Weltprozess

Titelbild von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Felix Philipp Ingold: Gegengabe“

Was lenkt die Welt? In einem Interview mit La Pensée russe äussert sich zu dieser Frage der Kabbalist Wladimir Kjutscharjanz. Was er im Einzelnen ausführt, lässt sich resümieren in der schlichten Erkenntnis – oder Behauptung –, das Ganze der Welt unterstehe einer gesamtheitlichen Lenkung durch etwas, das Gott ist und das jeglichen Zufall ausschliesst. Die Welt der Objekte, Phänomene, Lebewesen vergleicht Kjutscharjanz mit einer Stickerei, die auf der Vorderseite jeweils ein kohärentes integrales Bild erkennen lässt, jedoch nicht den Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen des Bilds. Um diesen Zusammenhang oder Zusammenhalt zu erkennen, müsse man die Rückseite der Stickerei betrachten, die sich bekanntlich als ein Gewirr von Fäden, Schlaufen, Verzweigungen, Knoten usf. zu erkennen gibt und so gut wie nichts ahnen lässt von der Darstellung auf der Betrachterseite.
Ein aufschlussreicher Vergleich. Ein Vergleich, den ich gern übernehmen würde, um meine Schreibarbeit und deren Ergebnis, das Gedicht, zu charakterisieren. Dazu müssten die beiden Seiten allerdings vertauscht werden. Was ich dem Leser an- beziehungsweise darbiete, würde der Rückseite der Stickerei entsprechen, das zunächst undurchdringliche, schwer durchschaubare Gewirr, das aber doch so angelegt ist, dass sich daraus eine 
durchaus kohärente Lesart, ein kohärenter Sinn entwickeln liessen. Das Gewirr ist bei mir ja nie bloss chaotisch oder zufallsbestimmt, sondern folgt einer eignen, im Sprachmaterial begründeten Gesetzmässigkeit. Was vielleicht ein andrer Vergleich zusätzlich erhellen könnte, nämlich – das Labyrinth als ingeniöse sinnreiche Konstruktion, die beim Abschreiten (am Leitfa­den, der sich beim Lesen wie von selber spinnt) allmählich erkennbar wird.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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