pastetenbäckers zu einer poetologischen Forderung auch des Dichtens – bzw. hier des ,Pastetenschreibens‘. In der spezifischen Zusammensetzung muss ein Koch/Dichter Einbildungskraft und Urteil beweisen. Erneut eine Thementrias also: Handwerkliche Brillanz zeigt sich im Zusammenspiel von Originalität und Geschmack (bzw. Formbewusstsein), d.h. ein außergewöhnlicher und wohl gewählter Inhalt bedarf auch einer ansprechenden formalen Gestaltung, wie umgekehrt ein origineller Inhalt ohne handwerkliches Können nicht zum kulinarisch-literarischen Genuss führt. Oder, literaturwissenschaftlich formuliert: Dichtung ermisst sich am Zusammenspiel von Form (bzw. Arrangement), Inhalt (bzw. Selektion) und Perspektivierung, was an sich natürlich eine Binsenweisheit wäre, wenn sich in der Betonung vor allem des Handwerklichen, das bei aller Meisterschaft dennoch eines Mindestmaßes an Originalität bedarf, nicht Wagners auktoriale Autorschaftsinszenierung einer spezifischen Synthese der poeta vates– und poeta doctus-Dichtungskonzepte verbergen würde. Dass hierbei ersteres die Hauptrolle spielt, zeigt schon die Demutsgeste vom „braven“ Handwerker. Diese Selbstinszenierung wird auf Seite 2 des Schutzumschlages von Achtzehn Pasteten sogar noch einmal explizit aufgegriffen, wo es heißt:
Nirgends offenbart sich ein Nichtgelingen gnadenloser als im Gedicht. Andererseits ist es auch keiner anderen literarischen Gattung gegeben, so unmittelbares Glück zu erzeugen. Mit Achtzehn Pasteten legt Jan Wagner seinen dritten Lyrikband vor und beschert dem Leser damit höchsten Genuss. Unüberbietbar lässig bedient sich der poeta doctus unter den Dichtern seiner Generation einer kunstvollen Formensprache und erschafft dabei seinen ganz eigenen, unverwechselbaren Ton.
Der Vergleich von Literatur und Essen mit den Wortfeldern des Genießens, Verschlingens und Konsumierens ist topisch und stereotyp. Einerseits wird hier allerdings der Vergleich auf die instantane Genusserzeugung gelegt, durch die sich Lyrik von anderen literarischen Gattungen unterscheide – was der Erfahrung der Rezeption ja durchaus nicht entspricht, da Lyrik wie keine andere Form des langsamen und wiederholten Lesens bedarf. Und andererseits wird bei aller Selbstinszenierung als Handwerks-analog arbeitender poeta doctus dieses Konzept sogleich relativiert, denn nur durch die lediglich „lässige“ Anwendung der handwerklichen Regeln entstehe ein „unverwechselbare[r] Ton“, also seine (genieartige) Originalität und Individualität.
Der Dichter-Handwerker Jan Wagner beleiht für seinen Zyklus von Liebes-Gedichten also das Beschreibungsvokabular des Kochhandwerks, insbesondere aus dem Bereich der Pastetenbäckerei. Die äußerlich ästhetische Präsentation ist bei einer Pastete auch aus dem Grund vorgeblich wichtiger als ihr Inhalt, weil es bei der Pastetenbäckerei wesentlich um den Prozess der Verarbeitung und Veränderung und damit um ein schön anzusehendes ,Verstecken‘ des Inhaltes geht. Ein Prozess, der historisch betrachtet vorwiegend dem Vorzeigen der Kunstfertigkeit diente, denn die Pastete entwickelte sich vor allem deshalb zu einem festen Bestandteil eines aristokratischen Festessens, da sie sich im Vergleich zu anderen Speisen durch ihre ausgeprägte Ornamentik auszeichnete und somit innerhalb der Kulinarik von hoher Dignität war, die Kunstfertigkeit der Küche ermessen ließ und sich besonders für absolutistische, später dann bürgerliche Repräsentation – dem ein Festessen ja per se dient – eignete. Die weitere historische Entwicklung der Pastete und ihrer Spielarten der Terrinen, Galatinen und Dariolen ist freilich eine der abnehmenden Dignität. So haftete der Pastete schon bald der Ruf an, dass sie sich vor allem vorzüglich dafür eigne, den Inhalt einer Speise kaschieren und unter einem schlichten Teigmantel verstecken zu können (was sie etwa auch für die Resteverwertung beliebt machte). Ein historischer Abriss der dichterischen Verarbeitung der klassischen Themen Essen und Liebe müsste vermutlich als ganz ähnliche Verlustgeschichte geschrieben werden. Wenn Jan Wagner dieser Gemengelage einen ganzen Liebesgedicht-Zyklus widmet, so darf die Erwartung daran durchaus sein, dass er dieser Gattung verloren gegangene Dignität wieder zurückzugewinnen versuchen wird: Einerseits inhaltlich, indem er diese klassischen Themen jenseits ihrer verbreiteten Stereotypik behandeln, andererseits formal, indem er die Kunstfertigkeit seiner Dichterküche nicht ostentativ ausstellen, sondern hinter einer (auf den ersten Blick) schlichten Oberfläche ,verstecken‘ wird.
II. „achtzehn pasteten“ – Der Zyklus
Es muss hier noch der zweiten Formulierung, die aus zitiertem Interview Wagners mit dem Deutschlandfunk von Bedeutung ist, nachgegangen werden. Gemeint ist der Hinweis darauf, dass Wagner das Thema Liebe „von salzigen Pasteten bis hin zur Süßspeise […] durchexerzieren“ wolle. So groß die Spannbreite der Pastete von salzig bis süß, warm oder kalt, als Teil der Vorspeise, der Haupt- oder Zwischengänge oder des Desserts sein kann, sowie von hoher Dignität und absolutistischer Repräsentanz (z.B. „terrine de poulet au foie de volaille“) bis zum Massengericht der Arbeiterklasse („eel pie“) reicht, so variantenreich wird in den 18 Gedichten auch die Liebe mit all ihren möglichen Semantiken, Konzepten und Kontexten durchdekliniert. Der Zusammenhang zwischen Pastetengericht (bzw. Gedichttitel) und dargelegter Liebesvariante (bzw. Gedichttext) bleibt dabei mitunter sehr abstrakt, wie etwa bei „apple pie“, meist jedoch entwickelt sich die Assoziation deutlich erkennbar über das im Gedichttitel aufgeführte Sprachbild. In zwei Gedichten beispielsweise entsteht die Verbindung über ein geografisches Adjektiv des Gedicht-Gericht-Titels: In „bouchées à l’americaine“ entwickelt sich daraus die Motel-Szenerie eines typischen Road-Movies als der vielleicht amerikanischsten aller Erzählgattungen. Und in „pâté chaud à la russe“ wird komplementär zur Weite des Landes die Impression maximaler räumlicher und zeitlicher Ausdehnung zum emotionalen Analogon einer ,großen Liebe‘:
am anfang und ende der welt.6
Die größte Gemeinsamkeit der 18 Pastetengedichte ist in ihrer ausgeprägten Intertextualität zu erkennen. Wenn aus Assoziationen, Allusionen und Zitaten aus anderen literarischen oder künstlerischen Kontexten durch Hinzugabe von „Einbildungskraft und Urteil“ eine neue Zusammensetzung entsteht, die originell und kunstvoll ist, wenn dabei durch die Verarbeitung von Naturprodukten ein neuer kultureller Kontext (bzw. eine neue Konsistenz) entsteht, bei dem die Zutaten dennoch aber noch subtil durchscheinen, so zeigt sich in diesem Verfahren erneut die Analogie aus Pastetenbäckerei und Dichtung. Wie unterschiedlich diese Pastetenbäckerei ausfallen kann, mögen die beiden Beispiele „vol-au-vent“ und „le poirat berrichon“ in aller gebotenen Kürze exemplarisch zeigen. Bei „vol-au-vent“ interessiert kaum die damit bezeichnete klassische, zumeist mit Ragout gefüllte Blätterteighülle, sondern die wörtliche Bedeutung des ,in den Wind Fliegens‘. Aus dieser Bezeichnung werden nun Situationen großer Emotionalität einer Liebesbeziehung assoziiert, also etwa Streit („wenn uns die winde umeinander wehen“) mit anschließendem Versöhnungssex („manchmal hellt es sich im finstern / kurz auf. dann trifft ein leib auf einen leib“).7 Und wie man im Streit mitunter die Kontrolle über sein subjektives ,in die Luft Gehen‘ verliert (sich „weiterwirbeln [lässt] nach belieben“), erreicht man auch den Moment höchster Leidenschaft nur, wenn man sich ,gehen lassen‘ und ,sich vergessen‘ kann:
man muß sich gehenlassen, sagt das flüstern
in meinem kopf. also vergesse ich mich und ihn.8
Eine ungewöhnliche Verwendung der Personalpronomina an dieser Textstelle zudem, handelt es sich doch um den einzigen Moment im gesamten Zyklus, der entweder – ja nachdem, wie man das „mich und ihn“ interpretieren mag – aus einer weiblichen oder einer homosexuellen Perspektive geschildert wird. Für eine weibliche Perspektive spricht dabei das dem Gedicht vorangestellte Motto, in dem das ,in die Luft gehen‘ und ,sich vergessen‘ ein weiteres Mal aufgegriffen und variiert wird. Das Zitat – „Wir lasen weiter nicht in jener Stunde“ – stammt aus dem fünften Gesang des „Infernos“ von Dantes Göttlicher Komödie und markiert dort die Stelle, an der, wie die von der auktorialen Instanz angefügten Anmerkungen in Achtzehn Pasten erläutern, „Francesca da Rimini […] von ihrer Liebe zu Paolo Malatesta“ erzählt.9 Von sowohl intertextueller wie auch intermedialer Beziehung ist die Assoziation, die der Pastetentitel „le poirat berrichon“, erneut über ein geografisches Adjektiv, auslöst. Denn den Namen der Provinz Berry, der dieses Birnendessert entstammt, trug als Herzog auch ein gewisser Jean de Valois, der durch das für ihn angefertigte und besonders reich illuminierte Stundenbuch Les Très Riches Heures des Duc de Berry zu den Größen der Kunstgeschichte zu zählen ist. Das Gedicht „le poirat berrichon“ liest sich als eine detaillierte Ekphrasis des Gemäldes, das in dem Stundenbuch des Herzogs den Juni darstellt und eine Ernteszene vor dem Pariser Königspalast zeigt, was freilich nur durch die paratextuelle Information am Ende des Gedichtes „nach den Très Riches Heures des Duc de Berry“10 für den Leser überhaupt erkennbar wird.
Mit all dem ist bereits deutlich geworden, dass in den 18 Gedichten des Zyklus sehr unterschiedliche Liebessemantiken, -konzepte und -kontexte „durchexerziert“ werden; und dies in sehr unterschiedlicher Deutlichkeit und Abstraktheit. Im eben geschilderten „le poirat berrichon“ mit seiner jahreszeitlichen Ernteszenerie ist die Verbindung zur zentralen Thematik beispielsweise sehr subtil: Es wird hier keine Liebesemantik einer interpersonalen Beziehung thematisiert, sondern die Intensität von Kunstproduktion („alles strebt zu dem detail“) und -rezeption („wie gern wärst du im winzigen gedränge / im erker“) oder, auf einer abstrakten Ebene, die Sehnsucht nach Harmonie eines allein auf ein lyrisches Du konzentrierten Weltgeistes.11 Im zweiten Gedicht des Zyklus hingegen, „pâté chaud de harengs aux pommes de terre“, wird in dezenten Andeutungen die unglückliche Liebesgeschichte des Protagonisten „joost, der fischer“12 erzählt, dessen Herzinfarkt als Erkrankung seines Herzen mit der Sehnsucht nach seiner Jugendliebe, die er als junger Matrose irgendwo in der Welt einmal kennen gelernt hatte, und von der er als typischer Seemann Zeit seines Lebens nie erzählt habe, erklärt wird.
Mehrfach werden in „achtzehn pasteten“ – bei einem Zyklus über das Thema Liebe ist das nicht anders zu erwarten – Situationen einer Paarbeziehung thematisiert. Besonders eindrücklich geschieht dies in „cheese and onion pastries“ und „genueser gemüsepastetchen“, die als 4. und 5. Gedicht des Zyklus zudem auf einer Doppelseite nebeneinander stehen. Während im auf der linken Buchseite gedruckten „cheese and onions pastries“ die Eindrücke einer Paarbeziehung aus der Ich-Perspektive geschildert werden, tritt im auf der rechten Buchseite gedruckten „genueser gemüsepastetchen“ ein explizites „du“ mit hinzu.13 In „cheese and oinion pastries“ wir durch die Gegenüberstellung der Personalpronomina „ich“ – „ihr“ und dem damit zusammenhängenden Erkenntnisfokus („was ich weiß“ – „aber was weiß ich“) eine chiastische Gegenüberstellung von männlicher und weiblicher Perspektive vorgenommen, wodurch insbesondere das in Paarbeziehungen typische Wechselverhältnis aus gefühlter Ferne auch in der Nähe thematisiert wird. Eine Thematik, die mit der Metapher der Zwiebel versinnbildlicht wird:
wie zwiebeln. aber was weiß ich von zwiebeln,
bis auf ihr kleid aus schalen und das brennen
ihr herz, das sich zurückzieht, schicht um schicht.14
Und zugleich ist dies ein Beispiel für die Vieldeutigkeit der Lyrik Wagners, denn mit dieser Gegenüberstellung von „ich“ und „du“ muss nicht nur das Liebeskonzept einer Paarbeziehung gemeint sein. Es mag beides auch für das „heikle Ich“15 stehen, das Wagners Lyrik durchzieht, ein „ich“, das „wirklich sichtbar erst mit dem verschwinden“ wird, wie es im „selbstporträt mit bienenschwarm“ heißt.16 Und für das sowohl aus der Selbstreflexions- wie aus der Rezeptionsperspektive gilt, dass es sich wie beim ,Häuten der Zwiebel‘ mit jeder freigelegten Schicht mehr verbirgt als zeigt.
Abschließend – und damit zyklusstrukturell eigens betont – wird in „quittenpastete“ die Liebe eines Kindes zur eigenen Familie, zu den Eltern und die Erinnerung an die eigene Kindheit in das Zentrum gestellt: „vier große / hände, zwei kleine“, die zusammen Quitten ernten und Gelee kochen und damit die (im Imperfekt beschriebene) Familienliebe für dunkle Tage (und bis in das Präsens hinein) konservieren:
ihr gelee, in bauchigen gläsern für die
dunklen tage in den regalen aufge-
reiht, in einem keller von tagen, wo sie
leuchteten, leuchten.17
Die Bedeutung dieses Gedichtes und der damit verbundenen Liebessemantik wird nicht nur dadurch deutlich, dass damit der Zyklus in der Buchpublikation von 2007 beschlossen wird, sondern auch, weil in der Erstveröffentlichung in der Zeitschrift Akzente im Jahr 2006 die dort präsentierte Auswahl von zehn der 18 Pasteten-Gedichte als „Quittenpastete. Gedichte“ betitelt wurde.18
III. „shepherd’s pie“
Viele der in den „achtzehn pasteten“ aus buchstabierten und „durchexerzierten“ Aspekte werden in nuce bereits in „shepherd’s pie“, das den Zyklus eröffnet, etabliert. Das Gedicht handelt von einem Schäfer, der in das Dorfmädchen Marie verliebt ist. Der Schäfer lässt seine Herde etwas außerhalb dieses Dorfes an einem Hang weiden und, vielleicht weil er zu schüchtern ist, um selbst mit Marie zu sprechen, vielleicht schlicht um sich für seine Botschaft seiner Profession zu bedienen, streut er seinen Schafen Nüsse auf die Weide, so dass diese „die drei berühmten worte“ – also ,Ich liebe dich‘ – als Schrift in das Gras fressen.19 Tragischer Weise hat man im Dorf zur einbrechenden Nacht allerdings schon die Vorhänge vor die Fenster gezogen, so dass niemand, auch Marie nicht, den Hang mit dem Schäfer, den Schafen und den Schriftzeichen und noch nicht einmal den Himmel mit den Wolken sehen kann.
Das Gedicht besteht aus neun Versen, dominanter Versfuß ist ein fünfhebiger Jambus. Der erste und letzte Vers erzeugen durch eine doppelte, eine metrische und eine semantisch-syntaktische, Hervorhebung eine Rahmung: Es sind dies die einzigen Verse, deren erster Versfuß vom Jambus-Schema abweicht und die jeweils mit einer Hebung ansetzen. Und beide korrespondieren darüber hinaus miteinander, indem sie das zentrale Motiv des Gedichtes, die Analogie von Schafen und Wolken, aufrufen, wobei dies semantisch identisch, syntaktisch aber als chiastische Inversion geschieht: Aus dem „schafe sind wolken“ des ersten Verses wird so das „Wolken, die schafe sind“ des letzten Verses. Durch die semantisch-metrische Parallelführung wird darüber hinaus die inhaltliche Varianz in der jeweils zweiten Vershälfte der Rahmenverse besonders hervorgehoben, so dass diese beiden Satzteile über die in diesem Gedicht erzählte individuelle Liebesgeschichte hinaus den Status einer allgemeingültigen Sentenz erhalten. Zu Beginn werden dabei Wolken mit Schafen überblendet, wodurch die Wolken gerade nicht Erdenthobenheit, Weltfremde oder eine Sehnsucht nach der Ferne versinnbildlichen, sondern die Bodenständigkeit ,ihrer‘ Liebe.20 In Friedrich Hölderlins „Die Liebe“ wird ganz ähnlich der „eherne, / Wilde[] Boden“ zu dem Ausgangspunkt, aus dem die „[e]inzig edel und fromm[e] Liebe“ erwächst,21 also ganz so, wie in „shepherd’s pie“ die niederzuschreibende Liebesbotschaft. In Ergänzung hierzu stehen Schafe für gewöhnlich symbolisch für Unschuld und moralische Reinheit.22 Die einzige namentlich genannte Figur des Gedichtes, Marie, kann einerseits in ihrem Bezug zur Mutter von Jesu für ein reines, apersonales und asexuelles Liebeskonzept stehen, andererseits im Kontext der Liebesdichtung aber auch an Ronsards „Amour pour Marie“ und damit an die Idealisierung der Liebe, verstanden als Paarbeziehung, erinnern.
Am Ende dann dreht sich die Überblendung von Wolken und Schafen in ihr Gegenteil, wodurch vor allem ein weiterer Symbolbereich von Wolken, die Wandelbarkeit ihrer Formen, ihre Augenblicksgebundenheit und ihre Flüchtigkeit betont wird.23 Ganz ähnlich stehen Wolken in den frühen Gedichten Bertolt Brechts, etwa in „Erinnerung an die Marie A.“, für die Vergänglichkeit der Liebe. In den beiden Rahmenversen werden somit die Aspekte Notwendigkeit und Kontingenz einander gegenüber gestellt. Während das Gedicht mit einer hoffnungsvollen, bodenständigen, kreativen und aktiv vorgetragenen Liebesbotschaft beginnt, endet es in windiger Vergänglichkeit und Einsamkeit, der man passiv ausgeliefert ist („getrieben“).
Im Folgenden werden aus der Spannung zwischen Form und Metrum des Gedichtes verschiedene Interpretationsangebote entwickelt. Jan Wagner ist generell bekannt dafür, dass er sehr originell mit klassischen Lyrikformen spielt, d.h. dass diese oft subtil evoziert und dabei zugleich stets neu variiert werden. Wagner hat diesen poetologischen Anspruch selbst wie folgt formuliert:
Jedes Gedicht weiß um die Geschichte des Dichtens. Es ist mit der Tradition vertraut, kennt alte wie neue Techniken des Dichtens und beherrscht sie – allerdings verbirgt es Kenntnis und Technik so gut wie möglich.24
Für Heinrich Detering ist Wagner entsprechend „der einzige Dichter“, dem es durch den Einbau „kaum hörbare[r] Halbreime [] und komplexe[r] Kompositionen“ gelänge, „eine Sestine so [zu] dichten […], dass man nicht hörte, dass es sich um eine Sestine handele.“25 Die Sestine steht auch Modell für „shepherd’s pie“, ist aber bei Weitem nicht das einzige und zudem auch nicht das offensichtlichste metrische Bezugssystem des Gedichtes, das vielmehr deutliche Anzeichen einer Spenser-Stanze trägt, wobei diese spezifische Stanzenstatik sodann in Spannung zu seinen familienähnlichen Formen der Sestine sowie zum englischen Sonett tritt. Zu dieser metrischen Unbestimmtheit gesellt sich im Gedicht eine inhaltliche: Ob die Liebesbotschaft nicht nur eine selbstbezügliche oder idealisierte Nachricht des Schäfers ist, die von Marie gar nicht gesehen werden kann, oder die Adressatin hingegen die Nachricht bewusst ignoriert, ihr die Rezeption von der Dorfgemeinschaft verweigert wird, oder sie die Frage zwar sieht, aber verneint, all dies bleibt im Gedicht ungeklärt. Im Zusammenspiel von formaler Spannung zwischen Stanze, Sestine und Sonett und inhaltlicher Unbestimmtheit werden im Folgenden unterschiedliche Akzentuierungen und Interpretationsvarianten entwickelt.
III.1 Spenser-Stanze: „der schäfer liebt“
Der Titel „shepherd’s pie“ bezeichnet eines der berühmtesten und für gewöhnlich mit Landleben, Geborgenheit und häuslicher Harmonie in Verbindung gebrachten englischen Pastetengerichte,26 insbesondere steckt im Verweis auf die Schäferwelt aber der Bezug auf eine Gattung, die wie keine andere für die Verbindung von Dichtung und Liebe steht. Dass Wagner die Historizität von Bukolik bzw. Idylle explizit aufgreift und sodann aktualisierend kommentiert, lässt sich sowohl anhand formaler wie systematischer Allusionen zeigen.
Entsprechend handelt es sich bei der Spenser-Stanze um eine bewusst gewählte Gedichtform, gilt Edmund Spenser doch als einer der wichtigsten Vertreter der europäischen Renaissance-Bukolik. Bei der sog. Spenser-Stanze handelt es sich um Spensers Weiterentwicklung und Verlängerung der eigentlich achtversigen italienischen Stanze zu einem neunversigen Gedicht, der Nonarime somit nicht unähnlich, wobei der neunte Vers anders als die vorangehenden acht fünfhebigen Jamben eine neunhebige Schlusszeile mit Mittelzäsur ist. Zwar bringt Spenser diese Stanzenvariante erst in seinem Hauptwerk The Faerie Queen (1590) zu Meisterschaft, deren vorstechendes Merkmal, die Chronik, stilbildend unter anderem für die englischen Romantiker wurde und die auch in „shepherd’s pie“ eine Rolle spielt, etwa in der Verbindung von Tag und Nacht mit Land und Dorf sowie mit männlich konnotiertem Begehren des Schäfers und weiblicher Distanz Maries. Doch die Entwicklung der Spenser-Stanze beginnt bereits in seinem Frühwerk, The Shepheardes Calender (1579), einer Schäferdichtung, die Spenser wiederum nach dem Vorbild von Vergils Eclogae, also der für die Bukolik stilbildenden antiken Dichtung, gestaltet hat. Spenser folgt in diesem Kalender der fiktiven Schäferfigur Colin Clout durch die 12 Monate des Jahres, wobei er ihn vor allem als idealisierte Mischung aus Liebhaber und Dichter – auch dies ein wiederkehrendes Strukturelement in Idylle und Bukolik – skizziert. Und in Spensers Kalender ist es ebenfalls das erste Gedicht des Zyklus, in dem sich eine ganz ähnliche Thematik wie in „shepherd’s pie“ entfaltet, wird darin doch Clouts unglückliche Liebe zu Rosalind, „a country lass“, geschildert.27
In systematischer Hinsicht gehört zu den zentralen Merkmalen der Idylle und der Bukolik, dass der Zusammenhang von ländlichem Leben mit Einfachheit, Überschaubarkeit und Friedlichkeit bzw. Harmonie als „Korrektiv zur Wirklichkeit“ gestaltet ist und die Gattung somit eine kompensatorische Intentionalität erhält.28 Die Abgrenzung zwischen Idylle als weiterem Gattungs- (bzw. später bei Schiller dann Empfindungsbegriff) vom engeren Begriff der Bukolik bzw. der Hirten- oder Schäferdichtung ist nicht immer trennscharf zu ziehen.29 Zu den „traditionsbildenden Merkmale[n]“ gehört schon seit Theokrit und Virgil die Schilderung von „ideal empfundene[n] ländlich-natürliche[n], friedlich-harmonischen[n] Daseinsformen“, die typischer Weise am eng eingegrenzten Schauplatz eines locus amoenus spielen, wobei „Handlungsarmut und Dominanz des Räumlich-Zuständlichen“ zu einem bildhaft-statischen Charakter der Texte, sowie der Ausschluss von „tragische[n] Schicksale[n]“ zum „Hervorkehren glücklicher Zustände“ führt.30
Zum „ausgeprägte[n] Allegorismus“ der Gattung gehört, dass die zentrale Hirtenfigur als „Gestalt des Dichters“ figuriert.31 Diese Metadiskursivität der Gattung wurde bereits von Virgil etabliert, der den „Hirten mit dem Dichter“ identifizierte und so „die Hirtendichtung zur selbstreferentiellen Explikation von Dichtung“ machte.32 Der Schäfer verfügt in dieser Tradition über die Zeit, Einsamkeit und Muße, sich mit Gesang, Flötenspiel und anderen Kunstformen zu beschäftigen, und da er zudem der „unbearbeiteten Natur (als Ort der Musen)“ nahe ist, eignet er sich zum Urbild des Dichters und generell der „poetologischen Reflexion“,33 Ebenfalls bereits von Vergil wird der Schäfer zudem als Symbol des Liebenden skizziert, und in seinen Eclogae werden auch schon unterschiedliche Stadien der Liebe „von unerhörter Liebe […] über magische Liebesbeschwörung […] bis zur erfüllten Liebe […] und dem Liebeswahn sowie der Liebesklage“ durchdekliniert.34 Bukolische Texte bewegen sich somit seit den stilbildenden Ursprüngen in der Antike in einem „Mikrokosmos von literarischen Referenzen […], die alle aus der Spannung von fingierter Simplizität und lizenzierter Polysemantik ihre arguten Charakter gewinnen.“35 Hinter dem scheinbar einfachen, untragischen und ländlichharmonischen Vordergrund der idyllischen Schilderung werden, so das Gattungsideal, durch „Zitate und Anspielungen die ,hohen‘ Literaturgattungen präsent“ gehalten.36
Entsprechend konnte Friedrich Schiller in Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) die Idylle neben Satire und Elegie zu den drei sentimentalischen Dichtungsgattungen zählen. Schiller, der damit eine für die deutsche Literatur bedeutsame Weiterentwicklung der Gattung vornahm, betont dabei die „reflexive[ ] Überhöhung der Gegenwart“, der es um das explizite Ausstellen des „Widerspruch[ s] zwischen der Unendlichkeit des Ideals und den Grenzen der Wirklichkeit“ zu tun ist:37 Aus einer Gattung der Wirklichkeitskompensation wird in der Folge eine der (bürgerlichen) Emanzipation. Wobei auch das Emanzipationsideal oft genug Grenzen hatte, wie sich exemplarisch an Jean Pauls Beschreibung der Idylle als bürgerlichen „Vollglücks in der Beschränkung“ zeigt.38 Ab dem 19. Jahrhundert verliert die Idylle zunehmend an Bedeutung. Zwar gibt es noch vereinzelte Beispiele wie Eduard Mörikes „Idylle vom Bodensee“ (1846), in der das harmonisch-vormoderne idyllische Ideal zu Beginn evoziert wird, allerdings nur um im Verlauf der Erzählung desto deutlicher markiert ins Real-Moderne zu kippen. Für die realistischen Dichtungstendenzen der Moderne scheint die Idylle keine angemessene Form mehr bereit zu stellen.
Jan Wagner beweist somit literaturhistorisches Bewusstsein, wenn er einen Dichtungszyklus, die sich dem Thema Liebe widmet, mit derjenigen Gattung beginnen lässt, die diese beiden Bereiche schon immer paradigmatisch miteinander verband. Entsprechend affirmativ scheinen auf den ersten Blick in „shepherd’s pie“ die wesentlichen Merkmale der Bukolik bedient zu werden: Schon der am Hang liegende Schauplatz liefert einen lieblichen Überblick über ein in einem Tal liegenden Dorf, und in diesem locus amoenus wird die Liebe des Schäfers zu Marie in großer Handlungsarmut bei Betonung des Räumlich-Zuständlichen geschildert. All dies wird durch eine leitmotivische Wolkenmetapher begleitet, in der die auf die Bukolik verweisenden Schafe mit dem Bildbereich der Wolken als dem Symbol des Erdenthobenen, Weltfremden und nicht an einen Ort gebundenen vermischt werden. Der Schäfer, der seine Liebesbotschaft mithilfe der fressenden Schafe in die Wiese schreibt, wird zudem zum Repräsentanten des verschiedene Liebessemantiken durchexerzierenden Dichters. Oder in den Worten des Gedichtes: Der Dichter („schäfer“) schreibt in der Form der Bukolik („schafe“) über die Liebe. Mit den „drei berühmten worte[n]“, die „souffliert“ werden und die „als weiße schrift“ erscheinen, bevor das Geschriebene mit einem „punkt“ ein Ende findet, finden sich zahlreiche Selbstreflektionen auf den Schreibprozess und damit eine explizite Parallelisierung von Schäfer und Dichter. Die in einen grünen Grashügel geschriebenen weißen Schriftzeichen rufen in diesem Zusammenhang die Assoziation mit dem urzeitlichen Scharrbild Uffington White Horse in England hervor. Wichtiger aber: Der Schreibakt markiert in „shepherd’s pie“ den Übergang von der Innerlichkeit der Emotion in die Äußerlichkeit der Schrift, von Geist in Materie, von der Niederschrift der Botschaft in seine Rezeption, vom medium in die message, von der Naturverbundenheit des Schäfers in den Kulturbereich des Dorfes, und damit auch von der bukolischen Schäfer-Liebe als einem Ideal in eine individuelle Liebegeschichte eines Schäfers zu einer Marie. Das Gedicht erzeugt somit eine Spannung zwischen abstraktem Liebesideal und konkret-individueller love story.
Interessanterweise wird dieser Schreibprozess nun ausgerechnet mit Nüssen eingeleitet, die motivgeschichtlich für den Frühling, für Fruchtbarkeit und für Erotik stehen.39 Doch um allzu offensichtliche Erotik soll es hier nicht gehen, schließlich erscheint die „weiße“ Schrift auf „grünem“ Grund, wodurch die Farbe der Unschuld mit der Farbe, die im Christentum für Tugend steht, kombiniert wird. Immerhin scheint man sich bei einer derartig erschriebenen Liebesbotschaft Hoffnungen machen zu dürfen. Wenn in einer Schäferdichtung von Nüssen die Rede ist, besteht darüber hinaus Grund zur Annahme, dass damit Haselnüsse gemeint sind, einem weiteren Symbol bukolischer Dichtung im Allgemeinen sowie für ein, mit Bourdieu, ,häretisches‘ Dichtungskonzept im Besonderen: Bei Vergil nämlich liebt die Nymphe und Schäferin Phyllis den Haselstrauch, anstatt die die tradierte Dichtung symbolisierenden Myrte und Lorbeer.40 So markiert dieser systematische Rückgriff auf die Ur-Liebesgattung zusammen mit seiner Bildsprache, dass sich hier ein Dichter, der über das stereotype Thema ,Liebe‘ reflektieren möchte, selbstreflexiv und häretisch der ,ersten Gattung‘ der Dichtung, der Idylle bedient.
Durch den Rückgriff auf die Spenser-Stanze ergibt sich, dass komplementär zur Rahmung in diesem neunversigen Gedicht auch das Zentrum hervorgehoben wird. Besonders betont wird damit die Metapher vom -springenden Punkt‘, dem punctum saliens dieses Gedichtes. Ein Sprachbild, das auf Aristoteles’ Geschichte der Tierwelt zurückgeht, der im Weiß des Hühnereis das Herz des entstehenden Embryos als ,springenden Punkt‘ zu erkennen glaubte. Nach Schiller ist dieser Punkt angeblich „der Lebenspunkt, der Punkt, auf den alles ankommt“.41 In diesem Punkt glaubte man damit den entscheidenden Übergang von toter Materie ins Leben erkennen zu können. Bildsprachlich ist der ,springende Punkt‘ in „shepherd’s pie“ zunächst als Metapher für den Schäferhund motiviert, der den von den Schafen erzeugten Satz gleichsam als Interpunktion abschließt bzw. dessen konditionierende und disziplinierende Tätigkeit sicherstellt, dass die Niederschrift der „drei berühmten worte“ auf dem Gras – und damit in dem Gedicht – gelingt. Der ,springende Punkt‘ markiert somit den entscheidenden Übergang von der noch geheimen Liebe des Schäfers in die (erhoffte) Rezeption dieser Botschaft durch Marie, und eventuell in eine Beziehung mit ihr. In dieser Stoßrichtung könnte man vielleicht sogar so weit gehen, im Ursprung der Metapher des ,springenden Punktes‘ als dem Zeitpunkt der Befruchtung eines Hühnereis die zugegebenermaßen sehr subtile Anspielung auf den Sexualakt als denjenigen Zeitpunkt erkennen zu wollen, an dem die erhoffte Beziehung zwischen Schäfer und Marie, die bis zum Ende des Gedichtes allerdings noch nicht begonnen hat, letztlich gestiftet wurde.
III.2 Sestine: „der schäfer liebt marie“
Auch wenn das Gedicht mit seinen neun Versen auf den ersten Blick nicht der Struktur eines Sechszeilers folgt, hat „shepherd’s pie“ doch enge Anleihen an der von Wagner oft verwendeten Sestinenform. Bei der Sestine handelt es sich eigentlich um eine Liedform mit sechszeiligen Strophen mit Endecasillabo, bei der das letzte Reimwort der ersten Strophe zum „erste[n] Reimwort der zweiten Strophe“ wird, sich die anderen Reimwörter um jeweils eine Position verschieben und diese Verschiebung sich in allen nachfolgenden Strophen wiederholt. „Der Reiz der Sestine beruht“ entsprechend nicht auf dem Gleichklang des Reimes, sondern auf der „Wiederkehr derselben Vorstellungen“, wobei „[i]m Deutschen diese zur Monotonie neigende Form“ mithin durch „die Verwendung von Komposita“ aufgelockert wird.42 Diese Struktur der Wiederholung bei gleichzeitiger Auflockerung durch kleine Wortveränderungen findet sich in „shepherd’s pie“ besonders ausgeprägt in den beiden rahmenden Versen und den Schaf-Wolken-Variationen. Darüber hinaus scheint insbesondere Deterings Verdikt, dass Wagner die Sestinenform lediglich anhand „kaum hörbare[r] Halbreime“ andeute, so dass man kaum „hören“ könne, dass „es sich um eine Sestine handele“, wie auf „shepherd’s pie“ zugeschnitten. Auffälligstes Sestinenmerkmal ist hierbei, dass der erste reine Endreim zwischen den Versen sechs und sieben zu finden ist („zieht“ – „sieht“), während es als schwächere Sestinenallusion zu bewerten ist, dass die neunte Zeile den Reim aus dem weit entfernten und auf den Beginn des Gedichtes zurückverweisenden Vers eins aufgreift („lieben“ – „getrieben“). Durchweg sestinisch sind darüber hinaus die Endecassilabi mit der Betonung auf der vierten Silbe und einer Zäsur. Als solch vollständige Elfsilber, die zudem noch über den weiblichen Versfuß verbunden sind, werden die Verse eins, drei, acht und neun mit ihren Versenden „liebe“ – „worte“ – „wolken“ – „getrieben“ besonders betont. In der Endecassilabi-Gestaltung wird zudem dem paroxytonischen ersten Vers der proparoxynisch letzte Vers gegenüber gestellt, wodurch das Gedicht eine weitere Rahmung erhält. Durch die variabel eingesetzte, für Sestinen aber typische Zäsur entsteht schließlich eine Dreiteilung des Gedichtes, da die mittleren Verse parallel oxytonisch rhythmisiert und so von den ersten und letzten drei Versen abgetrennt sind. Eine gänzlich arhythmische Zäsur liegt hingegen in Vers sieben vor, indem die ersten neun Silben von einer abschließenden Schlusssilbe getrennt werden.
Die Dreiteilung durch den Sestinenrhythmus hat Folgen für die inhaltliche Bewertung des Schäfergedichtes: Im ersten Abschnitt gesteht sich demnach der Schäfer seine Liebe zu Marie ein und fasst den Plan, mithilfe ,seines Schreibgerätes‘, seiner Herde, „die drei berühmten worte“ in das Gras zu schreiben, wobei der mittlere Abschnitt der Umsetzung dieses Plans und der letzte dem vermeintlichen Scheitern gewidmet ist. Daher ist die arhythmische Zäsur des siebten Verses hier auch von besonderer Bedeutung, da mit dem Bruch von „fenster“ zu „sieht“ das Geschehen in der Sestinenform dramaturgisch erst an dieser Stelle kippt, und nicht schon – wie im Rhythmus der Stanze und noch stärker in dem des Sonetts – zwischen „hirtenhund“ und „am grund“. Die Zäsur in Vers sieben zieht das „sieht“ syntaktisch von den zugezogenen Vorhängen weg und bindet es an das „vom wind getrieben“ an, wodurch insbesondere die Adressierung und Rezeption der Liebesbotschaft individualisiert wird. Denn es ist nicht die Dorfgemeinschaft („man“), die die Liebesbotschaft nicht entziffern kann bzw. die die Avancen des Schäferdichters (bewusst) übersieht. Durch die abweichende Zäsur wird zudem die Anaphorik der beiden Satzteile mit „man“ und „sieht“ unterbrochen, d.h. das Verb steht hier allein (bzw. beginnt eine neue syntaktische Einheit) und verweist in seiner Flexion damit allein auf Marie: Durch den sestinischen Rhythmus wird Maria als Individuum als Zentrum und Adressatin der „drei berühmten worte“ herausgestellt. Sie ist es, die die Botschaft nicht sieht, entweder weil es ihre individuelle Entscheidung ist, die Worte nicht sehen zu wollen, oder weil sie sich gar nicht in dem Dorf befindet, sie also gar nicht sehen kann.
Diese Lesart wird durch die über die sestinische Rhythmik miteinander verbundenen Lexeme „lieben“ – „worte“ – „wolken“ – „getrieben“ noch zusätzlich gestärkt. Durch die metrische Betonung zusammen mit der sich daraus entwickelnden Binnenreimung des Vokals ,o‘ ergeben sich weiterhin die Verbindungen „wolken“ – „boden“ – „worte“ im ersten Abschnitt sowie (das eventuell hier mit hinzuzunehmende „vor“ und) die anaphorische Gemination aus „wolken / wolken“ mit dem „vom“ im letzten. Diese Assonanzen wiederum vollenden, was in der mehrfach rhythmisch und mit reinem Reim markierten Rahmung des ersten und letzten Verses anhand von „lieben“ – „getrieben“ bereits etabliert wurde. Die Lautverbindung über die ,i‘-Vokale, die hierdurch entsteht, liest sich als „lieben“ – „liebt“ – „marie“ im ersten Abschnitt gegenüber dem „sieht“ – „nicht“ – „wind“ – „getrieben“ im letzten. Durch diese Gegenüberstellung wird Art und Adressat der Botschaft markiert: Zu Beginn wird die vermeintlich von Freiheit geprägte bukolisch-idealisierte Liebe geerdet, die in Worte gefasste und bodenständige Liebesbotschaft ist die eines individuellen Schäfers (o-Reihe im ersten Abschnitt), und sie hat eine identifizierbare Adressatin (i-Reihe des ersten Abschnitts). In diesem ersten Abschnitt sind die Schafe zudem das Substantiv des Satzes und damit in der Wolkenmetapher der Bildempfänger, d.h. im Vordergrund steht hier die Schaf-Symbolik, wodurch die Unschuld, einfältige Naivität, aber auch moralische Unverwerflichkeit einer (jugendlich konnotierten) schwärmerischen Liebe betont wird, wobei die Wolken als Bildspender eine unheilvolle Antwort bereits andeuten. In der o-Reihe des letzten Abschnittes löst sich dann jedoch die individuelle Liebeserklärung in Luft – die wiederholten „wolken“ – auf, aus den konkret zu lesenden „worten“ ist ein – der i-Reihe gemäß – ,vom Winde verwehter‘ Text geworden, den Marie bisher nicht gelesen hat und den, auch wenn so schnell nicht Gras über Botschaft wachsen kann, sie auch in Zukunft nicht lesen wird. Die sich hieraus ergebende Deutungsvariante und die damit zusammenhängende spezifische Liebessemantik lässt „shepherd’s pie“ also vor allem als Gedicht einer scheiternden individuellen Liebe des Schäfer zu Marie erscheinen.
III.3 Englisches Sonett: „frißt sie als weiße Schrift“
Stanze und Sestine, zwei Gedichtformen, die sich in großer Familienähnlichkeit zueinander entwickeln, sind nicht die einzigen beiden erkennbaren Strukturierungsmodelle von „shepherd’s pie“. Zum ,Familienstammbaum‘ von Stanze und Sestine gehört auch das Sonett, eine weitere Gedichtform, auf die Wagner in „shepherd’s pie“ anspielt, wenn auch subtiler als auf die anderen beiden. Beachtet man weniger die Versstruktur als den durch Zäsuren, Enjambements und die Interpunktion vorgegeben Sprechrhythmus des Gedichtes, so ergibt sich eine, wenn auch sehr freie Anleihe bei der Form des englischen Sonetts: In dieser Lesart sind die drei Quartette – das erste von „schafe“ bis „worte“, das zweite von „die herde“ bis „hirtenhund“ und das dritte von „am grund“ bis „nicht die wolken“ – vom abschließenden Couplet getrennt, das sich gemäß Sprechrhythmus wie folgt ergeben würde:
wolken, die schafe sind,
vom wind getrieben
In dieser Variante des Sonetts dienen die Quartette zumeist der Darlegung eines Sachverhaltes, der dann im abschließenden Couplet in eine abstrakte Sentenz, die nebst Generalisierung das Vorangehende oftmals moralisierend kommentiert, überführt.
In dieser Rhythmisierung ergibt sich anhand der Quartette eine deutlichere Trennung unterschiedlicher Perspektiven: So bestehen die ersten beiden Quartette aus der bereits mehrfach angesprochenen Liebesbotschaft, die der Schäfer mittels der Schafe in das Gras schreibt, wobei das erste Quartett die Aktion dezidiert aus der Perspektive des Schäfers und das zweite die Perspektive/Tätigkeit der Tiere, der Herde und des Schäferhundes schildert. Im dritten Quartett wechselt die Perspektive in das Dorf, von wo aus weder Schäfer noch Herde, weder der Hügel noch die Wolken wahrgenommen werden. Diese perspektivischen Abgrenzungen sind folgenreich. Dass der Übergang von einer abstrakten Botschaft in eine konkrete interpersonale Beziehung nicht gelingen wird, lässt sich in dieser Rhythmisierung schon dadurch erahnen, dass nach dem „punkt“ eben kein solcher, sondern ein Komma folgt, ein interpunktionelles ,aber‘ sozusagen. Denn durch das Komma und die Perspektivierung des zweiten Quartettes – und dies wird durch einen (unreinen) Binnenreim und ein Enjambement noch zusätzlich betont – wird „der hirtenhund“ an den ,springenden Punkt‘ angebunden und von allem Nachfolgenden abgetrennt. Getrennt wird damit in scharfer Zäsur auch der „grund des tales“ vom Vorangehenden. So wird der „grund des tales“, erneut zusätzlich durch ein Enjambement markiert, in den thematischen Schwerpunkt des dritten Quartettes überführt, wodurch die neue Perspektivierung zusätzliche Brisanz gewinnt. Denn generalisiert wird damit die Rezipientenperspektive dieses dritten Quartetts. Grammatikalisch greift das „man“ somit auf die beiden flektierten Verben des Abschnittes („zieht“, „sieht“) aus, sowohl das Verschließen der Fenster (und metaphorisch das der Herzen) als auch das Ignorieren der Avancen des Schäfers erscheinen hier als kollektive Tätigkeit der Dorfgemeinschaft. Maries Gefühle bleiben unklar, sie tritt als Individuum an keiner Stelle in Erscheinung (ja, letztlich ist gar nicht klar, ob sie überhaupt existiert oder lediglich ein Ideal verkörpert): Weder ist im Gedicht ersichtlich, ob sie die Nachricht sieht, sehen kann oder sehen möchte – und wenn ja, wie sie darauf reagiert – oder ob sie sie überhaupt sehen darf. Letzteres wird aber durch die scharf getrennte Perspektivierung, die durch die Sonettakzentuierung entsteht, angedeutet. In dieser Lesart wehrt das Dorf kollektiv die Avancen eines außerhalb der Gesellschaft und damit auch außerhalb ihrer moralischen und sozialen Zwänge Stehenden ab. Oder abstrakter: Die Gesellschaft verweigert die Rezeption einer Botschaft eines Dichters.
Im englischen Sonett wird im abschließenden Couplet das zuvor Dargestellte in einen abstrakten Sinnspruch überführt. Und damit erhält auch die Umkehr des Verhältnisses von Bildspender und -empfänger sowie von Substantiv und erläuterndem Relativsatz rund um die Wolkenmetaphorik im ersten und letzten Vers zusätzliche Bedeutung. Das Sonett beginnt als typisch bukolische Liebesgeschichte in einer idyllischen Landschaft mit Betonung des Statisch-Räumlichen.43
Jetzt geht alles auf! Achtzehn Pasteten: Der virtuose Gedichtband von Jan Wagner. In: Süddeutsche Zeitung, 31.3.2008
Die Gattungsfolie wird sogleich mit dem ersten Vers und dem spezifischen Verhältnis von Bildspender und -empfänger der Schafe-Wolken-Metapher deutlich markiert. Die Zusammenstellung von Liebesthematik mit Harmonie und Überschaubarkeit dient zunächst als „Korrektiv der Realität“, zumal im ersten Quartett die Betonung auf Natürlichkeit und Mündlichkeit gelegt wird. Im zweiten Quartett wird diese mündliche Liebesbotschaft sodann in die Schriftlichkeit übertragen, in der Hoffnung, durch diesen Wechsel auch den ,springenden Punkt‘ zu evozieren, als den Übergang von Geist in Material, von mündlicher Botschaft in mediale Materialität, von passiv-schwärmerischer Liebe in eine konkrete Beziehung. Die Gattungsvorgabe Idylle wird bis hierher affirmativ bedient. Doch im anschließenden Quartett kommt es zu einem folgenschweren Perspektivenwechsel: Die idyllische Botschaft findet keine(n) Adressaten mehr hinter den zugezogenen Fenstern, die Gattung findet keine Rezipienten mehr, mit allen weitreichenden Folgen für den Dichter wie die Dichtung, wie das abschließende Couplet lakonisch notiert: Ein Dichter bezahlt seine ästhetische und soziale Freiheit wie der Schäfer mit dem Preis der sozialen Vereinsamung und/oder ästhetischen Wirkungslosigkeit. Zudem steht das „vom wind getrieben“ für die Unberechenbarkeit und Vergänglichkeit – sowohl des menschlichen Lebens als auch der Dichtung.44 Stand die klassische Idylle für Überschaubarkeit und Kohärenz, kippt diese Idylle Jan Wagners am Ende in die Kontingenz, der man in der (Post-)Moderne unweigerlich ausgeliefert ist, wie schließlich auch die ,Leideform‘ des abschließenden Verbes signalisiert.
In diesem Zusammenhang bekommt auch die Tatsache, dass der eben skizzierte Übergang von Natürlichkeit und Mündlichkeit in die Schriftlichkeit und Medialität als ein Soufflieren benannt wird, zusätzliche Brisanz. Denn dieses ,Vorsagen‘ ist zwar noch mündlich, ob seiner Textgebundenheit zugleich aber eine gänzlich unnatürliche Mündlichkeit. Souffliert wird in diesem Gedicht aber nichts weniger als die zentrale Liebesbotschaft, was nahezu unweigerlich die Assoziation mit Umberto Ecos berühmter Sentenz, dass es in der Postmoderne nicht mehr möglich sei, ,Ich liebe Dich‘ zu sagen, aufruft.45 Zwar können nach Eco im Zeitalter der „verlorenen“ Unschuld46 die „drei berühmten worte“ keine authentische Äußerung des Herzens mehr sein, allerdings gibt er als „Losung“ des Problems eine „meta-authentische“47 Variante an, in der die Zeichenhaftigkeit und Stereotypik der Worte explizit ausgestellt wird. Hierfür muss man die Worte als Zitat markieren: Anstatt ,Ich liebe Dich‘ sei es nur noch möglich zu sagen:
Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich […].48
Mit dem „souffliert“ wird im Gedicht ein Zitatcharakter der „drei berühmten worte“ ebenso impliziert wie markiert wird, dass es sich offensichtlich nicht um eine Botschaft, die unmittelbar aus dem Herzen des Schäfers stammt, handelt. Vielleicht ist sich der Schäfer also der Zeichenhaftigkeit seiner Botschaft bewusst. Oder es ist generell festzustellen, dass es in der Postmoderne die klassisch-idyllische Vorstellung einer unmittelbar-authentischen Übereinstimmung von Signifikat und Signifikant nicht mehr geben kann.
Zusammenfassend wird mit „shepherd’s pie“ somit eine Verlustgeschichte der Idylle geschrieben.49 Eine Verlustgeschichte, die das abschließende Couplet konzise benennt. Die Idylle (repräsentiert durch die „schafe“) stand einmal für die Gattung, die hohe, höchste Gefühle (die „wolken“ im ersten Vers) so in „worte“ kondensieren konnte, dass selbst die inintelligible Emotionalität ,Liebe‘ für alle verständlich (die Bodenhaftigkeit in „den boden lieben“) ausgedrückt werden konnte. Das Komplexe wurde durch die Idylle einfach und überschaubar: „der schäfer liebt marie“, Punkt. Die Idylle ist, aufgrund dieser Komplexitätsreduktion verbunden mit der Kompensationsfunktion, wiederholt einer Kritik unterzogen worden als eine Gattung, die in der modernen Komplexität nicht mehr zeitgemäß sei.
Doch kippt man damit mit dem Bad nicht das Kind aus, verwirkt man sich damit nicht einen sinnlichen-dichterischen Zugang auf die Welt? Oder auf Eco bezogen: Ist es nicht vielmehr so, dass auch wenn man sich als postmoderner Mensch des Zeichencharakters sprachlicher Äußerungen bewusst ist, es zugleich doch auch noch möglich ist, emphatisch ,Ich liebe Dich‘ zu sagen? Wagner liefert in „shepherd’s pie“ mit dem Schluss-Couplet und durch die Umkehrung von Bildspender und -empfänger in der Wolkenmetapher scheinbar auch darauf einen Kommentar. D.h. das abschließende Couplet lässt sich auch versöhnlicher lesen: Die Idylle kann immer noch Vorlage für Form und Motive von Dichtung sein – so wie die „schafe“ noch als Bildspender dienen können –, aber eine zeitgemäße Gestaltung muss sich an den „wolken“ orientieren, die sich „vom wind“ treiben lassen. Während Wolken für die Wandelbarkeit und Ungebundenheit der Form stehen, ist der Wind ein Symbol für die Dichtung, ja für dichterische Inspiration.50 Womit „shepherd’s pie“ zum poetologischen Selbstkommentar wird: Denn Jan Wagner wird gerne dafür kritisiert, dass er als „ Traditionalist“ lediglich „die altehrwürdigen Formen recycelt“, und gerne dafür gefeiert, mit welcher Virtuosität er dies tut.51 Eben ein poeta doctus mit „ganz eigene[m], unverwechselbaren Ton“, ein Dichterkoch und Pastetenbäcker mit Einbildungskraft und Urteil.
Antonius Weixler, aus: Christoph Jürgensen, Sonja Klimek (Hrsg.): Gedichte von Jan Wagner. Interpretationen, mentis Verlag, 2017








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