die wörter verlängern die zeit
die lesung macht dich bereit
sie wirft dich auf dich zurück
sie verglühen stück für stück
das gedicht gräbt aus vergangenheit
die bedeutung der wortkörper im streit
verschwimmt und gerät aus dem blick
und die schönheit trifft dich im genick
das sonett singt sich in form
es gürtet und schürzt eine norm
es tanzt sich im kreis verrückt
es hat dich im zoom verzückt
erobert dich im sturm sofort
und du bleibst ewig dort
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Wo sind die Grenzen des Ich?
Bin ich wir? Gibt es ein Ich ohne die anderen? In Krisenzeiten wird dieses zumindest übermächtig.
In ihrem neuen Lyrikband erkundet Kirstin Breitenfellner das ich und knüpft thematisch und inhaltlich an ihren Band Gemütsstörungen (2019) an – in dem ein Du im Zentrum steht. Auch in Gedichte ohne ich wählt die Autorin wieder die feste Form des klassischen Sonetts. Die Texte wenden sich nach innen und begeben sich auf die Suche nach einem festen inneren Kern, während sie Essenzen umkreisen wie „ermächtigung(en)“, „vergewisserungen“, „kompositionen“, „adoptionen“ oder „gefühle nicht für sich“.
Breitenfellner untersucht aber auch die konkrete Umgebung, in der das Ich zu Hause ist: seine „tagesträume“, „einkleidungen“ und „wohnräume“. Das Ich bleibt nicht starr, sondern wird flüssig. Und im Tod wird es aufhören zu sein. Damit beschäftigt sich der letzte Abschnitt unter dem Titel „dekomposition“: „mich / gibt es / nicht // ich / werde / erde“, lautet sein Schluss – und das Ich ist darüber nicht verzweifelt, sondern vielmehr damit einverstanden.
Limbus Verlag, Klappentext, 2024
Sonette.
Als Sonett wird eine Gedichtform bezeichnet, die im Barock sehr beliebt war. Das Sonett (lat. sonare = klingen, ital. sonetto) ist eine Gedichtform mit einem strengen Aufbau. Es setzt sich aus zwei Strophen mit je vier Versen (Quartette) und zwei Strophen mit je drei Versen (Terzette) zusammen. Im 20. und 21. Jahrhundert sind im deutschsprachigen Raum vor allem Sonette von Georg Trakl, Rainer Maria Rilke, Durs Grünbein, Robert Schindel und Jan Wagner bekannt.
Dass Kirstin Breitenfellner sich mit einem kompletten Gedichtband ausschließlich dem Sonett widmet, ist schon eine außergewöhnliche Geschichte. Hat doch das Sonett eine klare, aber strenge Form mit Metrum, Klang und Reimfolge. Aber gerade das sei der Schlüssel für eine durchgehende Stabilität, wie die Autorin in der Nachbemerkung schreibt. In manchen Sonetten schwingt und klingt mit einer Nuance Verspieltheit eine Melodie mit starkem Inhalt aus dem Sonett:
lebe ich so gut
so wie ich es auch wollte
ein ziel und heiß die glut
und die revolte
(S. 20 – „die ewigkeit“).
Es bereitet Freude und Nachdenklichkeit in Klang und Rhythmus diese Sonette zu lesen. Sie haben trotz der vorgegebenen strengen Form eine Leichtigkeit, sie klingen unaufdringlich nach. Wie auf Seite 81:
ein streben
borgen
ein gericht
vorauszubangen
dem erleben
am morgen
ein gedicht
abzuverlangen
sich selbst
versuchen
unverstellt
den anderen
verbuchen
meine welt
So klingt es, wenn eine alte Gedichtform eine Frischzellenkur bekommt und ohne Einschränkung einfach gelungen ist.
Rudolf Kraus, Büchereiservice des ÖGB, 17.6.2024








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