HIER STEHE ICH zurückgeblieben
hier habe ich vergessen
was Nachricht und Zeitung gewesen sind
und heize mir ein mit Sternbildern
hier leugne ich das Verderben
und halte dem Regen meine Lippen hin
hier schütte ich meine Versäumnisse
in die süßen Gewässer und esse vom Reh
hier stehe ich weiter zurückbleibend
und genieße mein kindisches Alter
hier drücke ich zwei Augen zu
meide den Anblick roter Plastiktüten
hier sauge ich Muscheln aus und kaue ich
an den schwerverdaulichen Pfifferlingen
als sei zwischen Cholera und Kiew
nichts geschehen stehend auf der Flucht
versinke ich im Geschiebemergel zu den Fossilien
hier blicke ich unbekümmert
in präglaziale Zeiten und keiner
führt mich gebunden weg hier stehe ich noch
hier presse ich meine Füße in Kinderschuh
und versinke neben dem Fliegenpilz
den die Berserker vertilgen vor den Schlachten
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Das märkische Land,
die Tiefebene zwischen Ostsee und Spree, Eiszeit in jedem Stein, „Rückläufe nach minus endlich“, die wandernden Träume die Bernsteinstraße hinauf, die Salzstraße nach Süden: Helga M. Novak ist wieder am Ort der Kindheit angekommen und sieht sich um wie am ersten Tag. Nichts ist ihr entfernt genug, nichts plötzlich zu nah, als daß es nicht in der Heftigkeit ihrer Wahrnehmung und Anschauung wiederkehren könnte. Ihre Verse, scheinbar sachlich, oft eckig, fast schroff, sind reich an intensiven Bildern, voll Schönheit und Kraft, leidenschaftlich und zart. Alles in ihnen ist Bewegung und Spannung, ein Wechselspiel zwischen Suche und Auf-der-Lauer-Sein, Sog und Widerstand, Stille und Explosion.
Luchterhand Literaturverlag, Klappentext, 1989
Beiträge zu diesem Buch:
Johannes Hauck: Trauer, Wut, Melancholie
Süddeutsche Zeitung, 27./28.5.1989
Hans-Jürgen Heise: Schatten der Zwerge
Stuttgarter Zeitung, 4.8.1989
Michael Santak: Abschied ohne Ziel
Frankfurter Rundschau, 30.9.1989
Alexander von Bormann: Rückläufe nach minus unendlich
Neue Zürcher Zeitung, 11.10.1989
Helmut Böttiger: Mark Brandenburg
Die Zeit, 8.12.1989
Wulf Segebrecht: Der klumpfüßige Pegasus
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.1.1990
Diese Poesie ist Ordnung und Anarchie
− Laudatio von Rita Jorek zum 10. Christian-Wagner-Preis. −
Hundert Jahre liegen zwischen den Lebensläufen von Helga M. Novak und Christian Wagner. Es lässt sich trotzdem Vergleichbares finden in Werk und Wesen der beiden. Als Dichter müssen wir sie begreifen, als Dichter betrachten sie sich selbst.
Gedichte schreiben können viele, vielmehr lassen die Kunst unbeachtet, schilpen wie die Spatzen daher, für die das Lied der wenigen Lerchen fremd bleibt. Dazu passt ein sarkastischer Kommentar Wilhelm Raabes, der vor hundert Jahren starb. „Was wirklich was taugt, kauft kein Mensch“. Und wenn Kurt Tucholsky zu Hermann Hesses Auswahl von Gedichten des von diesem verehrten Christian Wagner anmerkt: „Nur, die Deutschen lesen solche deutschen Gedichte nicht“, so wünschen und hoffen wir, dass es heute anders sei.
Eine dichterische Existenz wagen, sich dem Leben aussetzen, das ist ein existentieller Drahtseilakt. „Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“ (Rilke), darf der Wissende, der Fühlende, der Mitfühlende nicht schweigen und hat die Worte zu wägen, zu finden, neu zu finden und zu vertiefen, in Urgründe zu tauchen. Diese Poesie ist Ordnung und Anarchie.
„Ja, für den Rest meiner Zeit gestatt ich mir eigens die Freiheit / Wahr, aufrichtig zu sein bis zur Schroffheit“, verkündete trotzig Christian Wagner, eine Maxime, die Helga M. Novaks Schaffen bestimmt wie kaum das eines anderen, es deshalb in seiner ganzen Ausdrucksstärke zu einem bedeutenden Zeitzeugnis gerinnen lässt. Sie ist für Wolf Biermann „die zärtlich-schroffeste Dichterin“. Die Begriffe Freiheit und Schroffheit tragen ihr Werk.
Nicht nur Widerspruch, auch Verzweiflung und Enttäuschung bedingen das Aufbegehren und die Wut über herzlose Bürokratie, die den Menschen hinter die Paragraphen setzt. „ich bin frei“, schleudert uns, im Tiefsten und Innersten verletzt, aber auch stolz Helga M. Novak entgegen:
bloß weg von Provinz Terrain und Tümpel
ich bin frei
mein Status nun verbrieft und besiegelt
als „erwerbslose Ausländerin“ verwirkt
mein Aufenthalt im heimatlichen Distrikt
ich bin frei
Um 2004/05 geschrieben, sind das die letzten Verse der zweibändigen Ausgabe ihrer Gesammelten Gedichte und die Quintessenz ihrer Bemühungen, die deutsche Staatsbürgerschaft wieder zu erlangen, die mit Ablehnungen endeten. Ein Treppenwitz der Weltgeschichte: eine deutsche Dichterin, als eine der bedeutendsten erkannt, muss als Ausländerin, als Heimatlose ihre Existenz irgendwie bewerkstelligen.
ich war frei
über Land zu fahren
durch Gegenden vieler Länder
ich war frei
jetzt haben sie mich von meinem
eigenen Land befreit
Dazu passt die bittere Erkenntnis Christian Wagners: „Kein Prophet ist angenehm in seinem Vaterlande.“
Die Situation ist fast ausweglos, wie so oft in diesem Leben. Da beruft sie sich auf das Meer, dem sie manchmal nahe war und deutet an, was ihr noch bleibt:
„die hohe See kennt mich sie wartet“
Der Freitod, von Christian Wagner bereits Ende des 19. Jahrhunderts als Ausdruck des eigenen Willens und der Freiheit, des Lossagens von jeder Knebelung und jedem Joch besungen, verbindet sich für Helga M. Novak ebenfalls mit dem Begriff der Freiheit, nämlich bereits in der Erzählung „In einem irren Haus“.
„Nach einem kurzen Ausflug in den Himmel aus allen Wolken gefallen und hier gelandet“, heißt es da, gelandet in einer Anstalt, wo jegliches Nachdenken verboten und die Auseinandersetzung mit dem Thema tabuisiert wurde. Als eine der ersten nahm sie sich dieses Themas an und anderer, wie das Wirken der Staatssicherheit in der DDR und die Situation von Opfer und Täter. Und so fordert sie „das Recht… sich selbst den Hals umzudrehen“.
Dichter sind Visionäre. In dem frühen Band mit dem Titel Balladen von der reisenden Anna, 1965 bei Luchterhand erschienen, – das meiste davon bereits in dem vorher in Island im Selbstverlag als Ostdeutsch herausgegeben – dort verdichten sich bereits Leben, Selbsterfahrung , Beobachtung, Erzählungen und Schicksale anderer nicht nur mit Fragen und Protest, sondern auch mit Empathie für Betroffene und dem Vorausahnen des eigenen Schicksals, das beispielsweise im „Traum des Emigranten“ alle Trostlosigkeit der Welt evoziert:
Der Emigrant
schreibt Gedichte und macht
Weltverbesserungspläne
das Vaterland winkt schon.
„Das Vaterland winkt schon“ – eine zweideutige Aussage: Will es ihn und seine Weltverbesserungspläne wiederhaben? oder winkt es ab: Brauchen wir nicht! oder will es ihn vernichten?
Wir kannten ja die Emigranten und wussten aus ihren Büchern: Viele Schriftsteller waren darunter, die zur Zeit des „Dritten Reiches“ aus Deutschland flohen – nach Westen (England, USA) die einen, nach Osten (Sowjetunion) die anderen. Von der Rolle, die sie spielten, den Auseinandersetzungen erfuhren wir ebenfalls. Da gab es die Kontroverse zwischen Johannes R. Becher, aus Moskau zurückgekehrt, Kulturminister geworden und Bert Brecht, der aus den USA in die DDR kam. Es war 1956, Brecht starb bald danach, daran, und in Ungarn gingen die Menschen auf die Straße und wurden zusammengeschlagen.
„Das Exil ist eine Wüste, wenn es keine Alternative gibt“. Von Per Olov Enquist stammt diese Feststellung, einem Autor, der wie viele aus Island und Skandinavien, zu den Geistesverwandten Helga M. Novaks gehört.
Bertolt Brechts Lyrik und seine Theaterstücke, die wir im Berliner Ensemble oder wie die Oper „Die Verurteilung des Lucullus“ in Leipzig sahen, übten großen Einfluss auf die aufsteigende Dichtergeneration aus. Und getrost dürfen wir in Novaks alter Bohemienne eine Schwester von Brechts Mutter Courage sehen.
Nebenbei bemerkt, Brecht könnte auch als Zwischenglied zu Christian Wagner führen;
denn dessen Vierzeiler „Winternacht“ erscheint in Versmaß und -melodie, aber auch inhaltlich Brechts „Von der Freundlichkeit der Welt“ vorausgegangen:
Christian Wagner:
WINTERNACHT
Kalt und strahlend stehet Stern an Stern:
Fremde Augen, doch unsagbar fern;
Teilnahmslos und ohne Liebespflicht
Steht des Himmels Funkenangesicht.
Bertolt Brecht:
VON DER FREUNDLICHKEIT DER WELT
Auf die Erde voller kalten Wind
Kamt ihr alle als ein nacktes Kind.
Frierend lagt ihr ohne alle Hab
Als ein Weib euch eine Windel gab.
Und wenn Helga M. Novak „von sehr großer Not“ berichtet, geht es ebenfalls um menschliches Schicksal, um das Ausgeliefertsein, das bei Wagner ganz allgemein und universell bleibt, während Brecht den Menschen, Kind und Weib, betrachtet. Die Dichterin artikuliert spezielle Frauenqual:
der Spätsonne sag ich dem Aar
dem Ren dem eisigen Wind
zweimal verschenkte ich ein Kind
das ich aus meinem Schoß gebar
In dem frühen Trinklied von der alten Bohemienne, die das Land Atlantis umsonst sucht, spiegelt sich das eigene antizipierte Leben. Im Galgenhumor endet es mit der Apotheose:
und wenn sie einst gestorben ist
macht sie den Himmel hell
sie wird die erste Lady sein
im göttlichen Bordell.
Jahre um Jahre später lesen wir in Silvatica:
die Rumtreiberin hat ihre Laubhütte
verlassen zieht Leine und hängt Netze auf
mit Federn getarnte und extragrüne Lappen
rund um ihren Jagen flattert das Blendzeug
bis sie selber verblendet geblendet
einer Meute auf den Leim gegangen ist
Silvatica, diese Sammlung von Wald- und Jagdgedichten wird zur Metapher eines Außenseitertums eines melancholischen, desillusionierten Rückzuges aus der Gesellschaft in die Natur und zum verkappten Hymnus einer späten Liebe. Zauberhaft verwunschen und doch zeitnah stellt diese Dichtung westliche Zivilisation in Frage.
Heimatlosigkeit, Leben in der Fremde, im Exil durchziehen das ganze Werk.
ich schrei es in die Tagfrüh ich bin
in sehr großer Not und kein Weg
führt daraus trennt das Geheg
und heilt meinen verworrnen Sinn
zweimal verließ ich mein Land zu Fuß
Abzeichen von Belang vermochten nicht
mich zu beugen mein Gesicht
versagte Götzendienst und ehrvoll Gruß
seitdem beherbergt mich kein eigen Dach
die Sprache meiner Leute klingt fern
fremd Schulterzucken salzt das Brot
mein Kleid erregt Spott und Gelach
mich bedecken Nordlicht und Stern
ich bin in sehr großer Not
Nicht weniger erschüttert die „Bittschrift an Sarah“, in den 70er Jahren die Freundin Sarah Kirsch beschwörend, Nachricht über Bekannte und heimische Orte zu geben. Die elfte, die letzte Strophe endet:
Sarah geht los – schaut ob ich noch Freunde habe
sagt ihnen – ich lebe ich sterbe ich lebe
um Himmels Willen
schreibt mir einen Brief von zu Hause
Die Sehnsucht durch die Welt zu reisen, die in unseren DDR-Jugendjahren Utopie bedeutete, transportierte Helga Novak damals in die Begegnung mit einem ihr wichtigen Dichter, der an Deutschland litt, wie kaum einer. Wieder ist es kalt und alles hoffnungslos „an einem deutschen Wintertag“:
ich sagt ich hätt einen deutschen Pass
und könnte doch nicht reisen
da hatt er mich nur ausgelacht
sein Blick ließ mich vereisen
dann meinte er nebenbei zu mir
– sei nur ein Narr und weine
wie ichs vor hundert Jahren tat
ich heiße Heinrich Heine –
Als dieses lapidare Gedicht um 1956 wohl entstand, dessen tragische Aspekte sich aus dem liedhaften Singsang der Reime erst nach und nach ganz erschließen – wie ja viele der Werke von Helga M. Novak einen doppelten und dreifachen Boden besitzen – lag die Zukunft noch vor ihr. Sie studierte an der Fakultät für Journalistik der Leipziger Universität – Kaderschmiede der SED, Rotes Kloster genannt, und wollte – wie ich auch, wir lernten uns dort kennen – Kulturredakteurin / Kunstkritikerin werden.
Es sollte anders kommen. Die Staatssicherheit (Stasi) versuchte sie zu erpressen, weil sie mehr oder weniger vogelfrei zu sein schien. (Aus ihren autobiographischen Romanen Die Eisheiligen und Vogel Federlos ist bekannt, wie es einem Adoptivkind erging, das sich von den Stiefeltern lossagte, um studieren zu können.)
Nach einem großen Autodafé, das sie bedrohlich an den Pranger stellte, flüchtete sie mit ihrem isländischen Freund auf seine nordische Insel – es war wie jetzt Ende November und dort sehr kalt und dunkel.
Mit der baldigen Heimkehr nach Berlin war sie zur Arbeit in einer Fabrik verdonnert. Das konnte auch nicht von Dauer sein. Die nächste Ausreise, wieder nach Island war 1961, Jahr des Mauerbaus. In kurzen knappen Erzählungen – zusammengestellt in dem Band mit dem Titel In einem irren Haus, findet sich die Quintessenz von Situationen, die zu meistern waren, von Begegnungen und Reisen. Sie war weit herumgekommen in Europa, von Nord nach Süd gefahren bis nach Palermo, von Island bis Barcelona getrampt, viele Stecken zu Fuß gegangen. So bewarb sie sich dann mit jenem Band Ballade von der reisenden Anna, der bei Luchterhand in Vorbereitung war, am Leipziger Literatur-Institut „Johannes R. Becher“ und wurde angenommen, trotz Gedichten wie „Faustregel“, das den Widerspruch zur Lebensmaxime erklärt, oder solchen. die den „Kehricht im Lande Sta“ aufdecken, in der großen Ballade über Annas Schicksal in sibirischer Verbannung oder durch die provokative Frage: „wem gehört eigentlich das Volkseigentum“.
Es war – wie wir sagten – mal wieder „Tauwetterzeit“ in der DDR.
Wir trafen uns auf Leipzigs Straßen. Ich war Redakteurin bei der Leipziger Volkszeitung, freute mich über die Wiederbegegnung und bot ihr an, bei uns zu wohnen. Wir hatten drei kleine Kinder, der jüngste kein Jahr alt und vier kleine Räume, davon bekam sie einen.
Aber auf Tauwetter folgten Regen, Schnee und Eis, ein berüchtigtes Parteiplenum rechnete mit Künstlern, Schriftstellern, Kulturschaffenden ab; Helga M. Novak, die Weitgereiste, Aufmüpfige mit ihrer Freundschaft zu Robert Havemann und Wolf Biermann, kam wieder in die Bredouille, was vielleicht ein zu leichtfertiges Wort ist für die Situation. Vom Staatssicherheitsdienst beobachtet und verfolgt, wurde sie genötigt, die DDR im Frühjahr 1966 zu verlassen und die isländische Staatsbürgerschaft anzunehmen. (Sie war unterdessen mit einem Isländer verheiratet). Aber ihre Heimat war nicht jene ferne, kalte Insel, ihre Heimat – und auf allen Wanderungen zog es sie dorthin zurück – blieben immer Berlin und seine Umgebung, diese Märkischen Wälder und Seen, wo sie als Kind zu Hause herumstöberte. Immer und immer hat sie davon ergreifend geschrieben, ob in den Eisheiligen, in Vogel federlos, in dem Gedichtszyklus „Grünheide, Grünheide“, in „Märkische Feemorgana“ – hier in archäologischen Tiefen grabend – und vor allem in Silvatica. Das von Ulrich Keicher so einfühlsam gestalteten Heft mit dem Prosastück „Lebendiger Fund“ bietet einen kleinen Einblick in die Schreibwerkstatt der Dichterin. Entstand es doch aus Notizen, aus Versuchen auf Zetteln verteilt, in eine Mappe verbannt, Fingerübungen gleichsam zu den Silvatica-Gedichten.
Groß war die Sehnsucht nach dem Osten. Als Ausgebürgerte durfte Novak die DDR nicht mehr betreten, erhielt deshalb auch kein Transitvisum, um ihren Traum zu verwirklichen, einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn zu fahren. Imagination und Phantasie beflügelten ihre Fingerreise über Landkarten, die das Versepos „Legende Transsip“ entstehen ließ, um mehr und Eindringliches über russische und sibirische Weiten mitzuteilen als manch tatsächlich Gereiste erfahren können.
Dichtung ist viel mehr als Autobiographie. Auch wenn rücksichtslos aufrichtig um äußerste Wahrhaftigkeit gerungen wird, das Leben, selbst das bittere, besitzt allemal eine poetische Seite. Schon als Kind beschrieb Helga Novak „die roten Ränder der Abendwolken, den Kiefernwald, meine Lieblingsplätze und die Stelle mit den unbekannten Pflanzen“. Die ersten Gedichte verbrannte die Stiefmutter – Kaltesophie in den Eisheiligen genannt. Die über Zeiten sich hinspannende Verwandtschaft zu Christian Wagner, den Dichter der Landschaft, der Blumen und Schmetterlinge zeigt sich in diesem Hinwenden zum Alltäglichen, zum Wald, zum Wacholder, zur Kaiserkrone oder zum weißen Alttier mit roten Augen und deshalb verstoßen, denn „ein jedes soll seine Farbe tragen / wer keine hat ist dem Tode geweiht“.
Den Dichter unterscheidet vom Literaten die Konzentration auf Geist und Form. In den gelungensten Stücken bildet Reife des Ausdrucks die Vollkommenheit des Gedankens. Aus einer Frage von Gustave Flaubert eine Behauptung aufstellend, konstatieren wir: Wer sein Denken zusammenpresst, gelangt immer zum Vers. Und Dichterin ist Helga M. Novak auch in ihren prosaischen Werken. So gehört sie zu jenen, von denen Hermann Hesse in einem seiner Aufsätze über Christian Wagner sagt: „Manche sehen wir in der Flamme verbrennen und verloren gehen.“
Um das Verlorengehen von Dichtern, von Künstlern zu verhindern, sind alle – zuförderst die Kundigen, die Fühlenden, die Mitfühlenden – aufgerufen. Die Christian-Wagner-Gesellschaft und die Christian-Wagner-Stiftung, die ohne begeistert engagierte Mitstreitende nicht existieren würden, machten sich das zur Aufgabe. Dass der Preis, der den Namen des eigenwilligen Dichters aus Warmbronn trägt, in diesem Jahr Helga M. Novak zugedacht ist, gereicht allen Beteiligten zur Ehre; denn auf beider Werk fällt dadurch das Licht der Erkenntnis und lässt ihre Bedeutung einmal mehr in das öffentliche Bewusstsein steigen.
Hier ist es denn Zeit, den Dank der Jury und den Preisstiftern von der mit dem Christian-Wagner-Preis geehrten Dichterin Helga M. Novak zu überbringen. Gern wäre sie selbst anwesend, ist aber sehr, sehr krank.
Christian Wagner, der an die Wiedergeburt glaubte und dabei in Tier, Mensch, Pflanze und Unbelebtem gleichberechtigte Wesenheiten erkannte, wünschte am Ende „Lichtwellen neu zu werfen in den Tag, / Lichtsonnen neu zu streuen in das Nichts.“
Ironisch hält Helga M. Novak, ganz Mensch unserer aufgeklärten Zeit, dagegen, indem sie unsentimental feststellt:
nach meinem Tod die Seele
von der ich nicht weiß
wo sie sich augenblicklich befindet
(ich habe sie noch nie gesehen)
wohin sollte sie sich wenden wohin
wenn ich sterbe wenn ich umfalle
dass mein Herz aufhört zu schlagen
ist gewiss auch dass es zu Erde wird
wieviel Herzen habe ich pochen hören
Seelen keine und ich wünsche niemand
erlitte die Qual eine Art Herberge
meiner Seele später zu werden solche
Strafe hat wirklich keiner verdient
mein Herz aber wird zerfallen schade
Solche Gedanken münden bei Christian Wagners in verwandtschaftliche, doch hoffnungsvollere Fragen:
Und wer wir künftig, wann dereinst ich sterbe,
Als neues Ich wohl sein mein Geisteserbe?
Wer in der Fernzeit, wenn das Grab mich schattet,
Erstehn, mit meinen Liedern ausgestattet?
Christian Wagner, dem es nur selten vergönnt war, aus der Fron des Warmbronner Landlebens auszusteigen – gleich Helga M. Novak war er allerdings auch in Italien und beide schrieben ihre Gedichte über die Stätten, an denen sie sich aufhielten – versuchte von hier aus den Weltgeist zu erhaschen. Helga M. Novak setzte sich ganz und gar dem Zeitgeist aus, diesem 20. Jahrhundert mit seinen Kriegen und der Teilung Deutschlands. Früh schon begriff sie die Divergenz zwischen sozialistischer Theorie und Realität, stellte sie in Frage. Zwischen Ost und West wandelnd, schrieb sie ein gewichtiges Stück deutscher Literatur.
Rita Jorek, 2010
Diese Dichterin wird man nicht mehr los
– Helga M. Novak wird morgen mit dem zehnten Christian-Wagner-Preis ausgezeichnet. –
Helga M. Novak? Wer ist das? Das mag sich mancher, auch literarisch Interessierte, im Stillen gefragt haben, als die Jury des Christian-Wagner-Preises die diesjährige Preisträgerin bekanntgab. Hatte sich die heute 75-Jährige schon zu ihren aktiven Zeiten, in den siebziger und achtziger Jahren, nie ins literarischen Rampenlicht gedrängt, ist es nun noch stiller um sie geworden. Auch zur morgigen Preisverleihung wird sie nicht kommen – die Gesundheit lässt es nicht zu.
Doch es lohnt, sich mit Novak zu beschäftigen. Denn da ist eine, die ist ganz und gar authentisch. Die will sich nicht anpassen, will nicht gefallen, will sich nicht ein- oder gar unterordnen. Nicht als Person und nicht als Dichterin. Sie will frei sein, verweigert sich der Erwartungshaltung – als Kind treibt sie ihre Adoptivmutter zur Verzweiflung, als Dichterin zwingt sie ihren Leser zum Nachdenken über vermeintlich Bekanntes, etwa, indem sie in „Wärme suchen im Sommer“ schreibt: „die stillen Wasser sind flach“. Sie ist unbeugsam, anarchisch, widerborstig – aber nicht empfindungslos, sondern im Gegenteil: voller Empathie, vor allem für die Randständigen – wie sie selbst eine ist. All das spricht aus den Zeilen dieser Spracharbeiterin, der Balladendichterin und „Sängerin der rohen Daseinsform“, wie sie tituliert worden ist. Doch sie macht es dem Leser oft nicht leicht, scheint unzugänglich.
Da liegt es nahe, sich ihrem Werk nicht allein über den Verstand, das wort-wörtliche Verstehen zu nähern. Man muss dem Klang ihrer Sprache lauschen, mit dem Gefühl hören. Diese Sprache ist einfach, gerade, schnörkellos und mitunter lakonisch; auch rau und erdig. Aber es gebricht ihr nicht an poetischer Suggestion, sie raunt. Und folgt man dem Blick der Dichterin, gibt dieser Unnachgiebigen nach, sind ihre Gedichte wie ihre Prosa von bezwingender Kraft, sie schaffen eine dichte Atmosphäre, ziehen den Leser mitten hinein – in Autobiographisches, in Politisches, in Fiktives und immer wieder in eine raue Natur und Landschaft, häufig in den Wald als Rückzugsraum jener, die außerhalb der Gesellschaft stehen; kein romantisches Idyll.
Ebenso wenig gibt es bei ihr säuselnde Liebesgedichte – wohl aber augenzwinkernde. Und oft findet sich auch die archaische, ungestüme, tief-existenzielle und mitunter zerstörerische Kraft der Liebe, wie sie etwa in dem Gedicht „Wildente“ auftaucht:
beim Schlachten ist ihr die Galle geplatzt
alles bitter egal gleich wachsen mir Flügel
nach Norden zu dir
heißt es darin. Das Gedicht steht im aktuellsten Novak-Band, in dem Silke Scheuermann Liebesgedichte bis 1997 zusammen getragen hat. Schon allein er zeigt, auf wie vielen Wegen sich Novak ein- und demselben Thema nähern kann. Doch letztlich ist es unerheblich, ob man dieses Buch aufschlägt oder Silvatica, ob wo ich jetzt bin, ob die gesammelte Prosa Aufenthalt in einem irren Haus oder einen der autobiographischen Bände Die Eisheiligen und Vogel federlos. Der Effekt ist stets derselbe: Hat man sich eingelassen, wird man diese Dichterin nicht mehr los.
Novak nutzt für ihr Schreiben die Ballade ebenso wie die Elegie oder das Sonett, das politische oder eben das Liebesgedicht; auch Anekdotisches, Mythisches oder dialogisch Angelegtes sowie Prosa gehören in ihren Formenkanon – und oft greift Eines in das Andere, besonders eindringlich und eindrücklich etwa in der Autobiografie. Sie lässt sich in keine Stilform pressen, scheut auch nicht davor zurück, innerhalb weniger Zeilen fast gegensätzliche Gefühlswelten zusammenzuschnüren. Beispielsweise in der zweiten Strophe ihres Gedichts „Winter ist“. Dort heißt es:
Winter sind Rosen im Garten unter Schnee
grüne Nägel zerstochene Decke
Igel keine aber weiße Hasen
die fängt Eustachos mit Schlingen
hängen sie ihn stirbt er
mit vollem Bauch
wenigstens mit vollem Bauch
So nah liegen Poesie und trockener Realismus bei ihr beieinander.
Jener Eustachos ist eine Figur, die immer wieder in Novaks Schaffen auftaucht, auch in der kurzen Erzählung „Lebendiger Fund“, die jetzt im Warmbronner Verlag Ulrich Keicher erscheint. Ein Gefährte, der ihr zwar manchmal „auf die Nerven geht“, ihr aber treuer Begleiter ist und der archaische Jäger, der durch viele ihrer Gedichte zieht – in ihrem Leben einer Unbehausten. Dieses Unbehaustsein verbindet sie, neben der Natur als reichem Themenquell, mit dem Warmbronner Dichter Christian Wagner (1835 bis 1918), dem Namensgeber des Preises. Doch während es bei Wagner im geistigen Sinne zu verstehen ist, trifft das bei Novak auch ganz existenziell zu.
Quer durch Europa hat die 1935 in Köpenick geborene Dichterin ein unstetes Leben geführt, kehrte in die DDR zurück, wurde ausgebürgert, lebte zuletzt in Polen und jetzt wieder in Deutschland – allerdings lediglich mit einer Aufenthaltsgenehmigung. Das scheint symptomatisch für eine Frau, die zeitlebens ebenso entschieden wie politisch Position bezogen hat, die ungeachtet irgendwelcher Anfechtungen sich und ihrem Weg treu bleibt, der die Freiheit Lebenselixier ist. Sie hat sich nicht vereinnahmen lassen, hat – wiewohl selbst Sozialistin aus Überzeugung – bissig die DDR (und nicht nur die) kommentiert:
wir die den Sozialismus proben
sind überall
aber vielerorts verkauft
man uns gut eingerollt
in die eigenen Fahnen
lautet etwa die letzte Strophe von „wir“.
Novaks Gedichte sind aber nicht nur schwer, melancholisch oder gar bitter. Vielmehr zeugen sie auch vom wachen Geist und Auge einer Dichterin, der das Leichtfüßige, das Ironische, der schwarze Humor und der spöttische Blick auf sich selbst zu eigen sind. So heißt es in dem Gedicht „kann nicht steigen nicht fallen“:
flügellahm
sitze ich da und brüte
Liebeserklärungen aus
(…) ich bin für heute ein Wasserhuhn
− da scheint das lyrische Ich ganz nah bei Novak zu sein. Oder das Gedicht „einer stand und sang“, und zwar auf einem Tankwagen. Ein Draht bereitet dem Lied ein Ende:
denn es hing
wie es ging
der Soldat
in dem Draht
heißt es, kinderreimgleich und trocken, zum Schluss.
Helga Novaks persönliches Lebensmotto aber, ihre „Faustregel“, findet sich in einem anderen, eben so betitelten Gedicht, dessen letzte drei Zeilen wie ein Fanal sind:
widersprich
widersprich
widersprich
Martina Zick, Leonberger Kreiszeitung, 19.11.2010
„Der Traum vom anderen Leben“
– Skizzen zu vergessenen Texten – Laudatio für Helga M. Novak anläßlich der Verleihung des Gerrit-Engelke-Preises der Stadt Hannover 1995. –
„Die Wunde Deutschland“ war vernarbt, schief, jetzt ist sie wieder aufgebrochen. An die Stelle eines trägen, angepaßten status quo trat etwas Neues, Erstarrung wich Bewegung, deren Geschwindigkeit den einen zu Kopf steigt, andere schwindlig macht, denn mit der Absage an jegliche Utopie fehlt Richtung und Orientierung. Trotz Wegfall der Mauer und des „Eisernen Vorhangs“ ist die Zerrissenheit nicht geringer geworden, die Mauer besteht nicht mehr aus Steinen, sondern aus internalisierten Normen, Vorstellungen, Haltungen.
Bekanntlich geht der Riß mitten durch das Herz des Dichters – und in der Tat, nicht nur Heine, von dem diese Selbsteinschätzung stammt, oder Büchner, Tucholsky oder Brecht, sondern auch Erich Fried, Christa Wolf und sogar Heiner Müller machen das Leiden an Deutschland zum Thema ihrer Literatur; ein Leiden, das sich je nach der Situation in Spott und Ironie, Verachtung und Wut, aber auch in Ohnmacht ausdrückt.
Brechts „Deutschland, du blondes bleiches“ und Müllers „Der Terror von dem ich schreibe kommt aus Deutschland“ sind moderne Variationen von Heines „Denk ich an Deutschland in der Nacht, / Dann bin ich um den Schlaf gebracht“. Gerade bei Heine mischt sich befreite Distanz mit Heimweh, Sehnsucht mit Grauen. Diese Autoren gehören zu den schärfsten Kritikern Deutschlands, sei es aus der räumlichen Entfernung des Exils oder aus innerer Distanz und Fremdsein, und doch oder gerade deshalb sind sie die wirklichen deutschen Dichter.
Grenze bei jedem Wetter und ich denke
die ist längst durch mich hindurchgewachsen
ich fühle direkt die Spieße die Pfähle im Fleisch
Diese drei Zeilen des Gedichts „Versuchsfeld“ aus dem Lyrikband Margarete mit dem Schrank von 1978 zeigen – Helga M. Novak steht in dieser deutschen Tradition; das Gedicht thematisiert das politische „Versuchsfeld“ der deutsch-deutschen Grenze, das tödlich militärische der „acht Sensen“ des Helikopters und vor allem das „Versuchsfeld“ des lyrischen Ich in seiner Bedrohung und seinem Widerstand.
In vielen Gedichten und Prosatexten Helga M. Novaks geht es um ein Leben im geteilten Deutschland, um Gewalt und staatliche Macht in der DDR und der BRD; sogar die beiden Autobiographien Die Eisheiligen und Vogel federlos liefern weniger ein individuelles Psychogramm als vielmehr Bilder einer Kindheit und Jugend in Deutschland.
Leben als Widerstand – Schreiben als Widerwort
Hilflos und stark, wütend und ohnmächtig, rabiat und sanft war Helga M. Novak zeit ihres Lebens und immer in Bewegung. Früh adoptiert in eine fremde Familie, gerade noch rechtzeitig sich rettend aus einer zerstörerischen Mutter-Tochter-Beziehung, bedroht von „schwarzer Pädagogik“ und alltäglichem Faschismus, voll jugendlichem Enthusiasmus eingetreten in FDJ und Partei, 1961 raus nach Island und rein in Ehe und schwerste Fabrikarbeit, 1965 zurück in die DDR und nun vollends hinein in Literatur und Literaturstudium am Literaturinstitut Johannes R. Becher.
Am 18. März 1966 aber muß sie innerhalb von 24 Stunden die DDR verlassen, Helga M. Novak ist lange vor Biermann die erste von der DDR ausgewiesene Schriftstellerin. Nach Nationalsozialismus und DDR nun die Bundesrepublik, das bedeutet hinein in die Metropole Frankfurt, politisches Engagement nicht nur im Häuserkampf und an der Startbahn West; dann wieder raus nach Portugal in die Nelken-Revolution. Der „deutsche Herbst“ aber treibt Helga M. Novak ins „Grabfeld“ der Rhön. 1979 ist sie Stadtschreiberin in Bergen-Enkheim, seit 1980 reist sie nach Polen, mit großem Interesse an der Solidarnoszcz, 1985 geht sie fort aus Deutschland nach Korcula in Jugoslawien, bekannt durch seine Philosophiekongresse, 1987 schließlich die vorläufig endgültige Umsiedlung nach Polen, weit weg – was nicht räumlich gemeint ist – in die Nähe eines polnischen Dorfes zwischen Gdansk und dem ehemaligen Bromberg in eine Landschaft „wie meine Mark Brandenburg“, „die Landschaft meiner Kindheit, nach der ich so lange Heimweh hatte. Ich durfte ja die DDR 25 Jahre lang nicht betreten“, wie die Autorin mir in einem Brief schrieb. Lange war sie unterwegs, jetzt scheint sie ein zweites Zuhause gefunden zu haben.
Diese Ortsveränderungen als äußere räumliche Markierungen ihres Lebens, sind weniger – wie ich meine – als Flucht zu verstehen, denn als Suche nach neuen Lebensformen, als Aufbruch zu radikalen politischen Veränderungen, später zunehmend als Weg in die Natur, aber auch als ständige Unruhe: „Komm weiter komm weiter/ nichts Bestimmtes liegt in der Ferne und alles“, heißt es in einem Gedicht über das „Eislaufen“ auf den Seen ihrer Kindheit im Osten Berlins; und in dem Gedicht „ich möchte noch mal durchatmen“ fragt sie sich: „wem nützt es denn wenn ich bleibe“.
Vergleichbar mit den Lebensstationen bilden die literarischen Texte sozusagen innere zeitliche Markierungen in Helga M. Novaks lebenslangem Schreibprozeß; seit Kindertagen ein Schreiben als Rückzug, Selbstvergewisserung, Widerwort, später als Suche in der Vergangenheit, als Erinnerungsarbeit gegen das Vergessen und als Widerstand gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Marginalisierung.
Mitte der 60er Jahre erscheint im Luchterhand-Verlag der erste Gedichtband mit dem bezeichnenden Titel Ballade von der reisenden Anna, 1967 und 1968 folgen ein weiterer Lyrikband und eine Sammlung von Prosatexten. In den 70er Jahren erscheinen sieben Buchpublikationen von Helga M. Novak, einige wie Wohnhaft im Westend (1971) und Die Landnahme von Torre Bella (1976) direkter Ausdruck ihres politischen Engagements.
1979 veröffentlicht sie Die Eisheiligen, den ersten Teil ihrer Autobiographie. Anfang der 80er Jahre folgen mit Vogel federlos der zweite Teil sowie zwei Sammelbände, dann in größeren Abständen Mitte der 80er Jahre das fiktive Reisebuch Legende Transsib und 1989 die bisher letzte Buchpublikation Märkische Feemorgana. Zur Zeit schreibt Helga M. Novak Gedichte und an dem dritten Teil ihrer Autobiographie.
Literatur und Tabuisierung
Meine erste intensive Lektüre von Helga M. Novak galt allerdings nicht dem Deutschland-Aspekt, sondern einem heute eher marginalen Text: Die Landnahme von Torre Bella. Ich las ihn 1976 nach meinem ersten Portugal-Aufenthalt und auch 1979, als wir in einer Art „Reisende Hochschule“ einer Cooperative im Alentejo halfen und dort arbeiteten, war es ein wichtiges Buch für uns. Bei der Relektüre fiel mir auf, daß zwar viele Aspekte heute eher von historischer Bedeutung sind, daß aber die 55 kurzen Abschnitte ein Mosaik der damaligen Situation liefern, das mehr von den Problemen, Widersprüchen und Fehlern der Revolution zeigt, genauer den Elan und die Naivität der Landarbeiter und die Macht der alten Herrscher beschreibt als die meisten Berichte von 1994 zum 20. Jahrestag der Nelkenrevolution. Die ästhetische Komposition, die klare Sprachform und präzisen Beobachtungen haben dieser poetisch-dokumentarischen Revolutionsreportage ihre Lebendigkeit erhalten.
Bei der Beschäftigung mit dem literarischen Werk dieser Autorin wurde aber auch etwas Erschreckendes deutlich: es ist nahezu vom Literaturmarkt verschwunden, selbst die viel gelobten Autobiographien sind nicht mehr erhältlich. Lagerbestände kosten dem Buchhandel bekanntlich zu viel Geld, die Geschwindigkeit des Umsatzes muß mit der des sogenannten Zeitgeistes korrespondieren. Literarische Moden folgen immer schneller aufeinander, Bestseller werden gemacht und haben oft mit Literatur nichts mehr zu tun. In dieser Kulturindustrie, um den immer noch zutreffenden Begriff Adornos zu gebrauchen, hat Helga M. Novak kaum eine Chance, da hat sie nichts verloren, dem verweigert sie sich auch aus polnischer Distanz. Gegen diese ärgerliche Tendenz steht die von mir nicht unbedingt erwartete sehr positive Erfahrung, daß Studentinnen und Studenten die ihnen durchweg unbekannten und zumeist nur in der unbefriedigenden Form von Fotokopien vorliegenden Texte Helga M. Novaks regelrecht verschlangen und sich mit ihnen über ein ganzes Semester mit großer Intensität auseinandersetzten. Besonderes Interesse galt zum einen dem produktiven Verhältnis von poetischer Form und politischer Thematik, zum anderen dieser Kindheit in Deutschland, dem Mutter-Tochter-Verhältnis und den Anfängen der DDR. Zwar fehlten auch hier einige historische Kenntnisse, nahezu völlig unbekannt aber war jene Zeit vor knapp 20 Jahren in der Bundesrepublik, die als Deutscher Herbst bekannt ist. Wenn staatliche Gewalt, Überreaktion und Angst automatisch der DDR zugeordnet werden, dann liegt das meines Erachtens nicht nur an mangelndem historischen Wissen, sondern daran, daß hier einer der schwierigsten Zeitabschnitte der Bundesrepublik tabuisiert wird.
Warum Helga M. Novak lesen? Nein, diese Frage stellt sich für mich, die begeisterten Studentinnen und Studenten und viele andere Leser und Leserinnen nicht – im Gegensatz zu der durchaus ernst gemeinten Leitfrage des Gerrit-Engelke-Symposions von 1990 „Warum Engelke lesen?“ Ich sehe auch sonst kaum Gemeinsamkeiten zwischen dieser in vielerlei Hinsicht radikalen Schriftstellerin und diesem unentschiedenen, zwischen „Wolken und Großstadtrauch“ schwankenden, oft pathetischen und eklektizistisch schreibenden, autodidaktischen Autor des Jahrhundertanfangs. Immerhin: Beide sprechen ähnliche Themen wie Krieg, Großstadt, Natur, Liebe an und beide sind schwer in die Schubkästen der Literaturgeschichte einzuordnen, stehen quer zu den gängigen Kategorien und dominanten Strömungen, sie sind Außenseiter, deren übliches Schicksal sie erleiden: sie wurden häufig verkannt und sind nahezu vergessen. Deshalb ist dieser Gerrit-Engelke-Preis und seine Verleihung an Helga M. Novak doppelt wichtig.
Nicht der Blick des Siegers
Ein besonderer Kristallisationspunkt für Novaks schriftstellerische Arbeit scheint mir, für manchen von Ihnen sicherlich ein wenig überraschend – Hölderlin, nicht etwa Bertolt Brecht oder andere politisch engagierte Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Helga M. Novaks „dunkle Seite Hölderlins“, für mich ein Schlüsselgedicht, beginnt mit dem Blick zurück in die Kindheit, zurück zu den ersten Schreibversuchen:
eine handgeschriebene Seite
die meine Träume aufreißt
und mich bei Tage
in Finsternis hüllt
in der Schrift meiner ersten Schuljahre
Mit der Widerständigkeit des Schreibens, dem Widerwort, materialisiert in der harten Schrift, dem scharfen kratzenden Geräusch, dem spitzen Schreibwerkzeug im Kontrast zum Wortspiel des „weichen flüssigen Kulis“ fährt das Gedicht fort.
eine dunkle Seite und Hölderlins Schrift
heftig gespreizte Feder
jeder Ansatz ein Druck wider Druck
eine Schrift „als zöge eine Armee von Raben übers Blatt“
wie muß das geklungen haben
dieses Aufdrücken beim Schreiben
der harte kratzende Laut
(…) scharf
sind Schreibfedern gewesen
verglichen mit unseren weichen flüssigen Kulis
ja aus reinen Stichwaffen
haben wir Kulis gemacht
Im inneren Gleichklang mit Hölderlin – sichtbar im Zitat – betont Novak das Leiden an Deutschland:
dunkle Seite Hölderlins die mich zerreißt
wie können Wörter so voll Licht so finster aussehen
– Ihr Blüthen von Deutschland, o mein Herz wird
Untrügbarer Kristall an dem
Das Licht sich prüfet, wenn – Deutschland –
und das Gedicht endet mit Trauer, fast Verzweiflung, entsprungen der Kritik und dem Zweifel, endet mit Umnachtung entstanden aus politischer Finsternis:
ach Hölderlin
Vaterland haben wir keins
nur die üblichen hinter Orden
und gezogenen Läufen sich verbergenden Landesväter
immernoch
die Nacht auf deiner Seite war nicht die letzte
Wie bei Hölderlin ist auch Helga M. Novaks Blick nicht der des Siegers, aber auch nicht mehr ein sich seiner Stärke sicherer von unten wie in Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“, stattdessen ist immer wieder trotz Wut und Widerstand nicht nur Lähmung und Erstarrung, sondern auch Gefährdung spürbar. Diese Schriftstellerin ist in vielerlei Hinsicht heimatlos und sie zeigt – rücksichtslos und hart auch gegen sich selbst – ihre Verletzlichkeit und Schwäche, ihre Ratlosigkeit und Angst.
Fern aller Kategorien
Helga M. Novak greift Traditionen auf und ist doch eigenständig in Form und Themenwahl; trotz literarischer Experimente bleibt der Realitätsbezug immer gewahrt. Sie schreibt über Fabrikarbeit, aber ihre kurzen Prosatexte sind keine sogenannte „Arbeiterliteratur“: sie schreibt politische Lyrik, vor allem politische Balladen und Lieder, aber keine Agitprop-Literatur.
Die beiden ersten Bände ihrer Autobiographie liegen vor, aber trotz ihrer radikalen Offenheit passen sie nicht zu dem autobiographischen Modetrend der 80er Jahre, zur Väter-, Mütter- oder „Erfahrungsliteratur“ mit ihrer Betroffenheit und Innerlichkeit.
Helga M. Novak schreibt Liebesgedichte aus der Sicht eines weiblichen lyrischen Ich und sie thematisiert die Unterdrückung der Frau, ohne daß ihre Texte der gängigen Vorstellung von Frauenliteratur entsprächen, und selbst Novaks Gedichte über die Natur gehören wohl kaum zur Naturlyrik, wie wir sie von Goethe bis Loerke kennen. Schließlich hat Helga M. Novak zwei Reiseberichte veröffentlicht, einen politisch-dokumentarischen und einen politisch-fiktiven, ohne daß sie eine Reiseschriftstellerin ist. Die gängigen Kategorien passen nicht zu ihren Texten, diesen rabiaten und zugleich poetischen Kampfansagen an Unrecht, Lüge, Unterdrückung und Ausbeutung.
Weit entfernt von passivem Leiden, schwieliger Faust oder proletarischen Helden versammelt Helga M. Novak 1968 unter dem bösen Titel Geselliges Beisammensein ihre frühen Prosatexte, die nicht nur entfremdete Kommunikationssituationen aufzeigen, sondern auch eindringlich und zugleich nüchtern die entfremdete Arbeit im „Gefrierhaus“ einer isländischen Fischfabrik. „Wie gefroren erscheinen“ diese präsentischen „Zustandsschilderungen“, so daß es den Leser fröstelt.
Der Mensch, Arbeiter und Arbeiterin, treten hinter der Maschine zurück, werden ihr Anhängsel, verschwinden gar nahezu im monotonen Produktionsprozeß, gerade so, wie Marx die Verdinglichung analysiert hatte; auch der Fisch ist „kein Fisch“, sondern ein Ding. So auch im Text „Die Gefrierpfanne“:
Sie ist hellgrau und aus Zink.
Sie ist fünfmalfünf Ellen groß und für einen Mann zu schwer.
Kommt sie aus der Frostkammer, raucht sie und hat eine Rinde aus hartem Schnee.
Sie klebt an der Hand und nimmt Haut mit.
Ich bepacke sie mit Kartons voll Fisch
lautet einer der kürzesten Texte des Kapitels „Das Gefrierhaus“, die zusammen ein bedrückend kaltes Mosaik menschlicher Arbeit geben. Der Kritiker Reich-Ranicki vermißt den Menschen in diesen Texten – „Vom Mann am Fließband gilt es zu schreiben, nicht aber vom Fließband“ –; ihm paßt diese lapidar konstatierte Schwundstufe und die bis in die poetische Form spürbare Entfremdung nicht in sein literarisches Konzept.
Die späteren Erzählungen, 1971 gesammelt veröffentlicht unter dem Titel Aufenthalt in einem irren Haus, haben eine andere ästhetische Konstitution. Mit Hilfe der Montage von verschiedenen Textarten, zum Beispiel Reportage und Szene, Gesetzestext und Zeitungsausschnitt, Statistiken und Heimordnungen schreibt Novak über Macht und Machtmißbrauch in der DDR und der BRD, über die Ausgrenzung von Außenseiterinnen und Außenseitern, Ausländern und Frauen.
Emotionslos und zumeist ohne Kommentar liefert sie eine genaue Diagnose, ohne schnelle Lösungen anzubieten. Erneut ist auch das Schreiben selbst Thema – als Heimarbeit, als journalistische Arbeit, als Überlebenshilfe:
Weil ich nicht aufhören darf zu schreiben. Deswegen. Weiter. Weiterschreiben. Nicht nachlassen.
„Unsichthare Barrikaden aus Wörtern“
Auch viele Gedichte, vor allem die Balladen, erzählen politische Geschichten von Menschen, die ohnmächtig dem Staat, dem kommunistischen wie dem kapitalistischen, ausgeliefert sind und sich dennoch zu wehren versuchen, wie etwa die Sinti Carla oder die Türkin Nigar, wie der Stasi-Spitzel Winfried Schütze, der Legionär oder die reisende Anna. Jürgen Fuchs berichtet, wie wichtig diese Gedichte sozusagen als Konterbande in der DDR waren, denn – so Fuchs – sie „empören sich und sprechen aus, machen deutlich, daß wir täglich gedemütigt werden.“
LERNJAHRE SIND KEINE HERRENJAHRE
mein Vaterland hat mich gelehrt:
achtjährig
eine Panzerfaust zu handhaben
zehnjährig
alle Gewehrpatronen bei Namen zu nennen
fünfzehnjährig
im Stechschritt durch knietiefen Schnee zu marschieren
siebzehnjährig
in eiskalter Mitternacht Ehrenwache
zu Stalins Tod zu stehen
zwanzigjährig
mit der Maschinenpistole gut zu treffen
dreiundzwanzigjährig
meine Mitmenschen zu denunzieren
sechsundzwanzigjährig
das Lied vom guten und schlechten
Deutschen zu singen
wer hat mich gelehrt
Nein zu sagen
und ein schlechter Deutscher zu sein?
1975, im sogenannten Balladenjahr, erscheint neben Balladensammlungen von Delius, Artmann, Enzensberger auch Novaks Gedichtband Balladen vom kurzen Prozeß, in dem sie in der Tradition Brechts die Ballade zur Sozialkritik und zur kritischen Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Ereignissen verwendet. Es sind wütende und zugleich traurige Texte, knapp die Hälfte enden tödlich, die meisten anderen mit körperlichen oder seelischen Verstümmelungen und Verletzungen – es wird eben „kurzer Prozeß gemacht“.
Drei Jahre später, in dem wohl persönlichsten Gedichtband mit dem alltäglich klingenden und doch grotesk wirkenden Titel Margarete mit dem Schrank versammelt Helga M. Novak neben Gedichten über ihre Kindheit, neben Natur- und Liebeslyrik Gedichte wie „Septembernächte“ oder „Feindbild“, die die Hysterie des Deutschen Herbstes, Terror und Gegenterror, Angst und Ohnmacht ansprechen. In dem Gedicht „Lagebericht“ notiert Novak lapidar:
viele von uns sitzen noch
zornig
am Schreibtisch
viele von uns laufen noch
frei
herum
viele von uns schießen noch
gegen uns
mit ihren Gnadengesuchen
viele von uns denken noch
sie kämen durch
wenn sie ganz ruhig bleiben
In diesen Gedichten bedeutet Schreiben wiederum Widerstand; Schreiben heißt „unsichtbare Barrikaden aus Wörtern“ errichten. Gedichte sind „Synonyme für Meuterei“, wie Novak selbst formuliert.
Die Spannung von Klage und Hoffnung prägen auch Helga M. Novaks Liebesgedichte:
sieht so aus als hätte
ich das Fliegen verlernt
kann nicht steigen kann nicht fallen
flügellahm
sitze ich da und brüte
Liebeserklärungen aus
In kontrastiven Sprachfiguren und paradoxen Bildern wie zum Beispiel „Winterschlaf mitten im Sommer“, „mitten im Juli Schneefall“, „bei Tag Finsternis“ oder „totlebendig“ konkretisieren sich die Widersprüche, Lebenserfahrung ist auch Todeserfahrung.
Die „Meisterin der kleinen Form“
Für Helga M. Novaks Autobiographie Die Eisheiligen ist dagegen der Gegensatz von Kälte und Wärme konstitutiv. Während Tante Concordia und später mit zunehmender Politisierung die FDJ für den Wärmestrom stehen, bestimmt der Kältestrom nicht nur die familiäre Situation und die meisten menschlichen Beziehungen, er prägt auch den Sprachgestus dieses Textes. In einer spröden, oft nüchternen Sprache, ohne jede Wehleidigkeit, beschreibt die Autorin eine Kindheit voller Gewalt und Erziehungsterror; kleinbürgerliche Gemütlichkeit entpuppt sich als alltägliche Barbarei, die Familie ist eine „Falle“, das Kind das Opfer.
Wegen ihrer vernichtenden Kälte wird die Mutter im Text nur „Kaltesophie“ genannt. Doch der Vorwurf, der Haß gegen die Mutter sei übertrieben und zerstöre den literarischen Text, scheint mir nicht gerechtfertigt, denn mit der gleichen Schonungslosigkeit wird die Bosheit des Kindes bloßgelegt, das trotz vieler traumatischer Erlebnisse immer stärker vom Opfer zum Gegner wird; das Kind wehrt sich mit Zerstörungswut, mit Aggressivität, mit Selbstdestruktion und mit Schreiben – „ich schreibe überall meinen Namen hin“. Seine Gedichte unterschreibt es mit „Pancratia“, analog zu Pancratius, dem Eisheiligen, der mit allen Mitteln kämpft. Wie die Pluralform des Titels Die Eisheiligen zeigt, zwei Eisheilige stehen sich in einem erbitterten Machtkampf gegenüber.
Neben dieser Ehrlichkeit und Härte auch gegen sich selbst ist das Besondere dieser Autobiographie zum einen das Erzählen aus der Perspektive des Kindes, entsprechend seinem jeweiligen Alter, so daß es nur wenige Kommentare und Reflexionen der Erzählerin gibt. Zum anderen gelingt der Autorin eine enge Verflechtung von persönlicher und historisch-gesellschaftlicher Entwicklung, Familien-Psychogramm und Gesellschaftsanalyse.
Eine strenge Chronologie der Zeit von 1939 bis 1951 bildet den festen Rahmen für ein kunstvoll komponiertes Mosaik; an die Stelle des erzählerischen Kontinuums tritt die Collage. Wie an einem Schneidetisch montiert die „Meisterin der kleinen Form“, wie Helga M. Novak oft genannt wurde, literarische Formen und Stil ebenen – Gedichte stehen neben kleinen dialogischen Szenen, Monologe neben Berichten, anaphorische Aufzählungen neben Geschichten, politische Parolen neben Träumen und Briefen, poetische Formen neben Umgangssprache und dialektalen Ausdrücken.
Am Ende des Textes ist die Ablösung von der Familie geglückt – „An meinem sechzehnten Geburtstag zog ich dann ins Internat“, ein offenes Ende, das in dem letzten Satz – „Auf der Mauer waren Glasscherben einzementiert.“ – allerdings darauf hinweist, daß die Erstarrung durch das Eingeschlossen-Sein abgelöst werden wird.
Die „totale Autobiographie“
Dieses Schluß-Bild wird in Vogel federlos wieder aufgegriffen und in einem hoffnungsvollen Anfang korrigiert:
Die gekalkte, zweimeterhohe Mauer war gekrönt von etwas Zackigem, scharf und blitzblank. Doch was da schimmerte, waren keine einzementierten Glasscherben. Von der Mauerkuppe leuchtete geschmiedetes Eisen, als sei es mit Silberbronze überzogen. (…) Es war ein glänzender Salut.
Die Kältemetaphorik tritt nun zurück hinter dem Rätsel vom „Vogel federlos“:
Es flog ein Vogel
– federlos
der setzte sich auf einen Baum
– blattlos
da kam eine Frau
– fußlos
und nahm ihn gefangen
– handlos
sie hat ihn gebraten
– feuerlos
und hat ihn gefressen
– mundlos
In dem althochdeutschen Rätsel, das Helga M. Novak hier nahezu wörtlich übersetzt und dessen einzelne Zeilen als Titel der sechs Kapitel auch formal die Autobiographie strukturieren, ging es um eine Schneeflocke, die in der Wärme der Sonne dahinschmilzt. Jetzt geht es, so sehe ich es jedenfalls, um die junge Helga M. Novak, deren Individualität sich aufzulösen droht, vereinnahmt von „Mutter Partei“ und „Vater Staat“, wie es im Text heißt. Doch da die junge begeisterte Kommunistin ihrer Radikalität treu bleibt, sperrt sie sich, was zur Folge hat: Revolte, Melancholie, Ekel und vor allem im Zentrum und fast genau in der Mitte des Textes – nach dem Kontakt mit der Stasi – Scham.
die Scham werde ich ihnen nicht vergessen
die Scham werde ich ihnen nicht verzeihen
die Scham werde ich ihnen für immer nachtragen
die Scham bringe ich noch an den richtigen Mann
die Scham werde ich ummünzen in Werweißwas
Als eindringliche Schlußfolgerung wird zehnmal nacheinander wiederholt: „ich muß hier weg“.
Diese „Schulgeschichte“ erstreckt sich über den Zeitraum vom Herbst 1951 bis zum Sommer 1954, sie ist stärker gesellschaftspolitisch geprägt als der autobiographische Text über die Kindheit, was auch an der intensiveren Verwendung von öffentlichem sprachlichem Material in der ansonsten vergleichbaren Montagestruktur zu erkennen ist.
Am erneut offenen Ende steht eine auffällige Zerrissenheit:
die Kaderschmiede hat den Staub der Vergangenheit nicht von mir abgewischt, (…), und ein Kader wird aus mir nie und nimmer, das ist vorbei, (…), ich bin allein und was ich nicht selber mache, wird kein anderer für mich tun, frei sein heißt ab jetzt alleine sein. (…) das ist ja verrückt, was will ich denn ohne die anderen anfangen, es ist mein Land und mein Sozialismus (…)
Diese „totale Autobiographie“, wie Helga M. Novak selbst die beiden Bände nennt, sind Erinnerungsbücher an die NS-Zeit, Krieg und die Anfänge der DDR „mit ihren Eisheiligen und uneingelösten Rätseln. Zwei Bücher zum Nachdrucken und zum Kennenlernen unser aller Vergangenheit“, wie 1990 der DDR-Autor Fritz Rudolf Fries betont. Ich denke, es ist auch unsere Vergangenheit.
Im Schwanenhals heißt der dritte in Arbeit befindliche Band der Autobiographie, die die Zeit von 1955, dem Beginn des Studiums, bis zur Ausweisung 1966 umfaßt. Doch der poetische Titel „täuscht“. „(…) – ein Schwanenhals? Das ist eine Falle. Auch Berliner Eisen genannt. Eine Falle, um Marder, Füchse und Iltisse zu fangen“, wie die Autorin in dem schon erwähnten Brief klarstellt. Nach der Falle der Familie nun also die des sogenannten real existierenden Sozialismus?
„Der Traum bleibt offen“
Der leidende und revoltierende Mensch als Individuum, in der Familie, im politisch-gesellschaftlichen Kontext steht ohne Zweifel im Mittelpunkt von Novaks literarischem Werk. Daneben aber spielt die Natur in allen Phasen von Helga M. Novaks Schreibprozeß eine große Rolle – antiidyllisch, unromantisch und ohne jegliches Pathos. Zumeist zeigt sie uns Natur als Landschaftsbild mit seiner spezifischen Korrespondenz von Natur und Mensch, zum Beispiel die Landschaft der Kindheit bei Berlin – Löcknitz, Werlsee, Peetzsee, Möllensee, Grünheide oder die elegische Landschaft Islands – „HIER REISST DIE ERDE sich / die Haut vom Leibe / zeigt ihre alten Wunden her / Herzgrube rostrote Eingeweide“, dann die zerstörte Natur in der Metropole Frankfurt und die umkämpfte Landschaft aus „Asche und Sand“ mit ihren Korkeichen, Eukalyptus- und Olivenbäume im Ribatejo; aber auch die „traurige Gegend“ der Rhön:
was für ein Wind
der das Gesicht benetzt
und die Lippen zerreißt
was für ein Wind
der die Arme ausleiert
und Knüppel zwischen die Beine wirft
und die erträumte Natur im fernen Sibirien:
Gefieder aus Eis und Reif
die Birken haben sich in Schwäne
verwandelt grauhaarig
wenn sie sich schütteln
In Märkische Feemorgana, dem letzten Gedichtband, schließlich wird die Landschaft der Kindheit Schicht für Schicht abgetragen, eine Traumreise in die geologische, geographische und frühgeschichtliche Vergangenheit der Markbrandenburg, ein Graben in archaische Zeittiefe, zu verstehen auch als individuelle Befreiung von früheren „Schlagverletzungen“, „Masken“ und Gefühlen der Sehnsucht – „HIER SCHLECHT GEDULDET grabe ich / mich hinunter zu den frühern Leuten“. Diese Natur bietet einen „Rastplatz“ zum „ausruhen“:
KEIN ZUFALL daß ich hier gelandet bin
das Licht hat mich hergezogen
dies Gelb dies Grün sind anderswo anders
und nirgends riecht der trockene Sand wie hier
anstatt weiterhin Landschaften abzugrasen
habe ich mich verschrieben – (…) der märkischen Landschaft.
Helga M. Novak scheint „angekommen“ – „und bin hier gelandet für immer“, heißt es am Schluß des eben zitierten Gedichts –, nachdem sie zuvor mit Legende Transsib noch ein fiktives Reisebuch geschrieben hatte. Da ihr ein Visum für Sibirien, ihre „geographischo Utopie“, „verwehrt wurde“, hat sie sich „den Landstrich schreibend angeeignet“, in Phantasien, Impressionen und Imaginationen.
„Trotzdem ist es natürlich nicht dasselbe, als wäre ich dort gewesen“, schreibt sie in ihrer Nachbemerkung.
Das Bündel sinnlicher Wahrnehmung fehlt. Ich weiß nicht, wie es in Sibirien riecht oder schmeckt, wie sich die Dinge anfühlen oder anhören. Ich habe das Sibirische Weiß nicht gesehen. Der Traum bleibt offen.
Die beiden letzten Bücher belegen, daß die Natur, für Helga M. Novak seit ihrer Kindheit von großer Bedeutung, ihr immer wichtiger wird, denn, wie sie in dem schon zitierten Brief schreibt,
Utopien wird es weiterhin und wiedergeben. Philosophie lebt solange wie es Menschen gibt. Der Traum vom anderen, besseren Leben im Diesseits hört nicht auf. Diesmal wird er sich vom Produktionsmittel weg und der Natur zuwenden, in unseren Breitengraden jedenfalls.
Sinnliche Wahrnehmung, gesellschaftliche Erfahrungen und intellektueller Zweifel sowie Realitätsbezug, klare, zumeist nüchterne Sprache und poetische Experimente machen Helga M. Novaks Texte zu einer politischen Literatur eigener Dimension. Ohne den Gestus von Innerlichkeit und Betroffenheit schreibt sie über und für die Außenseiter unserer Gesellschaft – sich selbst eingeschlossen, also für die „mit dem dünnen Fell“, „den weichen Augen“, „dem derben Maul“, wie es in dem Gedicht „untauglich“ aus dem zweiten Gedichtband heißt.
Die Entwicklung in Deutschland wird sie weiter mit aufmerksamem Blick aus der Ferne beobachten, vielleicht sich auch mal wieder einmischen, „froh, daß dem Stasi-Staat ein Ende gesetzt ist“, mit Sorge, daß „wir (…) den Ausländern und unsern Nachbarn großes Unglück bringen“, wie sie aus Polen schreibt. Deutsche Zerrissenheit in einem vereinigten Land.
Florian Vaßen, die horen, Heft 181, 1. Quartal 1996
Vorstellung der Laureatin Helga M. Novak zur Überreichung der Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung am 11.11.1994 im Schillermuseum zu Weimar
„wie überleben? / wie die Geschichten überleben und die Lehren/ aus der Geschichte?“ – „wie überleben? / wie diesen Tag überleben und den nächsten? / wie den lauten, schweigenden Tag überleben, / seine Transitvisa und Laufpässe?“ „Wie überleben?“ – um diese bohrende Frage, refrainartig wiederkehrend, kreist der „Monolog eines Buchhändlers“, ein Text aus dem Erzählungsband Aufenthalt in einem irren Haus (1971). Helga M. Novak war Buchhändlerin, Laborantin, Monteurin, studierte drei Jahre Philosophie und Journalistik in Leipzig, heiratete nach Island, arbeitete dort in Fabriken, lebte zeitweilig in Portugal, in Jugoslawien, studierte kurze Zeit am Leipziger Literaturinstitut, mußte nach Aberkennung der Staatsbürgerschaft innerhalb von 24 Stunden die DDR verlassen, wurde Isländerin, lebte längere Zeit in Frankfurt a.M. und im Grabfeld, jetzt in Polen. Die bewußt nicht chronologisierte Vita, in der etliche Stationen ausgespart wurden, verweist auf Brüche sonder Zahl, auf Schwierigkeiten, auf ein hartes Leben. Helga M. Novak war von früh an gezwungen, ihr Leben in fortwährender Selbstbehauptung zu führen. Es galt, Widerstand zu leisten gegen Repressionen vieler Art, gegen Entfremdung am Fließband, gegen die Verstaatlichung des Körpers und Geistes. Bei Adoptiveltern in und am Rande von Berlin aufgewachsen, wurde Schreiben von Kindheit an zur Überlebensstrategie. Schreibend gewann sie die Kraft, um sich zu wehren und durchzusetzen. In der DDR konnte keines ihrer Gedichte erscheinen, sie schrieb zu unmißverständlich, ihre Aussagen waren zu eindeutig. Ab 1965 erschienen ihre Gedichtbände im Luchterhand Verlag, später auch im Rotbuch Verlag. Den schwierigen Prozeß der Selbstwerdung und Selbstfindung schildert sie, die um 1950/51 in der Partei ihre Ersatzeltern gesehen hatte, in zwei autobiographischen Romanen. Die Eisheiligen (1979) und Vogel federlos (1982). Beide Bücher fanden großen Widerhall, allerdings nicht im Osten, da blieb sie bis in die Gegenwart weithin unbekannt. Seltsame Nachkriegswirkungen? Peter Bichsel schrieb zu Die Eisheiligen:
Die Autorin hat denselben Jahrgang wie ich, und sie erzählt mir hier etwas, was mich schon als Kind brennend interessierte. Niemand hat das bisher so hart und poetisch zugleich getan.
Das zweite Buch knüpft unmittelbar an und schildert die Jahre 1951–1954 in einer der Kaderschmieden des Landes, in der Internatsoberschule W. wie Waldsieversdorf am Rande der Märkischen Schweiz.
Kader sind zuverlässige, verantwortungsvolle, politisch bewußte und parteiliche Funktionäre, die der Arbeiterklasse und dem Aufbau des Sozialismus dienen – wie Stalin sagt „Die goldene Reserve!“.
Der Glückszwang, hinter dem sich so viele Zwänge verbargen, in der sozialistischen Eliteschule geriet zu einem Gang der argen Erkenntnis. Von all den Hoffnungen blieb nur die Asche der Gläubigkeit, bestreut mit grenzenloser Trauer. Erst wenn man diese Bücher kennt, wird man die Härte, das Schroffe ihrer Balladen und Lieder verständnisvoller nachvollziehen. In dem vorerst letzten Gedichtband Märkische Feemorgana (1989) überrascht sie mit archaisierenden Rückgriffen und einer sarmatischen Landschaft, die sie in einen prähistorischen Kontext stellt. Da ist jemand auf der Suche nach einer „verschütteten Menschheit“. Was über der Erde verlorenging, wird in ihr gesucht. Ich lese diese Identitätssuche als einen Protest, als Grabungs-Versuch, Menschliches nicht aufzugeben, es noch in den entferntesten Erdwinkeln und Erdzeitaltern mit dem Spaten auszuheben.
Wulf Kirsten, Ehrengaben 1994, Deutsche Schillerstiftung Weimar
Lebenswege
Die Dichterin Helga M. Novak. Ein Feature von J. Monika Walther
Die verlorene Tochter. Ein Skandal: Helga M. Novak darf nicht nach Deutschland
Ulrich Schäfer-
Utz Rachowski: Wie ich die große Dichterin Helga M. Novak verpasste
Bernd Markowsky: „Wenige haben so viele Grenzen hinter sich gelassen wie wir“
Andreas Reimann: DDR ausprobieren
Hannes Schwenger: „Ich wohne bei der Eule“
Hans Altenhein: Transsibirische Reise
Zum 70. Geburtstag der Autorin:
Michael Braun: Schöne Verwilderung
Neue Zürcher Zeitung, 8.9.2005
Fries, Fritz Rudolf: Versuch einer Liebeserklärung
Neues Deutschland, 8.9.2005
Thomas Poiss: Dichtermut, Dichterjubel
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.9.2005
Zum 75. Geburtstag der Autorin:
Ulf Heise: Anarchin in polnischer Klausur
Märkische Allgemeine Zeitung, 7.9.2010








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