Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Lesen, was dasteht (Teil 6)

Lesen, was dasteht

Teil 5 siehe hier

Dass es auch ohne weltanschauliches Pathos geht, demonstriert Gebser überzeugend dort, wo er die Funktion «kleiner» Wörter in neuer Poesie herausstellt – Wörter wie «wie», «und», «denn», «weil», «damit», «bevor» usf., Bindewörter also, die einen jeweils bestimmten Zusammenhang, einen Vergleich, einen zeitlichen, räumlichen, kausalen Bezug konstatieren. Solche Beziehungen (zwischen Einzelbegriffen oder Satzteilen) sind in hohem Grad konventionell, folglich erwartbar, und eben deshalb werden sie in der modernen Poesie durch Verfremdung oftmals gebrochen (ad absurdum geführt; ins Gegenteil verkehrt), so dass sie Logik und Kausalität konterkarieren, indem sie aus der Konsequenz eine Voraussetzung machen, aus der Vorzeitigkeit einen Zukunftsbezug, aus dem Zweck eine Negation usf.

Wenn das Bindewort «und» in aller Regel eingesetzt wird, um eine bestehende Beziehung festzustellen, dient es in moderner Dichtung viel eher dazu, eine neue, alogische Beziehung  herzustellen («Farben, und alles ist grau»; «und das Lachen überall das Glück entblösst, | Und manchmal die Vernunft, die uns, Verdummte, auskotzt» usf.). – Entsprechendes gilt für «wie», das nicht mehr einfach Ähnliches vergleicht, sondern Unähnliches, auch Gegensätzliches gleichsetzt – statt zu sagen, das sei wie jenes, heisst es nun: das ist jenes («du bist – ist Vers: bist selber beides», «Beinkleider schwarz | aus dem Samt meiner Stimme», «Himmel! – als Meer färb ich mich dir ein»).

Ausführlich geht Gebser auch auf den Endreim ein, der im modernen Gedicht zwar zu Gunsten des freien Verses an Bedeutung verliert, gleichzeitig aber neue Funktionsweisen übernimmt. Die «Paarung» gleichlautender Wörter wird nicht mehr vorrangig als Harmonieeffekt bewerkstelligt, sondern umgekehrt als ein Effekt der Dissonanz, des unerwarteten Schocks. Die Endreime sollen auf der Aussageebene Befremdliches, Widersprüchliches, Willkürliches zusammenzwingen, also Klangähnlichkeit und Bedeutungsdifferenz ineinssetzen – schön gesagt, harsch gemeint; z.B. so: «Yakis mit Aztekenwort :: stille Ackerstrophen fort», «Händler mit Tand :: Nonnenstirnband», «Poesie :: Blasphemie», «und schlepp :: die NEP», «Huld gefunden :: Lumpenhunden» usf. (in allen Sprachen).

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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