Frank Wedekinds Gedicht „Ilse“

FRANK WEDEKIND

Ilse

Ich war ein Kind von fünfzehn Jahren,
Ein reines unschuldsvolles Kind,
Als ich zum erstenmal erfahren,
Wie süß der Liebe Freuden sind.

Er nahm mich um den Leib und lachte
Und flüsterte: Es tut nicht weh!
Und dabei schob er, sachte, sachte
Mein Unterröckchen in die Höh’.

Seit jenem Tag lieb ich sie alle,
Des Lebens schönster Lenz ist mein;
Und wenn ich keinem mehr gefalle,
Dann will ich gern begraben sein.

vor 1905

 

Konnotation

Als radikaler Kritiker der wilhelminischen Kultur und Sexualmoral hat der Dichter und Dramatiker Frank Wedekind (1864–1918) den empörten Protest seiner Zeitgenossen provoziert. In seinen Theaterstücken und kabarettistischen Chansons, die er 1905 in dem Band Die vier Jahreszeiten sammelte, ließ Wedekind keine Gelegenheit aus, um mit demonstrativen Tabuverletzungen alle bürgerlichen Vorstellungen von Eros und Intimität zu demontieren.
In seinen zahlreichen „Dirnenliedern“ stellt Wedekind als Dominante die sexuelle Gier in den Mittelpunkt, die das moralisch korrekte Bild der „Reinheit“ zerstört. Eine Fünfzehnjährige, die nach der Entjungferung ihre sexuellen Obsessionen genießt – mit solchen Chansons reizte Wedekind die Kulturpolitiker des Kaiserreichs bis zum Äußersten.
Sein Kritiker Karl Kraus (1874–1936) hat gegen Wedekinds antibürgerliche Grellheiten eingewandt, hier verberge sich ein heimlicher Moralist, „schamlos aus lauter Schamhaftigkeit“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00