Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – „Ein Gedicht“ (Teil 2)

„Ein Gedicht“
Ein Gedicht von Marie-Luise Kaschnitz

Teil 1 siehe hier

Doch zur Fertigstellung des Gedichts braucht es zusätzliche Ein- und Übergriffe. Die Worte müssen von der Gebrauchssprache, der sie ursprünglich angehören, durch Verfremdung abgehoben werden, um als poetisch gelten zu können. Schreiben, so verstanden, bedeutet zurechtrücken, ist eher ein Akt des Arrangierens als des Produzierens.
Marie Luise Kaschnitz gewinnt ihr Gedicht, ausgehend von Zufallsfunden, durch Formulierungen «gegen den Strich», durch «widernatürliche» Wortfügungen, durch das «Scheren» und «Auslaugen» des Sprachmaterials. Allzu weit geht sie dabei nicht, ihre Dichtersprache kommt ohne Spezial- und Schockeffekte aus, auch wenn die vorgegebenen Worte «von den Lippen zerrissen | Vom Atem gestoßen | In den Flugsand geschrieben» sind.
Die Autorität des Dichters (der Dichterin) wie auch die des Gedichts wird aber jedenfalls deutlich relativiert: Was «in den Flugsand geschrieben» wird, hat keinen verlässlichen Bestand, und wer es tut, ist keineswegs ein schöpferisches Genie, sondern bestenfalls jemand, der eigensinnig überschreibt und neu verfugt, was immer schon – im Wörterbuch, in Fremdtexten – geschrieben stand.

 

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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