August von Platens Gedicht „Wer wußte je das Leben recht zu fassen“

AUGUST VON PLATEN

Wer wußte je das Leben recht zu fassen

Wer wußte je das Leben recht zu fassen,
Wer hat die Hälfte nicht davon verloren
Im Traum, im Fieber, im Gespräch mit Toren,
In Liebesqual, im leeren Zeitverprassen?

Ja, der sogar, der ruhig und gelassen,
Mit dem Bewußtsein, was er soll, geboren,
Frühzeitig einen Lebensgang erkoren,
Muß vor des Lebens Widerspruch erblassen.

Denn jeder hofft doch, daß das Glück ihm lache,
Allein das Glück, wenn’s wirklich kommt, ertragen,
Ist keines Menschen, wäre Gottes Sache.

Auch kommt es nie, wir wünschen bloß und wagen:
Dem Schläfer fällt es nimmermehr vom Dache,
Und auch der Läufer wird es nicht erjagen.

1826

 

Konnotation

Warum muss der Mensch das Leben grundsätzlich verfehlen? Warum scheitert er bei der Annäherung an das Glück? Der Dichter August von Platen (1796–1835), Abkömmling einer verarmten Offiziersfamilie, hat in seinem Sonett 68, das im September 1826 entstand, eine bittere Antwort darauf gegeben. Kurz bevor er nach einer homosexuellen Liebesenttäuschung Deutschland verließ und zu einer Reise nach Italien aufbrach, entwarf Platen in diesem Sonett ein Lebensbild der Schwermut.
„Ich weiß, dass ich nicht glücklich werden kann“, notierte Platen während seiner Italien-Reise in sein Tagebuch, „und Natur und Kunst reichen nicht aus, um das Herz zu füllen.“ So spricht auch sein Sonett von der Unhaltbarkeit eines Glückszustands. Neben dem inneren unaufhebbaren „Widerspruch“ des Lebens, das nie „recht zu lassen“ ist, tritt die Abwesenheit von Glück. Dieses Sonett besteht nur aus existenziellen Negationen. Die furchtbare Essenz des Daseins wird uns vor Augen gestellt – in einer heillosen Poesie.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

2 Antworten : August von Platens Gedicht „Wer wußte je das Leben recht zu fassen“”

  1. Franz sagt:

    Ein großartiges Gedicht! Leider hat sich ein Fehler eingeschlichen. Am Ende der ersten Strophe muss es richtig heißen:
    „Zeitverprassen“, nicht „Zeitverpassen“.

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