Anja Utler: plötzlicher mohn

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Münchner Reden zur Poesie“

Münchner Reden zur Poesie

SEHR GEEHRTE DAMEN UND HERREN,
LIEBE FREUNDINNEN UND FREUNDE,

vor etwas mehr als zwei Jahren durfte ich hier, im Lyrik Kabinett, meinen Gedichtband münden – entzüngeln vorstellen, und ich habe diese Lesung als eine derjenigen in Erinnerung, an denen ich bisher die meiste Freude hatte. Das hatte nicht zuletzt mit Thomas Poiss zu tun, der die Lesung eingeleitet und im Anschluss mit mir über meine Gedichte gesprochen hat. Dieses Gespräch hat mir Vergnügen gemacht, auch wenn ich mich sehr ausführlich gefordert fühlte. Ich bin nicht sicher, ob es mir damals immer gelungen ist, eine klare gedankliche Bewegung in den Raum zu ziehen – oft genug hatte ich den Eindruck, meine Antworten seien nur schwindelnde Blätter vor dem weit gestreckten Horizont, den die Fragen aufmachten. Aber ich weiß noch sehr genau, dass eine Antwort nur ein ausweichender Schlenker war. Das war, als Thomas Poiss von mir wissen wollte, was aber nun die psychisch-geistige Relevanz einer solchen Spracharbeit sei, wie ich sie in den Gedichten betreibe. Ich konnte darauf nichts sagen, aber ich wusste, dass diese Frage an den Kern dessen geht, was ich als Leserin und Dichterin suche und versuche.
Und so habe ich diese Frage damals schweigend eingesteckt und mitgenommen – und weil sie mir seitdem akut geblieben ist, werde ich sie heute wieder aufgreifen und versuchen, eine erste Antwort zu entwerfen. lch werde diese Antwort von einer lesenden Position aus entwickeln. Von dort aus möchte ich sagen, was und wie Gedichte, wie ich sie verstehen mag, vielleicht sein und wirken können, im Denken, das ist im Körper, das ist im Fühlen, die sind ja alle drei nur eines. Und warum dieses Können für mich wichtig ist, ja: mir relevant erscheint. Ich werde hier nur einige der Personen, an deren Denken sich das meine lehnt, auch nennen können – die meisten werden, obwohl inhaltlich nur zu präsent, namentlich doch fehlen. Auch werde ich nur mit einem Gedicht eines einzigen Dichters arbeiten; und damit soll nicht gesagt sein, dass sich nicht an Texten von ganz anderer Machart und ganz anderen Autorinnen und Autoren sehr ähnliches zeigen ließe. Nämlich etwas, das ich im folgenden umreißen und für jetzt das „lyrische Potential“ nennen will.
Diese Eigenschaft und Fähigkeit von Text, die ich als „lyrisches Potential“ fassen möchte, ist zwar nicht auf Lyrik, Poesie, Gedicht beschränkt – also auf diesen kleinen Ort, zu dessen Bezeichnung sich im Moment drei Wörter drängeln, als sei er besonders aufregend, oder unbehaglich, oder beides, kurz: ein Ort mit Potential. Dennoch heißt sie für mich „lyrisch“, weil diese Eigenschaft im Gedicht am ehesten zu finden ist, dieses sich in manchen Fällen ganz auf sie verlässt und darüber nicht aufhört, ein Gedicht zu sein. Aber auch Prosatexte schießen davor über, ich denke etwa an die Lesefülle, die Arbeiten von Christina Viragh, Andrea Winkler oder der Tschechin Daniela Hodrová gewähren, um nur diese drei zu nennen – die ich für Autorinnen von Prosa at its best halte. Und manche Texte nennen sich Gedicht, völlig zurecht, wie sollten sie auch anders heißen, und ich finde nichts von dem in ihnen, was ich beim Lesen suche.
Am häufigsten komme ich zu dem Gesuchten in Gedichten, die manchmal „dunkel“ genannt oder geschimpft werden – wie Paul Celan 1960 in seiner Büchnerpreisrede sagte: „Meine Damen und Herren, es ist heute gang und gäbe, der Dichtung ihre ,Dunkelheit‘ vorzuwerfen“. Und „dunkel“ soll hier und in vielen anderen Fällen, so mein Eindruck, wohl vor allem „unklar“, „unverständlich“ heißen. Ganz nebenbei nimmt sich eine solche Situation von heute her gesehen nicht so schlecht aus, denn jetzt ist es eher gang und gäbe, Dichtung, egal welcher Ausprägung, ihre Existenz als solche vorzuwerfen.
Ich finde es, oder eher: ich finde mich, mich in der Welt, in den dunklen also unter den Gedichten – und habe selber diesen Ort noch nie bestimmen können, wo das Dunkle an und in den Texten sein soll. Als ein zweites Etikett wird solchen Texten oft ein „hermetisch“ angeheftet. Ich habe die Verwendung von „hermetisch“ im „Wortschatz-Portal“ der Uni Leipzig nachgeschlagen. In den Texten dieses Korpus, das deutschsprachige Print- und online-Medien auswertet, folgt, erwartbar, auf „hermetisch“ in den weitaus meisten Fällen eine Form des Wortes „abgeriegelt“: das Gedicht wäre also da, in einer solchen Wahrnehmung, als finsteres, in sich geschlossenes Etwas. Ein dichtes, dorniges Gestrüpp – so stelle ich mir das vor, und ja, verstehe schon, dass man so etwas umgeht.
Aber selber, als Lesende, habe ich noch keinen solchen Text gesehen – außer als Geburt von Fachgebieten, zu deren Erschließung und Verständnis mir schlicht die Vokabeln fehlen. Und so vermute ich: vielleicht haben wir es gar nicht mit dem Düster des Gestrüpps zu tun, sondern es ist die Art von Dunkelheit, die aus zu großer Helle kommt.
Die silbern-dunkle Scheibe, die sich gleich auf die Sonne legt, wenn ich ungeschützt hineinsehe in sie. Dann sind die Gewächse schwarz und scharf, wie sie den Lauf eines grell in Licht gestreckten Feldes abgrenzen und ziehn und brechen – ich sehe aus der Ferne ihren Schnitt und erst im Nahen, auf Atem- und auf Fingernähe, Gefärbtsein, in einand gespielte Licht- und Schattenrinnen, lebendes Material. Wenn ich mich umgehn traue damit, riskiere – hoffe! – es sticht mir ein in seins gekerbtes Licht nach innen, ist dort als sein eigenes in meinem fort. „ПОЛЕ : ВНЕЗAПНО – МAК“ (gesprochen in etwa: pólje: vnjesápna – mak), „FELD?: PLÖTZLICH – MOHN“ heißt ein Gedicht des nicht selten hermetisch genannten tschuwaschisch-russischen Dichters Gennadij Ajgi, in meiner Übersetzung „FELD – EIN PLÖTZLICHER: MOHN“

(…)

 

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Nachdem die Position des Autors demokratisiert worden ist

– jede, jeder kann und darf schriftlichen Ausdruck suchen, erzählen, auf Gehör hoffen – ist die Position der Leserin und des Lesers nach wie vor autoritärem Zugriff ausgesetzt, dem (teils imaginierten) Imperativ von Texten, sie auch ,richtig!’ zu verstehen. Die Lese-Position statt dessen zu demokratisieren hieße, wie die Dichterin Anja Utler in plötzlicher mohn zeigt, die Lesenden als aktive Größe und die individuelle, sinnliche: Sinn-Erfahrung des Textes als unbedingten Wert zu etablieren. Dazu aber braucht es auch Texte, die einen solchen demokratisierten Leseprozess begünstigen: Texte, die nicht auf die Mitteilungsfunktion der Sprache setzen, sondern auf deren lyrisches Potential. In einer exemplarischen Lektüre des russich-tschuwaschischen Dichters Gennadij Ajgi zeichnet diese ‚Rede zur Poesie‘ den Weg nach, auf dem Gedichte es LeserInnen gestatten, sich selbst in ihre Beziehungsfäden zu knüpfen, diese dort zu kappen und hier mit neuem Zug zu versehen, sie anzuschlagen und in ein ganz eigenes Schwingungsmuster zu bringen. Und sich so selbst zu (er)höhen und zu ersprechen: als aktualisierte Gegenwart, die durch das Lesen in eine neue Spannung gebracht ist zu sich selbst und dem Text, zur Welt und der Sprache.

Stiftung Lyrik Kabinett, Klappentext, 2007

 

Beiträge zu diesem Buch:

Tobias Lehmkuhl: Essenz entsteht durch Quetschen
Süddeutsche Zeitung, 20. 11. 2007

Paul Jandl: Plötzlicher Mohn
Neue Zürcher Zeitung, 25. 2. 2008

Bei poetenladen.de finden Sie Walter Fabian Schmids kurze Ausführungen zu Anja Utlers Münchner Poesierede und die Veranstaltung vom 16.7.2007 im Lyrik Kabinett München zum nachhören.

 

 

STAMMELN
für Anja Utler

Ich soll etwas sagen?
Ich beiße meine Zunge.
Ich soll etwas sagen?
Vorher beiß ich mir auf die Zunge.

Timo Brandt

 

ANJA UTLER

brimmendrinne

wird es, fragst du drinnen: unangenehm:
schleimelig, fragst du: brimmendinnen:schon, teuerste.
alles rundum gequiertes:unangenehm, so nah:weit
wie ich das sehe – glischernd, als ein wort:
eingefahren:inmitten:verdrückt
brimmendrinnen – sie trinkt – sie schlägt der
flasche den kopf ab – nun dann nur zu
nach freiheit spült alles

Peter Wawerzinek

 

Anja Utler: Im Störfall: FlatternÜber die Erfahrung, ein langes Gedicht aufzusagen.

 

Stefan Hölscher im Gespräch mit Anja Utler am 12.5.2021 bei TEN-4-POETRTY

 

 

Anja Utler bei schreibART ONLINE

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Instagram + KLGPIA
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde OhlbaumDirk Skibas Autorenporträts + IMAGOKeystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Anja Utler liest beim ersten Wales International Poetry Festival in Bangor am 6.10.2012.

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