Der von Kürgenbergs Gedicht „Ich hielt mir einen Falken“

DER VON KÜRENBERG

Ich hielt mir einen Falken

Ich hielt mir einen Falken länger als ein Jahr.
Als ich ihn gezähmt, wie ich ihn haben wollte,
und sein Gefieder mit Gold schön geschmückt hatte,
erhob er sich und flog davon.

Seitdem sah ich den Falken schön fliegen:
seidene Fesseln hatte er an seinem Fuß
und sein Gefieder war ganz rotgolden.
Gott, führe die zusammen, die einander lieben wollen.

(übersetzt von Michaela Schwegler)

um 1160

 

Konnotation

Das erste schriftlich überlieferte Liebeslied eines frühmittelhochdeutschen Minnesängers ist ein raffiniertes Stück Rollenpoesie. Der vermutlich aus Niederösterreich stammende Minnedichter Der von Kürenberg (um 1150/70) versetzt sich in eine traurige Dame, der ein kunstvoll domestizierter und prachtvoll geschmückter Falke entflogen ist.
Der Frauenmonolog wird – geschlechtertheoretisch gesprochen – zur Tribüne für die Legitimation männlicher Dominanz. Denn der die Ungebundenheit wählende Vogel repräsentiert hier möglicherweise nur die Freiheit, die sich der adlige Herr des Mittelalters nahm, wenn es um die Gestaltung seiner Liebesverhältnisse ging. Der Minnesänger inszeniert also die Rolle der verlassenen Frau, um die Realität des Konkubinats und der sexuellen Promiskuität des Adels als naturwüchsige Praxis zu beglaubigen. Vielleicht zielt das kleine Poem aber auch nur auf die Sehnsucht der Frau, deren Bild des Mannes sich durch dessen kriegsbedingte Abwesenheit verklärt hat.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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