DER GROSSE WURF
der große Wurf hat uns zurückgeworfen
die Katastrophe in die Flucht gejagt
der Landstrich hier ist keine Nische
sondern eine letzte Chance
Steinzeit und Televisor Holzfeuer und Brot
so gerade war noch kein Weg zum Friedhof hin
die Wintermänner fällen Holz mit alten Sägen
Helga M. Novaks Gedichtband Silvatica erzählt von ihrem Leben in ihrer Landschaft, vom Leben im polnischen Wald, vom Leben jenseits westlicher Sehnsüchte, von einer Form der Existenz, die, einsam und selbstgewählt, Freiheit bedeutet in einem ungeheuren Maße.
Entwurzelt, aber doch ganz bei sich, im Wald, in den Pilzen, im Leben mit und von den Tieren:
vom Wild reden und einem Wildtöter
von der Heide Birken und Kiefernkulturen
den Abbau ignorieren und den Verfall
ungnädig den Widersinn die Angst wegstecken.
Helga M. Novaks Verse, scheinbar sachlich, oft eckig, fast schroff, sind reich an intensiven Bildern, voll Schönheit und Kraft, voller Leidenschaft, zart, bisweilen wehmütig, immer aber selbstbewußt und einzigartig.
Schöffling & Co Verlagsbuchhandlung, Ankündigung
Vom literarischen Leben hat sich die Dichterin Helga M. Novak schon lange zurückgezogen. Lesungen, Interviews und Preisverleihungen gibt es nicht beziehungsweise finden ohne sie statt. Novak, die in diesem Herbst 75 Jahre alt wird, lebt seit 1987 abgeschieden in Polen. Sie sitzt dort buchstäblich mitten im Wald; sie hat sich selbst ein Haus gebaut, in dem sie schreibt. Mit ihrem zuletzt veröffentlichten Gedichtband Silvatica hat sie diesem radikalen Leben ein Denkmal gesetzt – und sich ihren eigenen Mythos erschrieben, in dem die Natur, die Tiere, Wilderei und die Einsamkeit sowie Erinnerungen eine Rolle spielen. „Artemisleben“ heißt das letzte Kapitel dieses aufregenden Buches. Darin verwandelt sich das lyrische Ich zu Artemis, der Göttin der Jagd, die ihre eigenen Wälder, ihr Revier, durchstreift.
Das hier abgedruckte Gedicht ist ein Hohelied auf den Wald, in dem das lyrische Ich ein Zuhause gefunden hat. „Dieser Wald Traum meiner Kinderjahre“, heißt es da, und obwohl der Wald „zerschossen und / gerupft“ ist, also wie seine Bewohnerin Kriege und Leiden ausgehalten hat, so bietet er doch Deckung und Schutz, er ist Heim und „dauerndes Versteck“. Da diese Umgebung sich ständig verändert, wird der geschilderte Spaziergang zum abwechslungsreichen Spektakel: Man kann durch die Bäume schnüren oder schleichen oder pirschen; man kann verharren. Das ist einerseits Abenteuer und andererseits Notwendigkeit.
Der Wald bietet Schutz, das wird mehrfach gesagt. Dazu gehört auch, dass er Material zur Verfügung stellt: „reiße weiße Rinden ab sie mir / um die Waden zu wickeln wie Birkibeinar“. Dies ist Geschichte, eingewandert ins Gedicht: Die „Birkebeiner“ waren norwegische Rebellen, die von ihren politischen Gegnern während des Bürgerkriegs so benannt wurden, da sie nach einer anfänglichen Niederlage in die Wälder flüchten mussten und bei der Kälte ihre Waden mit Birkenrinde umwickelten. In einem anderen Gedicht der Novak aus Silvatica, „gehen wir kirren“, steckt sich das lyrische Wir bei Kälte Dachsfellstücke in die Schuhe. Besucher von Helga M. Novak in Polen berichten, dies sei ein autobiographisches Detail. Erlebtes, Erdachtes und Erlesenes ist in die Gedichte geflossen, und so finden wir Leser uns vor Zuständen wieder, die über jedes Maß des Gewöhnlichen hinausgehen.
„Dieser Wald“ ist, wie so viele Naturgedichte der Novak, ein Liebesgedicht. Zwar kommt die Liebe hier ganz ohne menschliches Gegenüber aus, aber wie bei jeder großen Liebe gibt es auch hier „nur den einen“ – den einen Wald in diesem Fall, „und kein anderer reicht bis nach Sibirien“. Bewunderung, Dankbarkeit und Demut mischen sich in immer neuen Verhältnissen. „Dieser Wald setzt mich in Brand“, heißt es an einer Stelle, dann wieder „streichelt“ der Wald zärtlich „die gefurchte Stirn“. Liebe erscheint als natürliche Verfassung, die Natur als Spiegel, Kulisse, Maßstab. Und wie in jeder Liebesgeschichte gibt es auch hier Höhen und Tiefen: Die „grüne Brücke“ ist zugleich eine „kahle Brücke“, das „Obdach“ bedeutet auch „Verwilderung“, mit allen Gefahren, wie etwa der möglichen Entfremdung von der Menschenwelt. Doch dies erscheint zweitrangig, vor allem wird das Alleinsein genossen. Diese Einsamkeit ist die melancholische Befindlichkeit derjenigen, die viel erlebt haben – sie ist erhaben und stolz. Es ist eine „heilsame Einsamkeit“, und das Sich-Hinziehen des Waldes wird gegen Ende des Gedichts verglichen mit einer „alten Liebe“. Wieder ist dies der Hinweis auf alles, was das lyrische Ich erfahren musste, um zu Artemis werden zu können: Artemis hat menschliche Liebe erlebt, aber dieser Abschnitt ihres Lebens ist vorbei. Nun lebt sie zwar weiterhin in Liebe, doch es ist eben eine ganz andere Ausdrucksform, die das Gefühl sich geschaffen hat. So schön und so stolz und so wenig wehleidig hat kaum eine Verlassene gelebt.
Während die große Liebesdichterin Ingeborg Bachmann ihre Utopien folgerichtig in Scheitern und Nihilismus enden lässt, wenn sie die mythische Rede nutzt, so wird hier eine neue Lebensart beschrieben und gefeiert: Hier ist Mythos nicht der urtümliche „Schrecken an sich“, wie Hans Blumenberg es begrifflich fasste, sondern er stellt das erste Mittel dagegen dar. Handeln, Kämpfen, ja auch Rache stehen Gefühlen von Wut und Ohnmacht gegenüber. Man erinnere sich: Als Artemis’ Lebensgefährtin, die Nymphe Kallisto, von Zeus beschlafen worden war, verwandelte Artemis sie aus Wut in einen Bären. Ingeborg Bachmanns zweiter und bereits letzter Gedichtband hieß Anrufung des Großen Bären. Auf der einen Seite des Lyrikolymps steht die Sängerin Bachmann, auf der anderen die Verwandlerin Novak; die Lyrikgötter können sich glücklich schätzen.
– Helga M. Novak als Lederstrumpf in den polnischen Wäldern. –
… sie sucht das Land Atlantis
und ist mehr als hundert Jahr
doch als sie einst geboren war
da war das Land noch da:
Das ist der Refrain eines Trinkliedes, dessen mancherlei Rätsel keinesfalls den Freiheiten der Kunst geschuldet sind, denn die ist abgängig. Als Rechenexempel geht der Vers nicht auf. Die alte Bohémienne, die gemeint ist, sitzt mitten unter uns im Ratskeller und schlingt Spinat „gleichwie ein Ackergaul“. Krumme Zahlen, wirre Bilder eines Textes, der um Sympathie wirbt, nicht um Verstehen.
In Brechtscher Manier wird die volkstümliche Form dem Gebrauchsgegenstand Gedicht nutzbar gemacht, freilich ohne die kluge Artistik der Brechtschen Nutzlyrik. Die primitive Form, hier, entspricht dem Selbstbild, das in dem malerischen Konterfei des ungekämmten, fluchenden „Liederluders“ steckt. Mit der Figur erfindet Helga M. Novak sich eine malerische Aussenseiterexistenz im technischen Zeitalter.
Die frühen, zwischen 1955 und 1979 entstandenen Gedichte der heute 63jährigen Autorin sind lyrische Traktate, Plakate, Fahnen. Eine Barrikadenkämpferin zunächst in der DDR, dann in Westdeutschland wirft ihre zornigen, aber sprachlosen Botschaften aufs Papier. Der Rohzustand der Gebilde verhindert die Ausbildung eines eigenen Tons auch dort, wo die Autorin zu leisen Tönen findet, etwa in einer graphologischen Studie der Schrift Hölderlins und einem Spiegelbild mit betrunkener Dame. Kenntlich ist ihre Stimme als zeittypische. Die subjektive Signatur fehlt.
Figurenmuseum
Wo dergleichen in Umrissen auftaucht, handelt es sich um Posten aus dem romantischen Figurenmuseum der Kunst, um polnische Deserteure, die Zigeunerin Carla, die fahrende Anna oder den Menschenartigen in der sibirischen Steppe. Es sind gegenzivilisatorische Phantasien um eine stammelnde, ungewaschene, aber originale Menschheit, die seit rousseauistischen Zeiten ihre rückwärtigen Kreise ziehen. Im Werk der Autorin erstarren sie zu Stereotypen. Die jüngst zur Welt gebrachte Silvatica könnte Medea heissen, an die vor zwanzig Jahren eine Solidaritätsadresse ging.
Die Schroffheit und Sinnlichkeit der Verse ist gelobt worden, als der Zyklus im vergangenen Jahr erschien. Aber ist dies nicht die geleimte Roheit des rustikalen Stils? Helga M. Novak, die seit 1987 in einem polnischen Dorf hinter Gdansk lebt, baut noch einmal die alten wildidyllischen Kulissen für das „umfangend umfangene“ Ich im Schosse der Natur auf, als habe es Heine und das Gespräch über Bäume nie gegeben, als sei Natur nicht längst ein Notstandsgebiet, das als Reservat überlebt.
Zwar ist immer wieder von Frevel, Mundraub, Verfall, ja vom Weltuntergang die Rede. Aber was entsteht, ist eine literarische Antiquität in Brueghelscher Manier mit schleichenden Wilderern, geduckten Fährtenlesern, lauernden Fallenstellern, Korbflechterinnen, ans Hoftor genagelten Eulen und einer Silvatica, die im Buchenhain die Abendmahlzeit mit dem wilden Mann teilt und „unter Fichten wie Butter in der Sonne“ schmilzt, wenn sie an ihn denkt. Die blinde Einverleibung der Natur rächt sich.
Die Redseligkeit, mit der die Wildheit des Szenarios und ein Lebenszusammenhang im Zeichen der Liebesjagd beschworen werden, verschweigt das Wesentliche, dass die Natur stumm, ihre Zeichensprache flüchtig und rätselhaft ist. Es ist die Kunst, hier eine ihre Form- und Ausdrucksnöte als Wildnis tarnende Kunst, die sie zum Sprechen bringt. Nicht Baum und Borke, sondern eine glücklose Autorin spricht, wenn am Ende die Zukunft befragt wird:
nach meinem Tod die Seele (…)
wieviel Herzen habe ich pochen hören
Seelen keine und ich wünsche niemand
erlitte die Qual eine Art Herberge
meiner Seele später zu werden solche
Strafe hat wirklich keiner verdient
mein Herz aber wird zerfallen schade
Ballade von der reizenden Anna, Colloquium mit vier Häuten, Wohnhaft in Westend, Die Landnahme in Torre Bela, Balladen vom kurzen Prozess, das waren, zwischen 1965 und 1976, die Bücher, mit denen Helga M. Novak als Stimme des Protestes bekannt wurde. Als nach den Anklage- und Bekenntnisschriften über die SED-Herrschaft, den Frankfurter Mietwucher, die Lage türkischer Arbeiterfrauen hierzulande, die portugiesische Agrarreform – als 1978 der Gedichtband Margarete mit dem Schrank, dann, 1979 und 1982, die beiden Bände ihrer Kindheitserinnerungen erschienen, Die Eisheiligen und Vogel federlos, schien sich das Protestorgan in eine Person zu verwandeln.
Im Takt mit der Neuen Subjektivität der späten siebziger Jahre entdeckte Helga M. Novak den subjektiven Faktor, entdeckte die Privatheit des alltäglichen Faschismus und erzählte ihre Kindheit, erzählte von Adoption und mütterlicher Kälte, von Züchtigungen und ohnmächtiger Gegenwehr, vom politischen Opportunismus der Eltern in der Hitlerzeit, vom Einzug des Kriegs in das havelländische Leben, von Evakuierung, Ruinen und dem Einmarsch der Russen, eine Elendsgeschichte, die mit dem Beitritt zur FDJ und dem Eintritt der 16jährigen in ein FDJ-Elitegymnasium erst recht beginnt.
Schmelzende Schneeflocke
Nach Jahren der Indoktrinierung und militärischen Schulung verlässt die einst zur Sonne, zur Freiheit aufbrechende „Hundertfünfzigprozentige“ die Anstalt als schmelzende Schneeflocke. Das ist die Auflösung jenes Rätselverses über den Vogel federlos, der sich auf einen Baum setzte, blattlos, den eine Frau fing, fusslos, briet, feuerlos, und ass, mundlos. Nach dem vorjährigen Erfolg ihres Gedichtbandes Silvatica hebt ihr Verlag die Bücher nun noch einmal ans Licht.
Den „Anton Reiser“, der in ihrem Stoff steckt, erzählt die Autorin nicht. Dem erzählerischen Organismus des Bildungsromans setzt sie ein vielstimmiges Gebilde entgegen, in dem Gedichte, Briefe, Dialoge, Erinnerungsbilder, Zitate aus marxistischen Lehr- und Geschichtsbüchern einander abwechseln. Offenbar soll im Spiel und Gegenspiel der Diskurse die rückschauende Sinngebung des Erinnerten verhindert werden.
Das Bild an der Spitze des Lebensberichts zeigt zwei weibliche Gestalten am Meeresufer, eine Frau mit Kind, die ein Schiff weit draussen betrachten. Als plötzlich die Schiffssirene losheult, fällt das Kind vor Schreck hin und versucht herauszufinden, ob das Schiff sich entfernt oder näherkommt. Es möge den Lärm abstellen, wünscht es sich, und ans Ufer kommen. Bleiben Fragen. Wie kann ein Schiff auf hoher See am fernen Ufer solchen Lärm erzeugen? Wie passen Erschrecken und Neugier des Kindes zusammen? Die Unlogik der Faktenlage deutet auf eine kindliche Erzählstimme. Aber dann lenkt die Szene im Zentrum den Blick um: „Ich schlage lang hin und breite die Arme aus. Kaltesophie stellt mich wieder auf und drückt mich mit dem Rücken an die Wand.“
Die Kinderstimme behauptet eine Form des Erinnerns, der die Struktur des Bildes entschieden widerspricht. Es geht der Erzählerin nicht wirklich um die Rekonstruktion des frühen Erlebensmomentes. Der Gewaltszene fehlt die präsentische Struktur solcher Formen des Vergegenwärtigens. Nicht Erinnerungsdruck erzwingt den Bericht, nicht die traumatische Präsenz des Erlebten. Helga M. Novak erzählt in der ausgeruhtesten Form, chronologisch. Ihr Anliegen ist die Botschaft, die in der Gewaltszene steckt. Das Bild, das die Handlung ins Räumliche überführt und stillstellt, verstärkt die affektive Wirkung.
Es ist dieses Signalement, das zum Opfermonogramm des Kindheitsalbums wird. Das Material, das vom Gedächtnis zutage gefördert wird, ist so wirr wie alle Lebenswirklichkeit. Die Zeichenschrift aber, die ihm entnommen wird, ist immer dieselbe, einerlei, welche Bühne aufgeschlagen wird, welche Mitspieler auftreten, ob das Kind oder die Halbwüchsige Gegenstand des Erzählens ist. Die vorgebliche Zweistimmigkeit ist eine Erzählmaskerade, hinter der sich eine erzählende Ideologin verbirgt.
Wo das Widerspiel der Kräfte fehlt, von dem Goethe in seiner Vorrede zu Dichtung und Wahrheit spricht, wo der Schriftsteller das Kind seiner Zeit ist, nicht zugleich auch ihr Widerpart, wird das Werk zum Schatten seiner Zeit. Helga M. Novak, 1935 in Berlin geboren, gehört zu den Autoren, deren Bücher in Spiegelschrift die Zeit, kaum etwas vom Menschen lesbar machen.
– Idylle und Anarchie: Ilma Rakusa und Helga M. Novak. –
(…)
Nicht minder vom Akustischen geht Helga M. Novak in ihrem Band Silvatica aus. Sie begibt sich an einen Ort, der traditionell immer noch als der Inbegriff der Idylle gilt: der Wald. Der Titel Silvatica ließe Waldliedlein vermuten, hymnische Gesänge an die Natur, romantische Oden gar an Bäume und munteres Halali, Rückzugsverse aus der rauhen Wirklichkeit, zumindest Abseitiges. Das Gegenteil ist der Fall. Nach zahllosen Irrfahrten und Fluchten ist die nunmehr zweiundsechzigährige Helga M. Novak in einem letzten Refugium angekommen, das zum Modellfall wird.
Als Artemis, Göttin der Jagd, und erotisierende „Wilde Wibe“ der Sage durchstreift das Ich mit dem Geliebten Eustachos den polnischen Wald in Masuren: ein Leben voller Verrücktheiten, Rasereien und Melancholien Gryphiusschen Formats, Eine Gesellschaft von Jägern und Gejagten wird vorgeführt, eine archaische Daseinsform, in der der Mensch sich selbst als freies Naturwesen erfährt. Nicht nur das Auge, auch Gehör, Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn erhalten wieder ihre ursprüngliche Bedeutung. So sinnliche Verse las man lange nicht. Im Bewußtsein der Endlichkeit des eigenen Lebens und mit der Erkenntnis, daß der Mensch und die Evolution eine vorübergehende Erscheinung sind, wird alles wie zum letzten Mal erfahren: die Erde, die Liebe, die Wärme, die Kälte, die Landschaft, die Tiere, Alles geschieht in größtmöglicher Nähe: das Spurenlesen, das Kirren, das Davonschnüren. Eine aussterbende Sprache, die der Wilderer, wird ohne Punkt und Komma mit salopper Umgangssprache verknüpft, mit kunstvollen, aber nicht künstlichen Metaphern in Kippfiguren verwandelt, die – je nach Lesetempo und Assoziationsbereitschaft – mal die Natur selbst beschreiben, mal eine zerbröselnde Kultur in ihren sozialen Umrissen, dann wieder politische Situationen karikieren.
Das nenne ich eigentlich subversiv: mit der akribischen Beschreibung archaischer Tätigkeiten Politdebatten ad absurdum führen, mit Wortspielen um Aufschneider und Abschneider das Elend deutscher Debatten erhellen. Dieses Singen beim Ausweiden, das Abbalgen, Rupfen und Häuten, dies Verwildertsein erweist sich als die eigentliche Zivilisation, das zum Frevel Erklärte als die humanere Daseinsform. Wenn Subversivität in der Lyrik das Unterwandern und Umstürzen von Wahrnehmungsrastern mittels Sprache ist, ist Helga M. Novaks Silvatica tatsächlich umwerfend mit ihren unvermutet im Vers auftauchenden Unter-, Ober- und Zwischentönen, den mehrfachen semantischen Böden und changierenden syntaktischen Bezügen. Das sind Sprachspiele von höchstem Niveau, nicht im Vakuum, sondern in einem geschichtlichen und naturgeschichtlichen Raum.
Während die Szenerien im Gedicht einander überlagern und überschneiden, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Moment des „allgemeinen Gefügezusammenbruchs“ in Sprache festgehalten werden, kommt das Ich zu sich selbst. Hinter der Wendung „mein verlorenes / zurückerobertes Gesicht“ im Gedicht „wo ich jetzt bin“ darf ausnahmsweise die Autorin selbst vermutet werden. In Verben ahmt sie das Tarnverhalten von Tieren nach, in Zeilenbrüchen benennt sie kreatürliche Erschütterungen. Wo IIma Rakusa Stilleben mit streunenden Tieren entwirft und Ziegenböcke mit Nirwanablick ausstattet, alle Lebewesen auch anders daherkommen könnten, ihre Bewegungen also beliebig sind, geschieht bei Helga M. Novak alles mit biologischer und soziologischer Notwendigkeit. Auch ihre Liebesgedichte – im Kapitel „Duelle“ zusammengefaßt – sind – bei allen Spielen mit Sternkreiszeichen und tragikomischen Situationen, mit ihren lockeren Sprüchen und Wortbrüchen, mit Verrat und Unterwerfung – von existentieller Spannung. Weibliche Körperlichkeit, Eros und Sexus offenbaren sich nicht in Bruchstücken, sondern sind aufs Absolute gerichtet, das kompromißlos gelebt wird und mit seinem Anspruch folgerichtig scheitert. Welch merkwürdiger Widerspruch von weiblichem Selbstbewußtsein und Sich-Fügen in die untergeordnete Rolle der Handlangerin. Dann wieder ist die Ich-Figur als stolze und unabhängige Jägerin auszumachen, als Göttin des Waldes, vor allem im Artemis-Kapitel, das übrigens einige Texte enthält, die bereits 1996 im Kettengedicht United Colors of Buxtehude bei Faber & Faber in Leipzig zu lesen waren.
Was damals nur in Umrissen zu erkennen war: der Geliebte hat als lyrische Figur eine Physiognomie, eine Herkunft, eine Biographie als Deserteur. Episch beschreibend wird das Bild des jungen Eusrachos entworfen, fast ein Waldgott und zugleich ein Wilddieb, der jenseits des Gesetzes seine Sippe ernährt und der Geliebten das Überleben sichert. Helga M. Novaks Silvatica hat die Aura eines Paradieses, von dem man weiß, daß es verlorengeht. Anspielungen auf Mythen und Bibelmotive, auch literarische Zitate, gibt es etliche. Eustachos, der in einem der Gedichte das Brot für seine Sippe bricht, wird am Ende der Gekreuzigte sein. Das Buch ist in seiner durchgestalteten Dreiteiligkeit: „Verwildertsein“, „Duelle“, „Artemisleben“ eine subtile Komposition, ein Triptychon der Anarchie und der Natürlichkeit. Ein großer Wurf, wie man ihn eigentlich von Sarah Kirsch erwartet hätte, und der nun unvermutet von Helga M. Novak kommt.
Dorothea von Törne, neue deutsche literatur, Heft 517, Januar/Februar 1998
Hensel, Kerstin: Unter Wildsauen, Ottern und Wölfen
die tageszeitung, 15.10.1997
Rolf Michaelis: Waldgesänge, Wildgeschrei
Die Zeit, 17.10.1997
Hans-Herbert Räkel: Altes Schmaltier am Abend
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.11.1997
Michael Basse: Wilde Wibe sucht wilden Mann
Süddeutsche Zeitung, 12.11.1997
Dorothea von Törne: Rasereien im Unterholz
Der Tagesspiegel, 7.12.1997
Michael Braun: Vom Umtrieb der Musen außerhalb der großen Städte
Basler Zeitung, 30.1.1998
Unter dem Titel Lob der Verwilderung
Frankfurter Rundschau, 31.1.1998
Jan Koneffke: Vom wilden Jagen
der Freitag, 13.2.1998
– Laudatio von Rita Jorek zum 10. Christian-Wagner-Preis. –
Hundert Jahre liegen zwischen den Lebensläufen von Helga M. Novak und Christian Wagner. Es lässt sich trotzdem Vergleichbares finden in Werk und Wesen der beiden. Als Dichter müssen wir sie begreifen, als Dichter betrachten sie sich selbst.
Gedichte schreiben können viele, vielmehr lassen die Kunst unbeachtet, schilpen wie die Spatzen daher, für die das Lied der wenigen Lerchen fremd bleibt. Dazu passt ein sarkastischer Kommentar Wilhelm Raabes, der vor hundert Jahren starb. „Was wirklich was taugt, kauft kein Mensch“. Und wenn Kurt Tucholsky zu Hermann Hesses Auswahl von Gedichten des von diesem verehrten Christian Wagner anmerkt: „Nur, die Deutschen lesen solche deutschen Gedichte nicht“, so wünschen und hoffen wir, dass es heute anders sei.
Eine dichterische Existenz wagen, sich dem Leben aussetzen, das ist ein existentieller Drahtseilakt. „Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“ (Rilke), darf der Wissende, der Fühlende, der Mitfühlende nicht schweigen und hat die Worte zu wägen, zu finden, neu zu finden und zu vertiefen, in Urgründe zu tauchen. Diese Poesie ist Ordnung und Anarchie.
„Ja, für den Rest meiner Zeit gestatt ich mir eigens die Freiheit / Wahr, aufrichtig zu sein bis zur Schroffheit“, verkündete trotzig Christian Wagner, eine Maxime, die Helga M. Novaks Schaffen bestimmt wie kaum das eines anderen, es deshalb in seiner ganzen Ausdrucksstärke zu einem bedeutenden Zeitzeugnis gerinnen lässt. Sie ist für Wolf Biermann „die zärtlich-schroffeste Dichterin“. Die Begriffe Freiheit und Schroffheit tragen ihr Werk.
Nicht nur Widerspruch, auch Verzweiflung und Enttäuschung bedingen das Aufbegehren und die Wut über herzlose Bürokratie, die den Menschen hinter die Paragraphen setzt. „ich bin frei“, schleudert uns, im Tiefsten und Innersten verletzt, aber auch stolz Helga M. Novak entgegen:
bloß weg von Provinz Terrain und Tümpel
ich bin frei
mein Status nun verbrieft und besiegelt
als „erwerbslose Ausländerin“ verwirkt
mein Aufenthalt im heimatlichen Distrikt
ich bin frei
Um 2004/05 geschrieben, sind das die letzten Verse der zweibändigen Ausgabe ihrer Gesammelten Gedichte und die Quintessenz ihrer Bemühungen, die deutsche Staatsbürgerschaft wieder zu erlangen, die mit Ablehnungen endeten. Ein Treppenwitz der Weltgeschichte: eine deutsche Dichterin, als eine der bedeutendsten erkannt, muss als Ausländerin, als Heimatlose ihre Existenz irgendwie bewerkstelligen.
ich war frei
über Land zu fahren
durch Gegenden vieler Länder
ich war frei
jetzt haben sie mich von meinem
eigenen Land befreit
Dazu passt die bittere Erkenntnis Christian Wagners: „Kein Prophet ist angenehm in seinem Vaterlande.“
Die Situation ist fast ausweglos, wie so oft in diesem Leben. Da beruft sie sich auf das Meer, dem sie manchmal nahe war und deutet an, was ihr noch bleibt:
„die hohe See kennt mich sie wartet“
Der Freitod, von Christian Wagner bereits Ende des 19. Jahrhunderts als Ausdruck des eigenen Willens und der Freiheit, des Lossagens von jeder Knebelung und jedem Joch besungen, verbindet sich für Helga M. Novak ebenfalls mit dem Begriff der Freiheit, nämlich bereits in der Erzählung „In einem irren Haus“.
„Nach einem kurzen Ausflug in den Himmel aus allen Wolken gefallen und hier gelandet“, heißt es da, gelandet in einer Anstalt, wo jegliches Nachdenken verboten und die Auseinandersetzung mit dem Thema tabuisiert wurde. Als eine der ersten nahm sie sich dieses Themas an und anderer, wie das Wirken der Staatssicherheit in der DDR und die Situation von Opfer und Täter. Und so fordert sie „das Recht… sich selbst den Hals umzudrehen“.
Dichter sind Visionäre. In dem frühen Band mit dem Titel Balladen von der reisenden Anna, 1965 bei Luchterhand erschienen, – das meiste davon bereits in dem vorher in Island im Selbstverlag als Ostdeutsch herausgegeben – dort verdichten sich bereits Leben, Selbsterfahrung , Beobachtung, Erzählungen und Schicksale anderer nicht nur mit Fragen und Protest, sondern auch mit Empathie für Betroffene und dem Vorausahnen des eigenen Schicksals, das beispielsweise im „Traum des Emigranten“ alle Trostlosigkeit der Welt evoziert:
Der Emigrant
schreibt Gedichte und macht
Weltverbesserungspläne
das Vaterland winkt schon.
„Das Vaterland winkt schon“ – eine zweideutige Aussage: Will es ihn und seine Weltverbesserungspläne wiederhaben? oder winkt es ab: Brauchen wir nicht! oder will es ihn vernichten?
Wir kannten ja die Emigranten und wussten aus ihren Büchern: Viele Schriftsteller waren darunter, die zur Zeit des „Dritten Reiches“ aus Deutschland flohen – nach Westen (England, USA) die einen, nach Osten (Sowjetunion) die anderen. Von der Rolle, die sie spielten, den Auseinandersetzungen erfuhren wir ebenfalls. Da gab es die Kontroverse zwischen Johannes R. Becher, aus Moskau zurückgekehrt, Kulturminister geworden und Bert Brecht, der aus den USA in die DDR kam. Es war 1956, Brecht starb bald danach, daran, und in Ungarn gingen die Menschen auf die Straße und wurden zusammengeschlagen.
„Das Exil ist eine Wüste, wenn es keine Alternative gibt“. Von Per Olov Enquist stammt diese Feststellung, einem Autor, der wie viele aus Island und Skandinavien, zu den Geistesverwandten Helga M. Novaks gehört.
Bertolt Brechts Lyrik und seine Theaterstücke, die wir im Berliner Ensemble oder wie die Oper „Die Verurteilung des Lucullus“ in Leipzig sahen, übten großen Einfluss auf die aufsteigende Dichtergeneration aus. Und getrost dürfen wir in Novaks alter Bohemienne eine Schwester von Brechts Mutter Courage sehen.
Nebenbei bemerkt, Brecht könnte auch als Zwischenglied zu Christian Wagner führen; denn dessen Vierzeiler „Winternacht“ erscheint in Versmaß und -melodie, aber auch inhaltlich Brechts „Von der Freundlichkeit der Welt“ vorausgegangen:
Christian Wagner:
WINTERNACHT
Kalt und strahlend stehet Stern an Stern:
Fremde Augen, doch unsagbar fern;
Teilnahmslos und ohne Liebespflicht
Steht des Himmels Funkenangesicht.
Bertolt Brecht:
Von der Freundlichkeit der Welt
Auf die Erde voller kalten Wind
Kamt ihr alle als ein nacktes Kind.
Frierend lagt ihr ohne alle Hab
Als ein Weib euch eine Windel gab.
Und wenn Helga M. Novak „von sehr großer Not“ berichtet, geht es ebenfalls um menschliches Schicksal, um das Ausgeliefertsein, das bei Wagner ganz allgemein und universell bleibt, während Brecht den Menschen, Kind und Weib, betrachtet. Die Dichterin artikuliert spezielle Frauenqual:
der Spätsonne sag ich dem Aar
dem Ren dem eisigen Wind
zweimal verschenkte ich ein Kind
das ich aus meinem Schoß gebar
In dem frühen Trinklied von der alten Bohemienne, die das Land Atlantis umsonst sucht, spiegelt sich das eigene antizipierte Leben. Im Galgenhumor endet es mit der Apotheose:
und wenn sie einst gestorben ist
macht sie den Himmel hell
sie wird die erste Lady sein
im göttlichen Bordell.
Jahre um Jahre später lesen wir in Silvatica:
die Rumtreiberin hat ihre Laubhütte
verlassen zieht Leine und hängt Netze auf
mit Federn getarnte und extragrüne Lappen
rund um ihren Jagen flattert das Blendzeug
bis sie selber verblendet geblendet
einer Meute auf den Leim gegangen ist
Silvatica, diese Sammlung von Wald- und Jagdgedichten wird zur Metapher eines Außenseitertums eines melancholischen, desillusionierten Rückzuges aus der Gesellschaft in die Natur und zum verkappten Hymnus einer späten Liebe. Zauberhaft verwunschen und doch zeitnah stellt diese Dichtung westliche Zivilisation in Frage.
Heimatlosigkeit, Leben in der Fremde, im Exil durchziehen das ganze Werk.
ich schrei es in die Tagfrüh ich bin
in sehr großer Not und kein Weg
führt daraus trennt das Geheg
und heilt meinen verworrnen Sinn
zweimal verließ ich mein Land zu Fuß
Abzeichen von Belang vermochten nicht
mich zu beugen mein Gesicht
versagte Götzendienst und ehrvoll Gruß
seitdem beherbergt mich kein eigen Dach
die Sprache meiner Leute klingt fern
fremd Schulterzucken salzt das Brot
mein Kleid erregt Spott und Gelach
mich bedecken Nordlicht und Stern
ich bin in sehr großer Not
Nicht weniger erschüttert die „Bittschrift an Sarah“, in den 70er Jahren die Freundin Sarah Kirsch beschwörend, Nachricht über Bekannte und heimische Orte zu geben. Die elfte, die letzte Strophe endet:
Sarah geht los – schaut ob ich noch Freunde habe
sagt ihnen – ich lebe ich sterbe ich lebe
um Himmels Willen
schreibt mir einen Brief von zu Hause
Die Sehnsucht durch die Welt zu reisen, die in unseren DDR-Jugendjahren Utopie bedeutete, transportierte Helga Novak damals in die Begegnung mit einem ihr wichtigen Dichter, der an Deutschland litt, wie kaum einer. Wieder ist es kalt und alles hoffnungslos „an einem deutschen Wintertag“:
ich sagt ich hätt einen deutschen Pass
und könnte doch nicht reisen
da hatt er mich nur ausgelacht
sein Blick ließ mich vereisen
dann meinte er nebenbei zu mir
– sei nur ein Narr und weine
wie ichs vor hundert Jahren tat
ich heiße Heinrich Heine –
Als dieses lapidare Gedicht um 1956 wohl entstand, dessen tragische Aspekte sich aus dem liedhaften Singsang der Reime erst nach und nach ganz erschließen – wie ja viele der Werke von Helga M. Novak einen doppelten und dreifachen Boden besitzen – lag die Zukunft noch vor ihr. Sie studierte an der Fakultät für Journalistik der Leipziger Universität – Kaderschmiede der SED, Rotes Kloster genannt, und wollte – wie ich auch, wir lernten uns dort kennen – Kulturredakteurin / Kunstkritikerin werden.
Es sollte anders kommen. Die Staatssicherheit (Stasi) versuchte sie zu erpressen, weil sie mehr oder weniger vogelfrei zu sein schien. (Aus ihren autobiographischen Romanen Die Eisheiligen und Vogel Federlos ist bekannt, wie es einem Adoptivkind erging, das sich von den Stiefeltern lossagte, um studieren zu können.)
Nach einem großen Autodafé, das sie bedrohlich an den Pranger stellte, flüchtete sie mit ihrem isländischen Freund auf seine nordische Insel – es war wie jetzt Ende November und dort sehr kalt und dunkel.
Mit der baldigen Heimkehr nach Berlin war sie zur Arbeit in einer Fabrik verdonnert. Das konnte auch nicht von Dauer sein. Die nächste Ausreise, wieder nach Island war 1961, Jahr des Mauerbaus. In kurzen knappen Erzählungen – zusammengestellt in dem Band mit dem Titel In einem irren Haus, findet sich die Quintessenz von Situationen, die zu meistern waren, von Begegnungen und Reisen. Sie war weit herumgekommen in Europa, von Nord nach Süd gefahren bis nach Palermo, von Island bis Barcelona getrampt, viele Stecken zu Fuß gegangen. So bewarb sie sich dann mit jenem Band Ballade von der reisenden Anna, der bei Luchterhand in Vorbereitung war, am Leipziger Literatur-Institut „Johannes R. Becher“ und wurde angenommen, trotz Gedichten wie „Faustregel“, das den Widerspruch zur Lebensmaxime erklärt, oder solchen. die den „Kehricht im Lande Sta“ aufdecken, in der großen Ballade über Annas Schicksal in sibirischer Verbannung oder durch die provokative Frage: „wem gehört eigentlich das Volkseigentum“.
Es war – wie wir sagten – mal wieder „Tauwetterzeit“ in der DDR.
Wir trafen uns auf Leipzigs Straßen. Ich war Redakteurin bei der Leipziger Volkszeitung, freute mich über die Wiederbegegnung und bot ihr an, bei uns zu wohnen. Wir hatten drei kleine Kinder, der jüngste kein Jahr alt und vier kleine Räume, davon bekam sie einen.
Aber auf Tauwetter folgten Regen, Schnee und Eis, ein berüchtigtes Parteiplenum rechnete mit Künstlern, Schriftstellern, Kulturschaffenden ab; Helga M. Novak, die Weitgereiste, Aufmüpfige mit ihrer Freundschaft zu Robert Havemann und Wolf Biermann, kam wieder in die Bredouille, was vielleicht ein zu leichtfertiges Wort ist für die Situation. Vom Staatssicherheitsdienst beobachtet und verfolgt, wurde sie genötigt, die DDR im Frühjahr 1966 zu verlassen und die isländische Staatsbürgerschaft anzunehmen. (Sie war unterdessen mit einem Isländer verheiratet). Aber ihre Heimat war nicht jene ferne, kalte Insel, ihre Heimat – und auf allen Wanderungen zog es sie dorthin zurück – blieben immer Berlin und seine Umgebung, diese Märkischen Wälder und Seen, wo sie als Kind zu Hause herumstöberte. Immer und immer hat sie davon ergreifend geschrieben, ob in den Eisheiligen, in Vogel federlos, in dem Gedichtszyklus „Grünheide, Grünheide“, in „Märkische Feemorgana“ – hier in archäologischen Tiefen grabend – und vor allem in Silvatica. Das von Ulrich Keicher so einfühlsam gestalteten Heft mit dem Prosastück „Lebendiger Fund“ bietet einen kleinen Einblick in die Schreibwerkstatt der Dichterin. Entstand es doch aus Notizen, aus Versuchen auf Zetteln verteilt, in eine Mappe verbannt, Fingerübungen gleichsam zu den Silvatica-Gedichten.
Groß war die Sehnsucht nach dem Osten. Als Ausgebürgerte durfte Novak die DDR nicht mehr betreten, erhielt deshalb auch kein Transitvisum, um ihren Traum zu verwirklichen, einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn zu fahren. Imagination und Phantasie beflügelten ihre Fingerreise über Landkarten, die das Versepos „Legende Transsip“ entstehen ließ, um mehr und Eindringliches über russische und sibirische Weiten mitzuteilen als manch tatsächlich Gereiste erfahren können.
Dichtung ist viel mehr als Autobiographie. Auch wenn rücksichtslos aufrichtig um äußerste Wahrhaftigkeit gerungen wird, das Leben, selbst das bittere, besitzt allemal eine poetische Seite. Schon als Kind beschrieb Helga Novak „die roten Ränder der Abendwolken, den Kiefernwald, meine Lieblingsplätze und die Stelle mit den unbekannten Pflanzen“. Die ersten Gedichte verbrannte die Stiefmutter – Kaltesophie in den Eisheiligen genannt. Die über Zeiten sich hinspannende Verwandtschaft zu Christian Wagner, den Dichter der Landschaft, der Blumen und Schmetterlinge zeigt sich in diesem Hinwenden zum Alltäglichen, zum Wald, zum Wacholder, zur Kaiserkrone oder zum weißen Alttier mit roten Augen und deshalb verstoßen, denn „ein jedes soll seine Farbe tragen / wer keine hat ist dem Tode geweiht“.
Den Dichter unterscheidet vom Literaten die Konzentration auf Geist und Form. In den gelungensten Stücken bildet Reife des Ausdrucks die Vollkommenheit des Gedankens. Aus einer Frage von Gustave Flaubert eine Behauptung aufstellend, konstatieren wir: Wer sein Denken zusammenpresst, gelangt immer zum Vers. Und Dichterin ist Helga M. Novak auch in ihren prosaischen Werken. So gehört sie zu jenen, von denen Hermann Hesse in einem seiner Aufsätze über Christian Wagner sagt: „Manche sehen wir in der Flamme verbrennen und verloren gehen.“
Um das Verlorengehen von Dichtern, von Künstlern zu verhindern, sind alle – zuförderst die Kundigen, die Fühlenden, die Mitfühlenden – aufgerufen. Die Christian-Wagner-Gesellschaft und die Christian-Wagner-Stiftung, die ohne begeistert engagierte Mitstreitende nicht existieren würden, machten sich das zur Aufgabe. Dass der Preis, der den Namen des eigenwilligen Dichters aus Warmbronn trägt, in diesem Jahr Helga M. Novak zugedacht ist, gereicht allen Beteiligten zur Ehre; denn auf beider Werk fällt dadurch das Licht der Erkenntnis und lässt ihre Bedeutung einmal mehr in das öffentliche Bewusstsein steigen.
Hier ist es denn Zeit, den Dank der Jury und den Preisstiftern von der mit dem Christian-Wagner-Preis geehrten Dichterin Helga M. Novak zu überbringen. Gern wäre sie selbst anwesend, ist aber sehr, sehr krank.
Christian Wagner, der an die Wiedergeburt glaubte und dabei in Tier, Mensch, Pflanze und Unbelebtem gleichberechtigte Wesenheiten erkannte, wünschte am Ende „Lichtwellen neu zu werfen in den Tag, / Lichtsonnen neu zu streuen in das Nichts.“
Ironisch hält Helga M. Novak, ganz Mensch unserer aufgeklärten Zeit, dagegen, indem sie unsentimental feststellt:
nach meinem Tod die Seele
von der ich nicht weiß
wo sie sich augenblicklich befindet
(ich habe sie noch nie gesehen)
wohin sollte sie sich wenden wohin
wenn ich sterbe wenn ich umfalle
dass mein Herz aufhört zu schlagen
ist gewiss auch dass es zu Erde wird
wieviel Herzen habe ich pochen hören
Seelen keine und ich wünsche niemand
erlitte die Qual eine Art Herberge
meiner Seele später zu werden solche
Strafe hat wirklich keiner verdient
mein Herz aber wird zerfallen schade
Solche Gedanken münden bei Christian Wagners in verwandtschaftliche, doch hoffnungsvollere Fragen:
Und wer wir künftig, wann dereinst ich sterbe,
Als neues Ich wohl sein mein Geisteserbe?
Wer in der Fernzeit, wenn das Grab mich schattet,
Erstehn, mit meinen Liedern ausgestattet?
Christian Wagner, dem es nur selten vergönnt war, aus der Fron des Warmbronner Landlebens auszusteigen – gleich Helga M. Novak war er allerdings auch in Italien und beide schrieben ihre Gedichte über die Stätten, an denen sie sich aufhielten – versuchte von hier aus den Weltgeist zu erhaschen. Helga M. Novak setzte sich ganz und gar dem Zeitgeist aus, diesem 20. Jahrhundert mit seinen Kriegen und der Teilung Deutschlands. Früh schon begriff sie die Divergenz zwischen sozialistischer Theorie und Realität, stellte sie in Frage. Zwischen Ost und West wandelnd, schrieb sie ein gewichtiges Stück deutscher Literatur.
Rita Jorek, 2010
Die Dichterin Helga M. Novak. Ein Feature von J. Monika Walther
Die verlorene Tochter. Ein Skandal: Helga M. Novak darf nicht nach Deutschland
Ulrich Schäfer-
Utz Rachowski: Wie ich die große Dichterin Helga M. Novak verpasste
Bernd Markowsky: „Wenige haben so viele Grenzen hinter sich gelassen wie wir“
Andreas Reimann: DDR ausprobieren
Hannes Schwenger: „Ich wohne bei der Eule“
Hans Altenhein: Transsibirische Reise
Michael Braun: Schöne Verwilderung
Neue Zürcher Zeitung, 8.9.2005
Fries, Fritz Rudolf: Versuch einer Liebeserklärung
Neues Deutschland, 8.9.2005
Thomas Poiss: Dichtermut, Dichterjubel
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.9.2005
Ulf Heise: Anarchin in polnischer Klausur
Märkische Allgemeine Zeitung, 7.9.2010
Schreibe einen Kommentar