Ernesto Cardenal: In der Nacht leuchten die Wörter

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ernesto Cardenal: In der Nacht leuchten die Wörter

Cardenal-In der Nacht leuchten die Wörter

HIER WANDERTE ER DURCH DIE STRASSEN,
ZU FUSS, OHNE ARBEIT UND AMT,
und ohne einen Peso.
Nur Dichter, Nutten und Zuhälter kannten seine
aaaaaGedichte
Nie war er im Ausland.
Er war im Gefängnis.
Jetzt ist er tot.
Er hat kein Denkmal.

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDoch
denkt an ihn, wenn ihr Zementbrücken habt,
wenn ihr Riesenturbinen, Traktoren, versilberte
aaaaaScheunen
und gute Regierungen haben werdet.
Denn er hat in seinen Gedichten die Sprache des Volkes
aaaaagereinigt,
in der man eines Tages die Handelsabkommen schreiben
aaaaawird,
die Verfassung, die Liebesbriefe und die Dekrete.

 

 

 

Revolution ist Liebe

– Interview mit Ernesto Cardenal. –

Die Behörden der Somoza-Diktatur haben Ernesto Cardenal beschuldigt, geistiger Urheber der jüngsten revolutionären Unruhen in Nikaragua zu sein. Er selber verwahrt sich dagegen. Allerdings bekennt er klar und offen, daß er nicht abseits steht im Kampf seines Volkes. Wenn man davon spricht, daß dieser weißbärtige zweiundfünfzigjährige Mönch ein Sandino-Gewehr in die Hand genommen hat, so bedeutet das noch lange nicht, daß er damit auch schießen wird, und nicht etwa, weil ihm der Mut dazu fehlt. Cardenal ist einer der Wortführer der nikaraguanischen Revolution. Und das ist eine Form, zum Gewehr zu greifen.
Vor zwölf Jahren kam der Priester Ernesto Cardenal auf den im Großen See von Nikaragua gelegenen Archipel von Solentiname. Hier gründete er eine Kommune von Gläubigen, die Sonntag für Sonntag das Evangelium lasen. In einer Werkstatt beschäftigten sie sich mit Kunsthandwerk, Malerei, Bildhauerei und Weberei.
Zu dem Gespräch mit dem Dichter Cardenal kommt es an Bord einer Maschine der Luftstreitkräfte Panamas.
Vor uns liegt dasselbe Ziel: eine Begegnung mit General Omar Torrijos. Der Priester erinnert sich daran, daß er vor fünf Jahren vergebens in Solentiname auf uns gewartet hat, er habe von den Schwierigkeiten gehört, die uns die Behörden Nikaraguas in den Weg gelegt und es uns unmöglich gemacht hatten, zu ihm zu kommen. Wir erwidern, daß es nie zu spät sei. Er lächelt. Die Unterhaltung geht weiter.
„Die Sandinistische Befreiungsfront“, erzählt er uns, „hat in Nikaragua einen großen Anhang. Unterstützung erfährt sie von den Bauern, den Arbeitern und auch von Angehörigen gehobenerer Schichten. Söhne von Bankiers, von Großunternehmern und sogar von Militärs nehmen an dem Kampf teil. Vor kurzem“, sagt er, „wurde ein von zwölf bekannten Persönlichkeiten – unter ihnen zwei Priester – unterzeichnetes Dokument veröffentlicht. Die dringende Forderung darin, mit Somoza und seiner Clique Schluß zu machen, fand breiten Widerhall.“
Das kleine Flugzeug schwankt. Wir fliegen durch eine Wolkenbank. Cardenal spricht weiter.
„In letzter Zeit wurden mehrere Anschläge auf die Diktatur verübt. Zunächst der Überfall auf die Kaserne von San Carlos; etliche Jugendliche waren daran beteiligt, Jungen und Mädchen, die zu meiner Kommune gehören.“
„Die Regierung Nikaraguas beschuldigt Sie, geistiger Führer des Anschlags zu sein“, werfen wir ein.
„Ja, ich weiß. Aber die Jugendlichen, die an der Aktion teilnahmen, setzten sich mit großem Mut und aus persönlicher Überzeugung ein; sie brauchten keinerlei ideellen Anstoß.“
Er streicht über seinen weißen Bart, rückt sich die Brille zurecht und sagt dann:

Ich stehe nicht abseits im Kampf meines Volkes. Ich stehe mittendrin. Das ist meine Pflicht als Dichter und auch meine Pflicht als Priester. Ich habe erfahren, daß sie mein Haus in Solentiname durchsucht, meine Bibliothek durchwühlt haben. Den Journalisten zeigten sie Bücher, die sie als gefährlich und umstürzlerisch bezeichneten. Darunter Das Bildungswesen in Kuba. Desgleichen Plakate von Allende, Fidel und Che.

Kommentar.

Vor zwölf Jahren bin ich nach Solentiname gegangen. Ich war auf der Suche nach einem kontemplativen Leben, das ganz dem Gebet, der Einsamkeit, der Stille, der Meditation geweiht ist. Die Kontemplation führte uns zur Revolution. Sonst wäre es keine echte Kontemplation gewesen.

Zustimmung.

„Zu unserer Radikalisierung trug ganz wesentlich der direkte Kontakt mit der kubanischen Revolution bei. Meine Erfahrung in Kuba war entscheidend für mich. Meine erste Reise dorthin, 1970, veränderte mein Leben völlig. Es war wie eine zweite Bekehrung. Die erste war die religiöse, eine Bekehrung zu Gott, diese zweite eine Bekehrung zur Revolution. Von da an“, betont er, „schlugen alle Mitglieder meiner Kommune sowie die mutigsten und bewußtesten Bauern den gleichen Weg ein. Zu diesem Zeitpunkt kam unter den Priestern, Mönchen, Theologen, praktizierenden Christen eine Theorie auf, die sogenannte ,Theologie der Befreiung‘. Es ist ein Christentum, in dem Evangelium und Revolution identisch sind. Bereits Fidel sagte von Anfang an, der wirkliche Christ müsse Revolutionär sein.“

Geste.

Wir Christen sind heute vielfach der Überzeugung, daß der Christ nicht nur Marxist sein kann; vielmehr muß er, ist er wirklicher Christ, auch Marxist sein. Die Betonung liegt auf muß.

Einige Minuten herrscht Schweigen, dann geht er unvermittelt zum Thema Kuba über.
„Meiner Meinung nach“, unterstreicht er, „wurde in Kuba eine Gesellschaft geschaffen, in der das Evangelium auf sozialer Ebene Praxis geworden ist. Wie schon Camilo Torres sagte, ,die Revolution ist tätige Nächstenliebe‘. Sie bedeutet, den Hungrigen laben, den Nackten kleiden, den Unwissenden lehren. Und all das durch ein sozial und ökonomisch neues System. Kuba“, so hebt er hervor, „gilt allen Völkern Lateinamerikas als Vorbild. Alle unsere Revolutionen wollen das, was Kuba schon hat. In Kuba ist man bemüht, den Egoismus der Menschen mit der Wurzel auszureißen. Natürlich kann das nicht in wenigen Jahren gelingen, aber es ist das angestrebte Ziel. Und einmal wird es erreicht sein. Einmal wird sich die vollkommene menschliche Gesellschaft herausgebildet haben. Das, was die Christen als ,das Reich Gottes auf Erden‘ bezeichnen oder als vollendeten Kommunismus, wie ich es in einem Gedicht ausdrücke.“
Wir müssen uns die Gurte anlegen. Cardenal macht seine Zigarre aus und erzählt dann von Fidel.

Bei meinem ersten Besuch sprach ich während der Fahrt durch die Straßen Havannas in seinem Auto vier Stunden mit Fidel. Als ich ihn auf diese Weise persönlich kennenlernte, überraschte mich seine sanfte Stimme. Wer ihn nur auf den Plätzen gehört hat, ahnt nicht, daß er eine so sanfte Stimme hat. Und dann seine Schlichtheit, seine Intelligenz, das große Interesse, das er für erstaunlich viele Dinge hat. Am meisten jedoch beeindruckte mich seine Genialität; in der Regel ist jemand genial auf einem einzigen Gebiet, Fidel aber auf vielen. Männer wie ihn bringt das Leben nur selten hervor.

Das Flugzeug landet. Wir setzen die Fahrt gemeinsam im Auto fort. Das Gespräch geht weiter.

Im Januar werde ich wieder in Kuba sein. Ich bin eingeladen worden, bei der Preisverleihung der Casa de las Americas in der Jury mitzuarbeiten. Der Preis der Casa de las Americas ist, so meinen alle maßgeblichen Schriftsteller und Intellektuellen, der einzige Preis, der in Lateinamerika Gewicht hat.

Wir fragen ihn nach seinen Plänen.
„Im Moment bleibe ich im Exil“, erklärt er uns. „Es wird, so glauben wir, kein ewiges Exil sein, denn Somoza wird sich nicht mehr lange halten. Auf jeden Fall hat man mir das Leben in Solentiname unmöglich gemacht. Ich habe so gut wie nichts Gedrucktes bekommen, auch keine Briefe. Außerdem sind meine Bücher in Nikaragua verboten. Es ist schmerzlich für einen Schriftsteller, wenn ihn sein Volk nicht lesen kann. Zumal er weiß, daß es Menschen gibt, die ihn lesen wollen. Auf den Straßen von Managua bin ich Leuten begegnet, unter ihnen auch Militärs, die mich gefragt haben, wo sie meine Bücher auftreiben könnten. Das Buch, das am strengsten verfolgt wird, ist In Kuba, ich habe es nach meines ersten Besuch auf der Insel geschrieben.“
Das Auto bremst plötzlich. Ein Tier steht im Weg. Cardenal setzt seine Brille, die ihm heruntergefallen war, wieder auf. Wir fahren weiter, und der Priester setzt das Gespräch fort.

Das Buch ist in ganz Lateinamerika gelesen worden und hat es vermocht, Vorurteile abzubauen und viele Menschen dazu zu bewegen, sich auf die Seite der kubanischen Revolution zu stellen. Es ist nicht für die Kubaner geschrieben, sie haben die Revolution gemacht und brauchen niemanden, der ihnen darüber erzählt. Außerdem enthält das Buch zwangsläufig Irrtümer. Ich habe es innerhalb kurzer Zeit geschrieben, nach dem, was ich gehört und kennengelernt hatte, und natürlich haben sich Fehler eingeschlichen, aber es war besser, daß es mit ihnen erschien als gar nicht. Es ist unparteiisch geschrieben. Heute würde ich ein anderes schreiben. Ich bin nicht mehr unparteiisch.

Das Auto hält. Bevor wir aussteigen, verkündet der Priester, Dichter und Revolutionär Ernesto Cardenal:

Künftig schreibe ich nur revolutionäre Gedichte, besser gesagt, Gedichte, die die Revolution zum Thema haben. Nur das interessiert mich. Ich bin von der Revolution besessen. Die Revolution packt einen wie die Liebe. Die Revolution ist wie die Liebe. Wenn sich ihr jemand ergeben hat, ergreift sie von ihm immer stärker Besitz. Besser gesagt, die Revolution ist die Liebe.

(Das Interview führte Luis Baez, Sonderkorrespondent, für die kubanische Zeitschrift Bohemia, Nr. 46, November 1977.), Nachwort

 

Den Menschen ein Bruder

Ernesto Cardenal ist zur Zeit wahrscheinlich einer der bekanntesten und bedeutendsten Lyriker Lateinamerikas. Doch er ist nicht nur Dichter. Er ist Priester und Revolutionär, und jetzt ist er der Kulturminister der jungen nikaraguanischen Regierung. Jede seiner Berufungen diente und dient nur dem Hauptzweck, der Befreiung, der Menschen von Unterdrückung, der Linderung menschlichen Elends.
Nach dem Sieg der nikaraguanischen Revolution — Cardenal war einer ihrer Wortführer — ist es für ihn selbstverständliche Pflicht, am Aufbau und an der Festigung des jungen Staates mitzuwirken: als Dichter, als Priester, als Revolutionär. Kuba war und ist für ihn immer das Beispiel, das Ziel menschenwürdiger Gesellschaft in Südamerika.

Meiner Meinung nach wurde in Kuba eine Gesellschaft geschaffen, in der das Evangelium auf sozialer Ebene Praxis geworden ist. Wie schon Camilo Torres sagte, „Revolution ist tätige Nächstenliebe“. Sie bedeutet den Hungrigen laben, den Nackten kleiden, den Unwissenden lehren. Und all das durch ein sozial und ökonomisch neues System.

Dies sagte Cardenal in einem Interview, das er 1977 der kubanischen Zeitschrift Bohemia gewährte. Und an gleicher Stelle:

Einmal wird sich die vollkommene Gesellschaft herausgebildet haben. Das, was die Christen als ,das Reich Gottes auf Erden‘ bezeichnen oder als vollendeten Kommunismus, wie ich es in einem Gedicht ausdrücke.

Der Aufbau-Verlag legte nun nach dem im Verlag Neues Leben erschienenen Poesiealbum den DDR-Lesern eine erste größere Auswahl des lyrischen Werkes Cardenals aus den Jahren 1946—1970 vor.
Seine Gedichte sind Anklage, Anteilnahme, aber auch immer schon eine Siegesgewißheit, ein Glaube an die Zukunft des Menschen auf Erden, die Gewißheit der Befreiung des Menschen durch den Menschen. Cardenal ist einer der Hauptvertreter der „Theologie der Befreiung“, einer südamerikanischen Bewegung, die von breiten Kreisen der katholischen Geistlichkeit Südamerikas getragen wird. „Es ist ein Christentum, in dem Evangelium und Revolution identisch sind.“ (Ernesto Cardenal)
Das Spektrum des lyrischen Schaffens Cardenals reicht von der bissigen politischen Satire („Somoza enthüllt Somozas Denkmal im Somozastadion“) über Landschafts-, Natur- und Liebeslyrik bis hin zur historischen Schilderung revolutionärer Traditionen („Es gab einen Nikaraguaner im Ausland“). Beeindruckend ist, wie genau Ernesto Cardenal historische Tatbestände ins lyrische Bild umsetzt, ohne dabei an Kunsthaftigkeit zu verlieren.
Die meisten seiner Gedichte sind erzählenden Charakters, Geschichten und Geschichte werden erzählt, trotzdem sind es nie lyrische Berichte, sondern die konkreten Vorgänge streben stets zur poetischen Verallgemeinerung.
Den stärksten Eindruck machten auf mich die Gedichte „Für die Indianer Amerikas“. Cardenal verknüpft das Leben der heutigen Indianer mit den indianischen Mythen vergangener Zeit. Er untersucht den indianischen Mythos auf seine heutige Brauchbarkeit, vergleicht ihn mit dem christlichen Glauben.
Auch in diesen Gedichten stellt er das Leben der Indianer im großen historischen Bogen dar, beginnend in der Zeit, in der die Indianer noch friedlich für sich lebten, über die Zeit der grausamen Vernichtung der Indianer bis in die Gegenwart, in der die Vernichtung, subtiler zwar, immer noch andauert, ja er greift vor bis in eine Zukunft, in der die Indianer wieder friedlich leben werden, neben allen Menschen, eine Zukunft, die vielleicht in Nikaragua gerade begonnen hat.

Und danach der Traum von einem noch größeren
Abenteuer
die Versammlung um ein Feuer
aller Nationen der Erde
der Nationen ,aus allen Wäldern der Erde‘
Ein Biber auf dem Teller. Ohne Messer
damit sich niemand verletze
damit kein Blut fließe.

Diese Zeilen aus dem Gedicht „Kayanerenhkowa“ sprechen für sich.
Sie weisen Cardenal als einen Agitator im besten Sinne des Wortes aus, als einen Agitator für die Menschlichkeit.
Natürlich sind auch schwächere Gedichte im Band enthalten. Etwa die drei Gedichte „An Claudia“; auf sie hätten die Herausgeber durchaus verzichten können zugunsten neuerer Texte. Denn leider endet dieser Querschnitt durch das lyrische Gesamtwerk Ernesto Cardenals bereits mit den Gedichten, die 1970 erschienen.
Am Schluß des schon erwähnten Interviews, das dankenswerterweise im Anhang des Bandes abgedruckt ist, sagt Cardenal:

Künftig schreibe ich nur revolutionäre Gedichte, besser gesagt, Gedichte, die die Revolution zum Thema haben. Nur das interessiert mich. Ich bin von der Revolution besessen. Die Revolution packt einen wie die Liebe. Die Revolution ist wie die Liebe. Wenn sich ihr jemand ergeben hat, ergreift sie von ihm immer stärker Besitz. Besser gesagt, die Revolution ist Liebe.

Es sollten nicht Jahre vergehen, bis diese Gedichte auch dem Leser der DDR zugänglich gemacht werden, und dabei sollten dann wenigstens einige Gedichte auch im spanischen Original abgedruckt werden, wie es ja glücklicherweise bei der Edition fremdsprachiger Lyrik schon üblich geworden ist.

Reinhard Kraetzer, Neue Zeit, 2.6.1980

Dichtung als Lobgesang –

die kosmischen Lieder Ernesto Cardenals

Ernesto Cardenal hat sich, auch wenn es ihn viel Zeit und Kraft kostete, nie ganz von seinem Ministeramt aufsaugen lassen. Er hat sich weiter seinen Holzschnitzereien gewidmet, die auf nicaraguanischen Ausstellungen zu sehen sind, und vor allem seinem Werk Cantico cosmico – Kosmischer Gesang. Es erscheint 1989 in einem mexikanischen Verlag und ist zweifellos sein größtes. In ihm sind die Themen aller vorhergehenden Werke vereint, es enthält auf fast sechshundert Seiten an die 18.000 Verse.
Als Dichter malt Ernesto das Bild des unendlichen Sternenhimmels. Als Astronom und Naturwissenschaftler versucht er die Ausdehnung des Weltalls und dessen Gestalt in Zahlen und Formeln zu fassen und stützt sich dabei auf die Theorien Albert Einsteins und anderer Forscher. Als Mystiker denkt er über den letzten Grund der Gesetzmäßigkeit der Welt im Großen wie im Kleinen nach und findet ihn in der Liebe Gottes.
In immer neuen Worten und Klängen umschreibt Cardenal die Entstehung der Welt. Er stellt die alten Mythen und Religionen der Urvölker vor und zeigt, wie ähnlich sie die Schaffung der Welt aus Dunkelheit, Chaos und Nichts beschreiben. Er spricht über die Verwandlung von Energie in Materie, über den „Urknall“, aus dem die große Bewegung der versplitterten Teile im unendlichen Kosmos entstanden ist, und das Gesetz von Teilung, Anziehung und Vereinigung, aus der neues Leben erwächst.
Liebe, Evolution, Schönheit – seit seiner Kindheit in Granada bestimmen diese Ideen Erleben, Denken und Dichten Cardenals. Erstmals im Kloster von Gethsemani, wo er das Buch von der Liebe schreibt, werden sie mystisch begriffen, und sie durchziehen alle seine Werke bis zu diesem bislang letzten, das einzigartig in Lateinamerika ist und an große Werke anknüpft wie den Sonnengesang des Franziskus, die Weltbeschreibung De natura rerum des Lukrez, die große Darstellung von Erde, Himmel und Hölle in Dantes Göttlicher Komödie, die Darstellung der Entstehung der Welt und der Entwicklung Lateinamerikas in Pablo Nerudas Großem Gesang oder die philosophisch-theologischen Naturbetrachtungen Teilhard de Chardins über das Gesetz der Evolution.
Aber Ernesto Cardenal vergißt über den kosmologischen Betrachtungen nicht den Alltag der Menschen. Von Beginn an war er Chronist des Zeitgeschehens, und er ist es auch in diesem Werk. Sein Blick richtet sich natürlich auf die Geschichte Nicaraguas, aber auch weit darüber hinaus. Der Kosmos, so sagt er, ist ein Körper, und die Erde ist eine Erde. Und so sehr er die Schönheit der Welt besingt, so wenig verschließt er die Augen vor den Leiden und Verbrechen, die die Menschen sich und der Natur zufügen. Als Chronist erinnert er an vieles, das die Menschen nur zu schnell vergessen und verdrängen.
So beschreibt er einen Besuch, den er in den siebziger Jahren in Nürnberg gemacht hat. Er steht auf der Empore, von der herab Hitler seine Reden gehalten hat, und blickt auf den riesigen, leeren Platz des Parteitagsgeländes. Er erinnert an die großen Aufmärsche, an die Masseninszenierungen mit Bannern, Uniformen, Fackeln, Chören, Lichtspielen, die Reden voller Antisemitismus und Kriegsverherrlichung, die Massenhysterie. Er erinnert an Auschwitz. Er erinnert an die Rolle der Kunst in diesem Gewaltsystem, an die Musik Wagners.
Ernesto Cardenal erinnert auch an die Atombomben von Hiroshima, von denen in Japan und den USA kaum mehr gesprochen wird. Ist es nicht eine Pflicht, sich daran zu erinnern, wo doch nur zu offensichtlich eine noch viel größere, globale Atomkatastrophe denkbar ist? Und die Gefahr wächst, wenn die Menschen die Augen vor ihr verschließen.
Natürlich erinnert er auch an die Geschichte Nicaraguas, die große Zahl von Opfern des Somoza-Regimes, die Tausende von Toten des Contra-Krieges, an dem die USA die Mitschuld tragen. Was ist, so fragt er, die entscheidende Triebkraft für den nordamerikanischen Imperialismus, der ja doch so gänzlich den christlichen Prinzipien von Liebe, Gerechtigkeit und menschlicher Solidarität entgegensteht? Im Kern sieht er sie in der Gier nach Geld und Reichtum, für deren Befriedigung alle Mittel recht sind.

Der wahre Atheismus, die wahrhafte Verneinung Gottes, das sind für mich die Gesellschaften Esso und Standard Oil oder die Down Company, die ihr Geld mit Napalmbomben verdient. Das ist die Gottesverleugnung.

Wichtig ist für Cardenal nicht, ob sich einer Christ nennt, sondern ob einer wie ein Christ handelt. Den Präsidenten Reagan, der häufig in Gottesdiensten zu sehen war, stellt er in eine Reihe mit Hitler und Stalin. Nicht als ob sie aus gleichen Motiven Verbrechen begangen hätten, vielmehr vereint sie der „Erfolg“ ihres Tuns: millionenfacher Mord.
Cardenal bleibt nicht bei einer radikalen Kritik stehen, sondern denkt über Möglichkeiten einer anderen Politik nach. Immer wieder führt er Beispiele von Menschen an, die sich den Gewaltsystemen verweigert haben, Widerstand geleistet, gekämpft haben, ins Exil gegangen sind und im Extremfall ihr Leben geopfert haben. Mit großer Anteilnahme erinnert er sich an die drei jungen Bauern aus Solentiname, die gefallen sind und ihm noch immer so nahe stehen: Laureano, Donald und Elbis. Er erinnert an ihren Weg aus der Unwissenheit zum Lesen und Schreiben, an ihre Gespräche über das Evangelium, an die Konsequenzen, die sie aus dem christlichen Gebot der Liebe für den Befreiungskampf gezogen haben. Ihr Tod ist ein Opfertod gewesen, und so nennt Cardenal sie in christlicher Tradition Märtyrer und Heilige. Sie sind Vorbilder und leben, wie Cardenal schon in der „Stunde Null“ beschrieben hat, in der Nachwelt fort. Cardenals Werk strahlt einen großen Optimismus aus. Die Opfer waren nicht vergeblich, die Geschichte Nicaraguas ist ein Weg zu Freiheit und Gerechtigkeit und ein Beispiel für andere Länder; und all dies ereignet sich in einer Welt, die ihren Sinn erhält durch Gottes Liebe und das Gesetz der Evolution.
Haltungen und Äußerungen wie diese sind typisch für die Theologie der Befreiung in Lateinamerika. Daß so häufig von Opfer und Tod gesprochen wird, liegt daran, daß die, die sich für ein menschenwürdiges Leben der Armen und Unterdrückten einsetzen, oft ihr Leben riskieren. Der Bischof Romero aus El Salvador, der 1980 während einer Meßfeier von Soldaten erschossen wurde, und an den auch Ernesto in seinem „Kosmischen Gesang“ erinnert, ist einer der bekanntesten „Märtyrer“ der letzten Jahre. Er steht stellvertretend für die Millionen in aller Welt, die zu überleben und das christliche Gebot der Nächstenliebe zu erfüllen versuchen und die mutig gegen die aufbegehren, die dies verhindern – in ihren Ländern und in den reichen Metropolen der Welt. Sie werden, wie Ernesto persönlich erfahren hat, oft nur zu schnell als „Kommunisten“, „Extremisten“ oder „Terroristen“ abgestempelt und von den politischen und ökonomischen Machthabern verfolgt. Als Mitglieder der Kirche der Armen stehen sie oft genug auch im Kreuzfeuer der Kritik von Machtinhabern der Kirche der Reichen.
Wenn Ernesto Cardenal gefragt wird, was wir Menschen hier in Europa, in Deutschland tun können, um zu helfen, begrüßt er natürlich die Unterstützung von Befreiungsbewegungen oder von christlichen Basisgemeinden in der Dritten Welt.
Er wirbt auch für praktische Projekte in Nicaragua, z.B. für die Unterstützung von Schulen und Kulturzentren. Er stellt aber auch klar, daß es vor allem notwendig ist, hier praktisches Christentum zu leben, hier eine Kirche von unten zu stützen und hier die Verhältnisse zu ändern. Denn der Kern des Übels liegt nicht in Nicaragua, nicht in Lateinamerika, sondern in den reichen Metropolen, die eine humane und soziale Entwicklung verhindern. Also bei uns.
Die Haltung Ernesto Cardenals ist geprägt von Gottvertrauen. Und zugleich von einem tiefen Vertrauen in die Liebe und Kraft der Menschen. Das macht seinen Optimismus aus, der auch ausstrahlt auf viele Gesprächspartner hierzulande. Da ist er mit einem Mal nicht mehr der Bittende, sondern der Gebende. Und die, die helfen wollen (mit Geld), erfahren Hilfe (an innerer Kraft). Die Bezeichnung „Dritte Welt“ und „Erste Welt“ werden schnell fragwürdig. Es gibt nur die Eine Welt.
Im „Kosmischen Gesang“ beschreibt Ernesto Cardenal einen Gottesdienst in Düsseldorf mit 2.000 jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Einer betet:

Herr, gib, daß in Nicaragua alles wirklich wird, was sie dort träumen.

Und ein anderer betet:

Herr, gib, daß es in der Welt viele Nicaraguas gibt.

Die christliche Gemeinschaft von Solentiname gibt es nicht mehr. Aber die Idee und der Traum von Solentiname existieren noch für Nicaragua und die Eine Welt. Daß sie Wirklichkeit werden, daran zweifelt Ernesto Cardenal nicht. Seine Dichtung ist nicht Klage, sie ist Lobgesang. Und dieser Gesang, so sagt er im Cantico cosmico, hat kein Ende.1

Helmut Koch, aus Helmut Koch: Ernesto Cardenal. Leben und Werk in Texten und Bildern, Signal-Verlag, 1990

 

 

Klaus Ther: Ernesto Cardenal: Unbeugsamer Dichter, Priester, Revolutionär

Klaus Ther im Gespräch mit Ernesto Cardenal: „Jesus Christus war nicht religiös!“

 

Heiner Müller über Ernesto Cardenal in Berlin 1995.

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Birte Männel: Aus Liebe zu seinem Volk wurde er Revolutionär
Neues Deutschland, 19.1.1985

Zum 70. Geburtstag des Autors:

„Uns bleibt die Hoffnung“
Berliner Zeitung, 27.1.1995

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Klaus Ther: Biographie von Ernesto Cardenal: Einer, der sein Leben verloren hat
Die Furche, 20.1.2000

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Uwe Wittstock: Ernesto Cardenal 80
Die Welt, 20.1.2005

Hermann Schulz: Wo alle sich kennen. Ernesto Cardenal feierte seinen 80. Geburtstagnicaraguaportal.de, 10.4.2005

Roman Rhode: Der Heldenpoet Zum 80. Geburtstag von Ernesto Cardenal
Der Tagesspiegel, 20.1.2005

Klaus Blume: Ernesto Cardenal wird 80 Jahre alt
Mitteldeutsche Zeitung, 14.1.2005

Klaus Blume:  Baskenmütze und Bauernhemd
nwzonline.de, 15.1.2005

Zum 85. Geburtstag des Autors:

epd: „Ich muss optimistisch sein“
sonntagsblatt, 24.1.2010

Erich Hackl: Lehrmeister des Gedichteschreibens
neues deutschland, 20.1.2010

 

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Gunnar Decker: Der Traum vom Anders-Leben
neues deutschland, 20.1.2015

kna: Nonkonformist Ernesto Cardenal wird 90
Münchner Kirchenachrichten, 19.1.2015

Peter B. Schumann: Christ und Marxist
Deutschlandfunk, 20.1.2015

Werner Hörtner: Das Leben von Ernesto Cardenal: Der Geld-Gott als Feind der Menschheit
Die Furche, 22.1.2015

 

Zum 92. Geburtstag des Autors:

Andreas Drouve Interview mit Ernesto Cardenal:Immer verbunden mit meiner Kirche“
domradio.de, 21.1.2017

Zum 95. Geburtstag des Autors:

Michael Jacquemain: Marxist, Rebell und Priester: Ernesto Cardenal wird 95
kirche-und-leben.de, 17.1.2020

Natalia Matter: Der nicaraguanische Theologe, Dichter und Revolutionär Ernesto Cardenal wird 95 Jahre alt
Sonntagsblatt, 22.1.2020

 

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Willibert Pauels über Ernesto Cardenal.

 

Ernesto Cardenal liest auf dem XV. International Poetry Festival von Medellín 2005.

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