Es wäre eine Himmelsbestattung geworden in weißer
Luft. Mit dem Fliegenfangen haben wir aufhören
aaaaamüssen im ersten Schnee.
Ich hatte eine kleine Vogelsavanne von der ich nicht
genau weiß was jetzt ist sie da
und die starken roten Kerzen bleiben nicht stehen.
War im großen Plumpsquamperfekt. Die
aaaaaPampelmusen
an die Ampeln gelehnt. Bin nun tagelang verreizt.
Verreizt verändert.
Meine Kuchenschoßschüssel reist in großes Eid.
Und seit ich dein Zimmer gesehen lautgiebig
bin ich geworden von Augen zu Mund. Also für Stunden
solch Quitten geschält. Geschält und die Kuppen
geschüttelt.
Ich kann dann die roten Kirschen nicht stellen.
Der Körper ist schwerer als der Stiel.
Ich war kein Wohlstandskind und wünschte
im richtigen Krieg zu sein.
Nach der letzten Bestattung aß ich eine weiße Forelle.
Ich hatte eine kleine Vogelgabe drei Freilichtblümchen
die man später in Marmeladengläser tat.
Unter freiem Himmel allerdings
alles etwas verkleinert weil es doch eine Urne ergab.
Sabine Hassinger
oder Wenn du zum Dichten gehst, vergiß die Feile nicht
Vom Lyrikjahrbuch erwartet man einen repräsentativen Querschnitt durch die Gedichtproduktion des abgelaufenen Jahres, und nicht etwa nur einen Querschnitt, sondern eine Auswahl: Man erwartet das Beste vom Besten, und daß dies „Beste“ noch dazu erschwinglicher ist als all das einzeln publizierte Gute, macht die Sache doppelt erfreulich. Freilich hat sie einen Haken: Hängt sie doch nur auf der Ebene von Konzept und Idee vom Herausgeber ab, auf derjenigen der tatsächlichen Erscheinung aber von der Qualität der jeweiligen Beiträge. Da kann das Konzept noch so überzeugend sein – und im Falle des Jahrbuchs der Lyrik 1988/89 ist es das tatsächlich −: wenn die einzelnen Gedichte selbst nicht das halten, was die Namen ihrer Verfasser versprechen, dann kann auch das Ganze nicht mehr retten, was im einzelnen verloren geht. Der Ort nachstehender Betrachtung ist also kein zufälliger, die Text(auszüg)e dagegen sind so gut wie frei erfunden. Etwaige Analogien zu im Jahrbuch veröffentlichten Gedichten sind allenfalls zu befürchten, nicht jedoch zu konstatieren.
Mit einer Ausnahme: Wenn im folgenden behauptet wird, hinter all den Pseudonymen, die für diverse Lyrifizierungsversuche von „Wirklichkeit“ im Jahrbuch verantwortlich zeichnen, stehe im Grunde genommen bloß ein einziger Autor – ein geschickter Bastler, der sich verschiedenster Methoden des Kunsthandwerks bedient −, wenn also behauptet wird, das Jahrbuch sei aus einem Guß, so ist Peter Rühmkorfs Beitrag davon auszunehmen: „Aufwachen und wiederfinden“ (S. 28) nämlich ist das einzige „wirkliche Kunstwerk“ im müden, ermüdenden Allerlei-Einerlei der deutschen Gegenwartslyrik, und allein deshalb schon hat sich Lektüre des Buches gelohnt: Dies Gedicht ist ein echtes Gedicht unter all dem „sackfarben“ „Nachgeraunten“, den „Eintagsfliegen“ der „Abgeschiedenen“; es hat sein spezifisches Maß gefunden und seinen Rhythmus, genaue Bilder, präzis kalkulierte Doppeldeutigkeiten, und es hat all das (und einiges mehr) zusammengebracht in ein dynamisches Ganzes, hat die Teile nicht serviert als Teile, sondern ineinander aufeinander bezogen: durch Versmaß und Reim. Man kann es wieder und wieder lesen, es stellt immer neue Bedeutungsebenen her.
Und der Rest?
Jeden Tag fehlt irgendwo auf der Welt ein Gedicht,
Jeden Tag ist irgendwo ein Gedicht fällig.
Das wäre doch gelacht, Herr Auerhahn! Von Ihnen
hat man schon lange keinen Vers gehört.
Wie isses denn?!
So beginnt „Bernsteins Lyrik-Lehrgang“, nachzulesen in vier Titanic-Heften der Jahre 1980/81, und Herr Auerhahn hat sich allenfalls zweimal bitten lassen, hat die dort erhaltenen Lehren „weidlich“ beherzigt und nun, nach langjähriger Kleinarbeit, sein Kompendium der Öffentlichkeit vorgelegt: ein Lyrikjahrbuch. Bedenkt man, daß wir es hier mit einer Fälschung im großen Stil zu tun haben, vergleichbar derjenigen vielleicht der Ossian-Dichtungen, dann ist’s nicht weniger als genial. Getrost wird man auf Lektüre weiterer Gedichtbände verzichten können, der Gegenwartsgeist deutscher Dichtung ist hier aufs Überpeinlichste in all seinen Erscheinungsformen – Und wenn es keine Fälschung wäre?
„Bei vielen Menschen ist das Versemachen eine Entwicklungs-Krankheit des menschlichen Geistes“, das wenigstens behauptet Lichtenberg, der sich des Versemachens nicht völlig enthielt, und man ist versucht zu ergänzen: Je nach Disposition, sprich: Betroffenheitstalent taucht sie sporadisch bis regelmäßig auf. Der Krankheitsverlauf führt in aller Regel von der Vogel- zur Nabelschau, noch an matten Mixturen von Metaphern kann der Fiebernde sich berauschen und jedwede intellektuelle (Selbst-)Kontrollinstanz außer Kraft setzen: jedwede reflexive Durchdringung des Dahingeschriebenen und jede nachträgliche Korrekturlust. Denn das verriete ja den Gesunden, den Durchschnittsdickhäuter, der dilettantisch konstruieren muß, was das am Leben krankende Genie als Mundstück einer höheren Welt in einem einzigen Tusch ausposaunt: „Nicht bloß der Dichter, auch sein Gedicht wird geboren und nicht gemacht.“ Jean Paul, der solcherart bereits als Achtzehnjähriger tönte, hat sich des Versemachens freilich völlig enthalten. Sonst hätte er wohl gewußt, daß ein Gedicht nicht nur geboren, sondern auch gemacht wird, also aufgezogen, und manchmal sind es hier bis zur Volljährigkeit mehr als 18 Jahre.
„Man ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle Nichtkünstler ,Form‘ nennen, als Inhalt, als ,die Sache selbst‘ empfindet“, so Nietzsche, für den das Leben ohne Lyrik, d.h. für ihn: ohne Musik, ein Irrtum gewesen wäre und dessen Diktum im Werk Stefan Georges die reinste Gestalt angenommen zu haben scheint. Form ist ja Inhalt, so läßt sich die keineswegs ästhetizistische Position auf ihre kürzeste Formel bringen, eine „Form als solche“ gibt es nicht. Was für Herrn Auerhahn zu übersetzen wäre als: Formale Laxheit ist nichts anderes als Ausdruck von Gedanken-, ja Gefühllosigkeit, schließlich sagt jedes seiner Gedichte bestenfalls das aus, was in ihm auch gesagt wird, und kein Jota mehr. Dazu allerdings bräuchte es keine Gedichte, da böten die täglichen Fernsprechauskünfte und stündlichen Rundfunknachrichten mehr an Stoff: denn hier zählt ausschließlich der Inhalt, es gibt keinen Mehrwert zwischen und hinter dem Gesagten, der ein Gedicht um soviel inhaltsschwerer als eine gleich lange Prosaäußerung machen kann bzw. könnte, denn der „Wallungswert“ gewisser Worte, den uns Benn noch in den fünfziger Jahren ans Herz legte, bringt am Ende der achtziger Jahre bereits ganze Sätze zum (Über-)Kochen und deren Inhalte zum Verdampfen:
a) Orakeln
„Reglos ballt sich die Stunde unter der Hitze“
„und ringsum tropfte Dunkel durch die Zweige.“
„Das gestaffelte Sein rafft die Zügel“
„Es legt dir seine Seidenpranke in den Schoß“
„Dann pfeift der Mond“ − ja: er pfeift! −
„Fliegen umkreisen
aaaaaaaaaaaaaaaadie Leere.“
Noch immer tönt das „Ich“ des Lyrikers aus dem Abgrund des (gestaffelten) Seins; anstelle apollinischer Traumbilder für dionysische Erfahrungen, wie es Nietzsche erhoffte, liefert es mittlerweile den Weltgeist in verwässertem, bei anhaltender Überhitzung gar in verkalktem Zustand, als Orakelspruch: Man liest ihn, man staunt, man liest erneut, man berätselt seine Weisheit, man bewundert. Die Deutschen haben eine fatale Neigung, alles Unverständliche für „tief“ zu halten; als Quittung erhalten sie derart viel „Tiefe“, daß jedwede Oberfläche (lies: Form) davon überspült wird:
„Lanzen aus Säure und Gas brechen Keile aus Glut“
„und also miss wer schwarz die Sehnsucht aus“
„Doch heilig trunkner Wahn“
„− den Bäumen blies er Lava unter die Rinde −“
„doch der Dichter entgegnete: Nein.“
„Heimat. Ja. Mutter Erde. Du Gütige. Adieu!“
Adieu, deutsche Dichtkunst; man nehme den leisen Anflug einer Empfindung, kleide ihn flugs in ein paar Metaphern von der Stange – sie müssen nicht unbedingt passen! – und unterlege das Ganze mit dem dumpfen Gefühl einer Ahnung von was auch immer: Schon raun(z)t uns ein Hohelied im Ohr.
„Ja jedes Wort fein hübsch gestiefelt und gestelzt
Und jedes Hirsenkorn wie eine Welt gewälzt,
[…]
Zeig alles was du willst, nur nicht Kastratenzwang:
Was dir an Mannkraft fehlt, ersetz’ stracks durch Gesang.“
So parodierte dergleichen Lichtenberg, und Herr Auerhahn ist bösartig genug, den Vorwurf aufzugreifen: „Ach, kleinmütiges Jahrhundert, zwei Flecken / auf der Haut, schon greifst du zur Feder“, beschwörst „in der Sprache einer vagen Unendlichkeit“ die ewige Wiederkehr des Gleichen, frei nach dem Motto: Alles Leben ist Leiden! Alles Leiden ist Dichtung! Nutzen wir diese unsre Chance! „Die Bilder gleichen sich“ entsprechend −, das kann das Mitleiden des Lesers immerhin beschleunigen. Freilich: „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint“ (Odo Marquard), will sagen: Nicht alles, was fliegt, ist ein Vogel, und nicht jeder, der aus der DDR kommt, ist ein Liedermacher, geschweige „Dichter“. Anders formuliert: „Es herrscht die Zimmerpflanzensprache“.
b) Plappern
Was dem einen das Schwelgen und Schwulsten, ist dem andern das Schwätzen und Plappern. Ein kreatives Brainstorming vorausgesetzt, notiert man auch hier einfach mit, was die innere Stimme diktiert, versucht dabei jedoch, jegliches Würzwort sich zu verbeißen, jede Soße und jeden Senf. Der Maxime, „in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt, – was jeder Andre in einem Buche nicht sagt“ (Nietzsche), kommt man freilich auf der sprudelnden Sprachoberfläche kaum näher als in deren blasenbildenden Tiefen. Im Gegenteil, auch hier geht mitunter „verstohlen […] der Mond auf“, die Tinte seiner schreibwütigen Beobachter ist genausowenig „unverdorben“ wie diejenige der blinden Seher in a). Warum trotz allem nicht etwa bloß eine Mitteilung ans liebe Tagebuch herauskommt oder der Wunschzettel für den Weihnachtsmann, kann man der ersten Lektion von „Bernsteins Lyrik-Lehrgang“ entnehmen:
Schere mitbringen!
Nur eine Schere,
um
die Zeilen
in
lauter
kleine
bedeutungsvolle Wörter zu
zerschnibbeln.
Von wegen Denkanstoß.
Nun, eine Schere ist wahrlich leichter zu erwerben als die Fähigkeit, einen zunächst sperrigen Text mühsam in fließende Rhythmen zu überführen, in Musik, die ihre Zäsuren – lies: Zeileneinschnitte – dem Leser als Selbstverständlichkeit offeriert, als generöse Atempausen gewissermaßen, ehe sie den Lesefluß aufs neue in kaskadenhaft sprühende Wortmelodien fortreißt, ja, dann doch lieber die Schere: Und schon schnipselt man sich erfolgreich durch die deutsche Lyrikszene. Wahrlich einfacher wäre es, die wenigen Gedichte aufzulisten, die sich des Versmaßes, wenigstens dunkel, noch erinnerten, vom Reim ganz zu schweigen…
… als ob die Form nicht auch ein Regulativ bieten könnte, den immensen Äußerungsdruck zu kanalisieren,
… als ob die Zerstörung der (alten) Form, wie sie beispielsweise Expressionisten und Dadaisten vornahmen, nicht stets nur Mittel wäre, Mittel zum Zweck der Erschaffung einer (neuen) Form,
… als ob andernfalls, ohne den formalen Filter, der das Persönlich-Beliebige aufs Allgemein-Zwingende reduziert, man nicht von vornherein im Subjektiven stecken bliebe, im Kleinlichen, Unzulänglichen, „Allzumenschlichen“ −
– usw.; doch selbst unter wohlbekannten Namen hat der raffinierte Auerhahn seine Prosa publiziert und bisweilen gar mit allerhand Offenbarungen und Weissagungen zu einer mächtigen Süß- und Sauerspeise versetzt, „beiläufig mit Milch begossen und Mehl bestreut das ganze dann“, Hauptsache, die Zeilen sind
irgendwie abgeschnitten, so daß
der Leser wenigstens
optisch
zur Kenntnis nimmt,
es
handele sich hier
um
freie
Rhyth-
men.
Wenn sie wenigstens einen Rhythmus hätten, die „freien Rhythmen“! Zwar machen sie den Leser sprachlos, jedoch auf entgegengesetzte Weise, als das ein wirkliches Gedicht zu tun vermag. Mitunter reitet selbst Herrn Auerhahn der Schalk, und er verzichtet ostentativ auf die Vorspiegelung falscher Tatsachen: Das heimliche Motto der Schwätzer – „Ich bin faul“ – ins Unheimliche gewendet, und schon läßt sich auch die lästige Zeileneinteilung als veraltet abtun: wir haben es, ja!, mit einem Prosagedicht [Blocksatz] zu tun. Wo aber jeder ein Künstler ist und insbesondere jeder Text ein Gedicht, da ist’s nur konsequent, die unübersehbare Masse an Lyrik in mathematische Planquadrate einzuteilen und durch amtliche Zulassungskennzeichen zu bewältigen: beispielsweise durch die „Nr. 3048“. Dann können wir uns beruhigt zurückziehen hinter die eigne Seriennummer und
„befreit von der Angst [, vom Wesen des Lyrischen
bislang noch nicht einmal den „farbigen Abglanz“
erhascht zu haben],
werfen wir
mit wenigen Wörtern
die wir noch kennen,
uns voraus.“
c) Moraltrompeten
Um die unter Abschnitt a) und b) verlorene Zeit wieder einzuholen, beschränken wir uns hier auf wenige Worte: Der „filz im innenmuff“ der sozialkritischen, gesellschaftsrelevanten, systemverändernden, den einzelnen aber noch nicht einmal berührenden, geschweige bewegenden Literatur nach ’68 ist inzwischen sattsam „geschlurft“; lassen wir den Rest von Politlyrik also achselzuckend zurückgehen: „Man kann ein anständiger. Mensch sein und doch schlechte Verse machen“ (Moliere), oder anders herum gesagt: „Ein Dichter würde sich vergebens mit der moralischen Absicht seines Werkes entschuldigen, wenn sein Gedicht ohne Schönheit wäre“ (Schiller). Übrigens stehen die besten Verse dieser Gattung traditionellerweise gar nicht in Anthologien, sondern auf Toilettenwänden, und dort gehören sie auch hin und bereiten Vergnügen. Manchmal verbirgt sich im lyrischen Gewand sogar große Aphoristik, wie im Pissoir einer Münchner Diskothek:
„Schmekt mir kain Arbait
Ißt mir kain Essen zuvil
Aber immer miede!“
Ja, Herr Auerhahn, da können Sie sich noch eine Scheibe von der Weltwurst abschneiden!
Muß also ein Ende der deutschen Dichtung vermeldet werden, wieder einmal, mit anschließender Wende ins allzeit bereite Englisch bzw. Amerikanisch?
„Wo man nicht mehr lieben kann, da soll man – vorübergehn“ , also lehrt Zarathustra – und neuerdings auch Hans Magnus Enzensberger: Seine „Meldungen vom lyrischen Betrieb“ (FAZ, 14.3.89) leuchten mir nicht zuletzt deshalb so ein, weil sie getragen sind von der Hoffnung auf „ein paar unerhörte Zeilen […], [die] den trostlosen Befund […] widerlegen.“ – Vorübergehen also will das essayistische Ich hier wie dort nur an den abgewirtschafteten Erscheinungsformen des Lyrischen, nicht an der Gattung insgesamt: Hält diese doch nach wie vor Möglichkeiten bereit, die andere literarische Formen nicht bieten, nicht bieten können. Freilich nur „im Prinzip“, als Idee, und so bleibt die Liebe zur Lyrik derzeit eine unglückliche: Man wartet weiterhin auf eine Rehabilitation von Radikalität, Schönheit, Klang, von (meinetwegen auch freier) Rhythmik und Struktur und liest währenddessen die Altvorderen, die ihr Handwerkszeug noch gelernt haben. Z.B. Kommaregeln (auf daß deren fallweise Verletzung wieder Signifikanz erhielte), z.B. Satzbautechnik (auf daß der – vorübergehende – Verzicht darauf wieder…). Einzig auf Wortwahl und Versmaß kommt es an beim Gedicht, „die Inhalte […] hat ja jeder“ (Benn). Und nur durch qualitative Potenzierung eben jener Inhalte wird das Gedicht mehr als die Summe seiner Teile, erhält es den Zauber, der es über Jahrhunderte nicht altern läßt; nur über die Aussparung von Inhalt wahrt es sein Geheimnis.
Weil also „ein Gedicht entweder vortrefflich sein oder gar nicht existieren soll“ (Goethe), so legt das essayistische Ich jetzt dem essayistischen Du die alte olympische Maxime ans Herz: Tiefer, langsamer, kürzer!
Matthias Politycki
Nachbemerkung der Herausgeber: Polityckis Polemik gibt nicht die Meinung der Herausgeber wieder. Wenn wir sie an dieser Stelle abdrucken, dann deshalb, weil sie eine Position formuliert, die in der (eher müden) Diskussion um Fragen der Gegenwartslyrik immer wieder geäußert wird – auch von denen, die uns Gedichte für dieses Jahrbuch geschickt haben. Da Polityckis Einlassungen trotz ihrer fragwürdigen Methode des aus dem Zusammenhang gerissenen Zitats, mit dem bekanntlich alles auf den Kopf gestellt werden kann, grundsätzliche Fragen erneut aufwerfen, möchten wir sie den Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten.
Kann das Jahrbuch „als Institution“ tatsächlich so leicht „Kalk ansetzen“, wenn die exzeptionelle Verfolgung eines einzelnen Künstlers (die nicht schon dadurch an Vergleichbarkeit verliert, daß der Bedrohte ein Prosa-Autor ist und sich gut zu verkaufen weiß) mit einem Schlag deutlich macht, wie sehr unsere literarischen Grundsätze eben darauf angewiesen sind – auf Institutionen, die etwas taugen, auf einen gesellschaftlichen und gesellschaftlich zugestandenen Platz für die Inkommensurabilität von Texten? Vermutlich unterschätzen wir, verstrickt in spezialisierte Konflikte um das Tauziehen zwischen widerborstiger Nischen-Existenz und der kulturellen (politischen, ökonomischen) Vereinnahmung, die Rolle, die wir trotz allem für das öffentliche Klima hierzulande spielen (zumindest spielen sollten, denn die Unterschätzung läuft immer wieder darauf hinaus, sie gar nicht wahrzunehmen). Der radikale Kunstbegriff, unterhalb dessen Gedichte heute nicht zu denken sind, funktioniert nur im Kontext eines sozialen Umfelds, das (noch) sehr große Spannungen aushält (nicht freiwillig, denn die Übung darin erwächst gerade aus den großen Entfremdungs- und Vereinzelungsprozessen, die auch den Stoff der künstlerischen Radikalität ausmachen und irgendwann, so absehbar wie unweigerlich, umschlagen werden). Unruhiger denn je frage ich mich, ob dieser radikale Anspruch uns in Zukunft nicht mehr abverlangen könnte als bisher – ob nicht die formale Qualität eines literarischen Ansatzes (die zum Beispiel etwas mit Mehrdeutigkeit zu tun hat, mit einem Verständnis für wechselseitige Reize und Aufhebungen, für Gebundenheit in bestimmten Konstellationen und ihre notwendige Auflösung in anderen) die substantielle Verschränkung jeder Kunst in die Gesellschaft nicht nur repräsentieren, sondern auf diesem Wege auch das Handeln in ihr neu definieren müßte. Nicht, weil sich mit der Arbeitsteilung zwischen ästhetischem Ausdruck und sozialem Prozeß nicht wunderbar leben ließe. Aber sie wird nicht mehr lange Bestand haben.
Sagt sie, die Dichterin, und tut doch, was sie immer tut: pflügt das Feld wissenschaftlicher Detailarbeiten zu einem uferlosen Thema (was zumindest als Metapher schon bedenklich stimmen müßte…) und schreibt, in den Lücken dieser Anstrengung, Texte, die doch nur wieder beschreiben, was anders nicht einzulösen scheint −.
Brigitte Oleschinski
1. Ein kurzes Wort noch
1 Wer zu einem Lyrikjahrbuch einlädt oder gar öffentlich dazu aufruft, muß wissen, daß er es mit mehreren hundert Autoren zu tun bekommt, die zwischen zwei und vierundfünfzig Gedichte schicken. Diese meist begleitet von bittenden, wünschenden, hoffenden Briefen – und dann und wann ein kleines poetologisches Statement aus Dresden-Süd oder Lüneburg. Der Manuskriptberg 1989 war einhundertundvier Zentimeter hoch (bitte Zollstock nehmen und an einer freien Wandfläche nachmessen!).
2 Alle Gedichte wollen gelesen werden. Viele kullern sofort aus der Hand, freiwillig suchen sie das Weite. Andere wehren sich bis zum Schluß, sie sehen dich an, als seist du ein Killer. Namen tauchen auf und wieder ab, schöne Autorinnen darunter, liebenswerte Autoren. Viele sind dir persönlich bekannt, einige freundschaftlich verbunden. Weggefährten. Du denkst, hätten sie nicht bessere Gedichte schicken können? Sie können es doch, oft genug haben sie es uns allen gezeigt.
3 Es ist Sonntagabend. Ein Autor aus Kaiserslautern greift telefonisch in dein Privatleben ein. Er fragt, ob er aufgenommen sei, ob es diesmal (diesmal!) geklappt habe, gerade in diesem Jahr sei es wichtig für ihn, runder Geburtstag, Krankheit etc. Ich denke Kaiserslautern. Fußball fällt dir ein. Amikasernen.
4 Lesen und lesen. Ein zweites Mal lesen und lesen. Dein Kopf ein Ballon zum Reinstechen. Rauchen. Später Alkohol. Werbespots mischen sich ein. Die besseren Reime kommen aus der Schlagerindustrie. Die Dinosaurier werden immer trauriger. In Husum geht der Blues um. Kein Huhn kann da mithalten. Sollte man mal sammeln. Und lernen: der Reim ist nur noch paraphrasierbar.
5 Alles vergessen, was ein Gedicht sein könnte. Stimmungsgebilde gegen Asbest. Doch wohl nicht. Wolle aus dem Norden. Schnaps von der Spree. Konfitüren aus Wien. Und doch hat es sich gefügt. Im Glashaus sitzend hast du Steine gesammelt. Die Plätze zwischen den Stühlen sind besetzt. Ich werfe nicht.
Rolf Haufs
2. Editorische Anmerkung
Wer das Luchterhand Jahrbuch der Lyrik über die Jahre verfolgt, wird feststellen, daß sich die großen Kapiteleinteilungen von Band zu Band ändern – das Konzept eines Jahrbuchs ist auch die Reaktion auf die Manuskripteinsendungen eines Jahres. Das Kapitel „Einzelausstellung“ z.B. läßt sich nur fortsetzen, wenn unter den Manuskripten von neuen Autorinnen und Autoren wenigstens drei oder vier sind, die es rechtfertigen, an herausgehobener Stelle mit jeweils mehreren Gedichten vorgestellt zu werden.
In diesem Jahr bekamen wir – im Vergleich zu den Vorjahren – ungewöhnlich viele Manuskripte von ,neuen Namen‘; das vorliegende Jahrbuch verzeichnet dreizehn Namen mit ersten Veröffentlichungen. Von einer „Einzelausstellung“ mußten wir deshalb absehen, das Kapitel wäre zu umfangreich und zudem überproportioniert geworden, auch hatten wir angesichts der unterschiedlichen Manuskriptumfänge zu ungleiche Auswahlmöglichkeiten. Auch ein Kapitel „Vernissage“, in dem die neuen Autorinnen und Autoren (wie in einigen vorangegangenen Jahrbüchern) in einer Art Gemeinschaftsausstellung gesondert vorgestellt wurden, schien uns angesichts der Unterschiede der ästhetischen Konzepte unangemessen: es gibt in diesen Gedichten kein gemeinsames Vielfaches, keinen Ton, in dem sich eine Generation in ihrer Auffassung von Gegenwart und Welt von den Altvorderen absetzt. Sie knüpft vielmehr ästhetisch bewußt und handwerklich sicher an das an, was die siebziger und achtziger Jahre als Tradition zur Verfügung gestellt haben. Deshalb erschien es uns sinnvoll, die neuen Namen in das Kontinuum der „Auswahl 1989“ zu integrieren – vielleicht um den Preis, dieses Fortschreiben der Tradition im Jahrbuch auf den ersten Blick sichtbar zu machen.
Vom 22. bis 25. Mai 1989 trafen sich in Freiburg 26 Autorinnen und Autoren – Erzähler, Lyriker, Kritiker und Essayisten – aus Israel, der DDR und der Bundesrepublik. Das Thema des Treffens, es war das erste dieser Art und auf Initiative Christoph Meckels zustandegekommen, lautete: Schriftsteller als Bürger und Kritiker ihres Staates. Absicht des Treffens war, „die hebräische Literatur bekannter zu machen, erreichbarer oder zugänglicher in den deutschsprachigen Ländern wie auch die deutsche Literatur in Israel“. Die Resonanz seitens der Öffentlichkeit und der beteiligten Autorinnen und Autoren war beeindruckend und im besten Sinne „ein Zeichen“ (Meckel). Das aus Anlaß des Treffens von Christoph Meckel und Efrat Gal-Ed beim Kulturamt der Stadt Freiburg herausgegebene deutsch-israelische Lesebuch 4 Tage im Mai (Waldkircher Verlag, Freiburg 1989) versammelt ausgewählte Texte der eingeladenen israelischen und deutschen Teilnehmer; wir haben dem Lesebuch die im Kapitel „Blick zum Nachbarn: Israel“ abgedruckten Gedichte entnommen, weil wir – nach dem Freiburger Treffen erst recht – meinen, daß unsere Vorstellung von der Poesie der Welt ohne die Kenntnis hebräischer Lyrik provinziell und arm wäre. Den Autoren, Übersetzern und Herausgebern danken wir für die freundliche Abdruckgenehmigung. Das nächste Kapitel „Blick zum Nachbarn“ wird der Gegenwartslyrik der Volksrepublik China gewidmet sein.
Christoph Buchwald
Nach Hans Magnus Enzensberger (FAZ vom 14.3.89) liegt die durchschnittliche Leserzahl eines Gedichtbandes bei ± 1354. Setzen wir voraus, daß die Berechnung von Leser gleich Käufer ausgeht, und schlagen wir einen Anthologie-Bonus von etwa 50 Lesern zu, so kommen wir auf 1404 Exemplare. Da die Durchschnittsauflage der tatsächlich verkauften Exemplare des Luchterhand Jahrbuch der Lyrik gut dreimal so hoch ist, bleiben drei Schlüsse:
− Das Jahrbuch der Lyrik ist atypisch, weil es nicht den „Durchschnitt“ versammelt, sondern die den Herausgebern erreichbaren besten Gedichte eines Jahres.
− Enzensberger hat in seinem Bericht über den „lyrischen Betrieb“ in polemischer Absicht die Autorinnen und Autoren „vergessen“, die das Gedicht daran messen, was es dem Leser hinter den Wörtern an Erkenntnislust vermitteln kann.
− Das Jahrbuch der Lyrik interessiert einen sehr viel größeren Leserkreis, weil es als jährlich „anwachsendes“ Lesebuch umfassend informiert, zu Vergleichen einlädt, Entwicklungen sichtbar macht und Stimmungen im Lande.
Das sechste Luchterhand Jahrbuch der Lyrik enthält:
− fünf Gedichte von Albert Vigoleis Thelen (1903-1989), dem dieses Jahrbuch gewidmet ist
− eine Auswahl von gut hundert unveröffentlichten Gedichten
− ein Kapitel „Blick zum Nachbarn“, in dem acht israelische Lyrikerinnen und Lyriker vorgestellt werden
− und eine Polemik, einen Brief, sowie zwei Anmerkungen der Herausgeber.
Luchterhand Literaturverlag, Klappentext, 1989
Christoph Buchwald: Selbstgespräch, spät nachts. Über Gedichte, Lyrikjahrbuch, Grappa
Das Jahrbuch der Lyrik im 25. Jahr
Jahrbuch der Lyrik-Register aller Bände, Autoren und Gedichte 1979–2009
Jürgen Becker, Günter Grass, Walter Höllerer, Michael Krüger, Günter Kunert, Peter Rühmkorf, Hans Joachim Schädlich: Rolf Haufs zum Sechzigsten
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 137, März 1996
Michael Braun: „Der Planet friert. Still!“
Badische Zeitung, 30.12.2005.
Auch in: Neue Zürcher Zeitung, 31.12.2005/1.1.2006
Martin Lüdke: Immer größer werdende Entfernung
Frankfurter Rundschau, 31.12.2005
Nico Bleutge: Vertikale Poesie
Süddeutsche Zeitung, 31.12.2005/1.1.2006
Richard Pietraß: Im Glashaus
Der Tagesspiegel, 31.12.2005/1.1.2006
Martin Lüdke: Nebel kommt auf Katzenfüßen
Frankfurter Rundschau, 30.12.2010
Schreibe einen Kommentar