Anna Achmatowa: Liebesgedichte

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Anna Achmatowa: Liebesgedichte

Achmatowa-Liebesgedichte

Du bist wieder mit mir, o Herbst, mein Freund!
Innokentij Annenskij

Mag jemand sich sonnen in südlichen Landen,
im Garten Eden gar.
Hier ist es sehr nördlich, hab mir als Freundin
den Herbst gewählt dieses Jahr.

Das Haus ist fremd, als wär’s erfunden,
fühl mich wie im Sarg.
Seltsames war im Abend-Ermatten,
das der Spiegel barg.

Geh zwischen niedrigen schwarzen Fichten,
wie Wind ist das Heidekraut.
Des Mondes Scherbe leuchtet trübe,
ein Messer, das nicht haut.

Hab die Erinnerung mitgenommen,
wie wir einander verfehlt –
der Sieg meiner kühlen reinen Flamme
über des Schicksals Befehl.

Oktober 1956, Komarowo

 

 

 

Nachwort

Mit den fünf offenen „A“ in ihrem Namen Anna Achmatowa habe die wohl größte russische Dichterin „gewissermaßen ihre erste gelungene Zeile“ geschaffen, einen suggestiven Klang, dem man sich nicht entziehen könne. So schrieb der enge Vertraute Achmatowas und spätere Literaturnobelpreisträger Iossif Brodski 1982 in einem seiner vielen Essays. Mit diesem Pseudonym, das für russische Ohren „tatarisch“ klingt, griff die 1889 in der Nähe von Odessa am Schwarzen Meer geborene Anna Gorenko die eigene Familiengeschichte auf und zugleich die Geschichte Russlands: Die Genealogie der Familie mütterlicherseits lässt sich angeblich bis zum letzten Chan der Goldenen Horde, Achmat Chan, zurückverfolgen. Und wie für die Vergangenheit Russlands sollte Achmatowas Name dann auch für das Schicksal Russlands im 20. Jahrhundert stehen, für seine Kultur, seine Literatur und nicht zuletzt für die tragische politische Entwicklung, die jahrzehntelang die besten Schriftstellerinnen und Schriftsteller des Landes in die Emigration treiben, zensieren, einsperren, ermorden ließ: „Zwei blutige Kriege – ihre Spuren sind beinah auf jeder Buchseite zu sehen –, und zwischen ihnen die berühmte Silhouette mit dem stolz erhobenen Kopf, das Leben und das Schaffen der unbiegsamen, ergebenen, aufrichtigen Tochter des Volkes und des Jahrhunderts, die gestählt, an Verluste gewöhnt und zu den Prüfungen der Unsterblichkeit mutig bereit ist“, wie Boris Pasternak, ein anderer russischer Literaturnobelpreisträger, bereits 1943 formulierte. Auch Achmatowa war zeitweise für diese höchste Auszeichnung im Gespräch gewesen.
Achmatowa hat – im Unterschied zu vielen ihr nahe Stehenden – sowohl den Terror der Revolution als auch der stalinistischen Zeit physisch überlebt, fast ein Wunder. Ihr erster Mann Nikolaj Gumiljow, wie Achmatowa selbst einer der wichtigsten Vertreter des Akmeismus – einer literarischen Richtung, die in der Poesie auf Klarheit des Ausdrucks und Rückbesinnung auf die literarische Tradition setzte –, wurde 1921 als „Konterrevolutionär“ erschossen. Der gemeinsame Sohn Lew verbrachte fast zwei Jahrzehnte in Haft und Arbeitslager, viele Bekannte und Vertraute, unter ihnen der literarische Weggefährte Ossip Mandelstam und der langjährige Lebenspartner Iwan Punin, kamen im stalinistischen Terror zu Tode. Marina Zwetajewa – in der russischen Literatur die andere Große, sie hatte Achmatowa mit dem Ehrentitel „Anna von ganz Russland“ bedacht – sah den einzigen Ausweg im Selbstmord.
Achmatowa, lange Jahre mit Publikationsverbot belegt und in bitterster Armut lebend, hat der Epoche eine Stimme verliehen, vor allem in ihrem erschütternden Requiem. Hier stemmt sich die Stimme des zutiefst leidenden Individuums, einer um ihren inhaftierten Sohn bangenden Mutter gegen den Terror, eine Stimme freilich, die immer „mit meinem Volk“ war und für Menschen sprach, die zu sprechen nicht mehr in der Lage waren. Es war klar, dass solche Texte nicht gedruckt werden konnten. Sie konnten nicht einmal aufgeschrieben werden, sondern wurden von Vertrauten auswendig gelernt und einem breiten Publikum – zunächst außerhalb der Sowjetunion – erst Jahre später zugänglich gemacht, ebenso wie ihr „Jahrhundert-Poem“, das Poem ohne Held. Auch in diesem monumental und zugleich filigran gemeißelten großen Text Achmatowas ist die individuelle Stimme immer präsent, ist aber auch – ähnlich wie beim erklärten Vorbild Alexander Puschkin – „national und zugleich weltumfassend“ (Lew Kopelew 1966 an Achmatowas Grab).
So stehen auch Achmatowas zahlreiche Liebesgedichte für ihr individuelles Selbstverständnis als Dichterin und Frau und gehen zugleich weit darüber hinaus. Die zahlreichen durchlebten, eher durchlittenen Liebesbeziehungen, die Achmatowa fast nüchtern anmutend, präzise und klar thematisiert, weiten die persönliche Intimität des Liebeserlebens über das Persönliche hinaus zu Fragen der Möglichkeit und Unmöglichkeit von Liebe überhaupt, besonders aber für die künstlerische, die schöpferische Frau. Diese enge Verschränkung der Liebesthematik mit Fragen weiblicher Individualität und weiblicher Kreativität wurde lange Zeit zu wenig beachtet. In den revolutionstrunkenen zwanziger Jahren wurde die „häusliche Intimität“ der Liebesgedichte zunehmend als „sinnlos, rührend und komisch“ und anachronistisch bewertet (Wladimir Majakowski). Andererseits fand Alexandra Kollontaj, die kommunistische Feministin schlechthin, gerade in Achmatowas scheinbar veralteten Liebesgedichten jenes Thema gespiegelt, das auch aus progressiv-feministischer Sicht ungebrochen aktuell war: die starke Frau, die auch als Liebende und Geliebte um Anerkennung ihrer Stärke ringt. Achmatowas Liebespoesie akzentuiert diese Thematik in unterschiedlicher Weise: Während in der ersten Gedichtsammlung Abend von 1912 eher der Typus der verlassenen, hoffnungslos nur in der Aussicht auf den Tod verharrenden liebenden Frau vertreten ist, begegnet in der Sammlung Die weiße Schar von 1917 neben der verzweifelt Liebenden zunehmend auch die starke, die selbstbewusste, die in ihrer Kunst Erfüllung findende Frau:

Mag er auch meine Augen verschmähen,
die unbeirrt in die Zukunft sehn –
sein Sehnen wird immer zu meinen Versen,
meinen stolzen Gebeten gehn
(S. 35).

Achmatowas Intimität der Liebesthematik, verbunden mit einer fast religiös anmutenden Überhöhung des kreativen Aktes und einer tief verwurzelten christlichen Überzeugung, wurde bald von den Sowjets ideologisch missbraucht. Schon in den zwanziger Jahren hatte man klargestellt, dass für Achmatowa, die bewusst zu emigrieren verzichtet hatte, in der revolutionären kommunistischen Gesellschaft kein Platz mehr sei – kein Platz für eine Dichterin, „nicht ganz eine Dirne, die vor Leidenschaft brennt, nicht ganz eine Bettelnonne, die zu Gott um Vergebung beten kann.“ Nach dem Zweiten Weltkrieg – Achmatowa war nach Taschkent evakuiert gewesen und hatte nach langer Zeit wieder die Möglichkeit zu publizieren gehabt – wurde diese Argumentationslinie auf bedrohlich-infame Weise wieder aufgenommen. In einer Resolution des Zentralkomitees der KPdSU wurde Achmatowa gemeinsam mit dem Satiriker Michail Sostschenko 1946 als Beispiel für unpolitische und ideologisch schädliche Werke gebrandmarkt. Der Kulturminister Shdanow geiferte in einer Rede, Achmatowa sei „halb Nonne, halb Dirne, oder besser eine Dirnen-Nonne, deren Sünde mit Gebeten durchtränkte sei. Achmatowa, zu diesem Zeitpunkt 57 Jahre alt, nach wie vor um ihren Sohn bangend und gesundheitlich angeschlagen, wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und publizistisch geschmäht. Die Stalins Tod folgende Tauwetterperiode brachte für Achmatowa die Rehabilitierung und endlich wieder Publikationen, auch die Möglichkeit, ausländische Ehrungen – wie die Ehrendoktorwürde der Oxforder Universität – persönlich entgegenzunehmen. Als Achmatowa 1966 nach mehreren Herzinfarkten starb, war jedoch eine neue Eiszeit bereits wieder angebrochen; nicht nur Iossif Brodski, vielversprechender junger Dichter und Vertrauter Achmatowas, wurde verhaftet und verurteilt.

Die vorliegende Textauswahl umspannt fast das ganze Leben Achmatowas, das sich in diesen Liebesgedichten in einer intim-anrührenden und zugleich objektiv-nüchternen Weise präsentiert. Sie lassen sich als eine Art lyrisch verdichtetes Tagebuch lesen, gehen zugleich aber weit darüber hinaus und spiegeln keinesfalls mimetisch das Leben. Vielmehr sind sie eine „Offenbarung“, die man mit Biographien, Memoiren, Kommentaren oder anderen Hilfsmitteln nicht wirklich entschlüsseln könne (Brodski). Dennoch soll wenigstens im Ansatz versucht werden „die Randflächen um ihre Gedichte“ aufzureißen, einige der Liebesbeziehungen und damit die biographischen Hintergründe in aller Vorsicht anzudeuten – immer im Bewusstsein der Unmöglichkeit, diese Liebesgedichte als Replik auf Achmatowas eigenes Erleben zu reduzieren.
Bereits einer der ersten Texte der vorliegenden Auswahl, „Ich sah ihn viele Ringe tragen“ vom März 1907, ist unmittelbar mit Achmatowas erstem Ehemann verbunden. Es erschien als erstes von der jungen Dichterin publiziertes Gedicht überhaupt in einem von Nikolaj Gumiljow herausgegebenen Almanach. Die Ehe – Achmatowa hatte Gumiljow nach langem Werben („Den Ring bekommt keiner, der bleibt bei mir…“) und seinen Selbstmordversuchen 1910 geheiratet – gestaltete sich schwierig. Beide waren offenbar mit diesem bürgerlichen Modell überfordert, von ihm ernüchtert. Gumiljow begab sich auf monatelange Reisen nach Afrika, vermutlich auch, um sich seine Unabhängigkeit zu beweisen. Achmatowa, die sich in dieser Ehe immer als Fremde empfand, verfasst in dieser Zeit eine Reihe von Texten, die gerade durch nüchterne Konstatierung und lakonische Wendungen berühren:

Er liebte drei Dinge auf der Welt:
den Gesang der Abendandacht,
weiße Pfauen und abgenutzte Landkarten
von Amerika. Nicht liebte er
Kinderweinen, weibliche Hysterie
und Tee mit Himbeermarmelade.
… und ich war seine Frau
(vom 9. November 1910).

Die Gegenständlichkeit, ja Alltäglichkeit der Bilder – manchmal sogar nur ihre Andeutung – transportiert seelisches Leid intensiver als jede explizite Beschreibung psychischer Zustände. So wird man sich der Eindrücklichkeit des Bildes „Dein Strohhalm trinkt meine Seelee (10. Februar 1911) ebenso wenig entziehen können wie dem „Lied von der letzten Begegnung“. Die Dramatik einer Trennung wird hier („Habe den linken Handschuh / auf meine Rechte gestreifte) in einer Art Destillationsprozess und damit schwindelerregend kurz – so Achmatowa selbst über Puschkins Lyrik – verdichtet.
Die Tragik der um ihre Autonomie als schöpferische Frau ringenden Liebenden ist besonders in den Texten aus der Zeit von Achmatowas Ehe mit Wladimir Schilejko zu spüren, den sie – so zumindest die Auffassung von Zeitgenossen – möglicherweise als Reaktion auf das labile Klima der Revolution und auf ihre Ehe mit Gumiljow 1918 heiratete. Aus der Zeit der Beziehung mit Schilejko, einem bekannten Assyriologen, Dichter und Übersetzer (der Achmatowas Gedichte im Samowar verbrannt haben soll), stammen ihre düstersten, vereinzelt sogar fast masochistisch anmutenden Liebesgedichte („Verbietest mir das Lächeln, den Gesang, / auch Beten kommt nicht mehr in Frage. / Wenn ich nur nicht von dir scheiden muss, / bei allem andern heißt’s: ertrage“). Es ist eine Zeit, in der sie wenig schreibt. Hoffnungslosigkeit und das Ringen um Freiheit („,Mann‘ heißt Henker, sein Haus Tortur“) bestimmen den Ton der Texte:

Töte mich, wenn du musst,
doch sei nicht mehr so schroff.
Kinder willst du nicht,
meine Verse missfallen dir.

1921 kann sich Achmatowa aus dieser Beziehung lösen („Die Trennung gelang irgendwie, / das verhasste Feuer erlosch“). Einer kurzen Liebe zu dem Komponisten Artur Lourié, den sie später als einen ihrer „Ehemänner“ bezeichnen sollte, folgte ab 1926 eine jahrelange, schon von den äußeren Umständen (man lebte lange Jahre mit der Noch-Ehefrau zusammen in einer Wohnung) her schwierige Beziehung mit dem Kunstkritiker und Historiker Iwan Punin, der 1935 erstmals verhaftet wurde.
Von besonderer Poesie und zugleich in bedrohlicher Weise von den Anfängen des Kalten Kriegs überschattet war Achmatowas kurze Begegnung mit Isaiah Berlin, damals britischer Botschaftssekretär in Moskau, im August 1945 und im Januar 1946. Es waren Begegnungen mit der anderen Welt („Liedchen von der Liebe“). Zu einem weiteren Treffen mit Isaiah Berlin, im Poem ohne Held sogar mit einer Widmung bedacht, konnte sich Achmatowa dann zehn Jahre später aus Angst um ihren Sohn nicht mehr durchringen („Gemeiner Nichtbegegnung / leerer Triumph“).
Liebeserlebnisse waren für Achmatowa offenbar immer mit der schmerzlichen Erkenntnis verbunden, dass nur die Liebe – auch und vielleicht sogar besonders die unglückliche, quälende, erniedrigende – extreme Gefühle, Leiden, Leidenschaft erleben lässt. Liebe als Geheimnis, dem man sich nicht entziehen kann („Doch bleibt in Schweigen gehüllt, wer das Geheimnis gefunden…“). Die durch Liebe ersehnte Freiheit jedoch wird immer Selbsttäuschung bleiben, „Gift ohne Maß“.

So liege denn als Grabstein
auf meinem Leben die Liebe.

Elisabeth Cheauré, Nachwort

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer

 

Zum 70. Geburtstag der Herausgeberin:

 

 

Zum 75. Geburtstag der Herausgeberin:

Lothar Schröder: „Schreiben ist geistiges Händewaschen“
Kölnische Rundschau, 29.4.2020

Jan Ehlert: Schriftstellerin Ulla Hahn wird 75
ndr.de, 29.4.2020

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Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Hahn, die“.

 

Ulla Hahn im Das Literarische Quartett vom 25.3.1988 ab Minute 38:29.

 

 

Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.

 

 

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa

Zum 2. Todestag der Autorin:

Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989

Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989

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Porträtgalerie: Keystone-SDA
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Anna Achmatowa Begräbnis.

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