Franz Werfels Gedicht „Elternlied“

FRANZ WERFEL

Elternlied

Kinder laufen fort.
Langher kann’s noch garnicht sein,
Kamen sie zur Tür herein,
Saßen zwistiglich vereint
Alle um den Tisch.

Kinder laufen fort.
Und es ist schon lange her.
Schlechtes Zeugnis kommt nicht mehr.
Stunden Ärgers, Stunden schwer:
Scharlach, Diphterie!

Kinder laufen fort.
Söhne hangen Weibern an.
Töchter haben ihren Mann.
Briefe kommen, dann und wann,
Nur auf einen Sprung.

Kinder laufen fort.
Etwas nehmen sie doch mit.
Wir sind ärmer, sie sind quitt,
Und die Uhr geht Schritt für Schritt
Um den leeren Tisch.

1927

aus: Franz Werfel: Das lyrische Werk. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1967

 

Konnotation

Seit 1911, dem Erscheinungsjahr seines erfolgreichen Lyrik-Debüts Der Weltfreund, war Franz Werfel (1890–1945) eine Schlüsselfigur des literarischen Expressionismus. Aufgewachsen in Prag als Sohn eines jüdischen Handschuhfabrikanten, prägten ihn der barocke Katholizismus seiner Heimatstadt ebenso wie jüdische und anarchistische Denkmotive. Als Kriegsberichterstatter in Wien lernte er 1917 die Frau seines Lebens kennen, die „Zauberin“ Alma Mahler-Gropius. Das expressionistische Pathos seiner frühen Jahre weicht in seinem melancholischen „Elternlied“ von 1927 einem eher volksliedhaften Stil.
In refrainartigen Wiederholungen und schlichten moritatenhaften Versen wird eine Verlusterfahrung der Eltern rekapituliert. Die Kinder, die gerade noch in symbiotischer Verbindung zu ihren Vätern und Müttern standen, verlassen das Elternhaus, und die Eltern bleiben ratlos zurück. Der melancholische Schluss des „Elternlieds“ benennt lapidar die Erfahrung der Vergänglichkeit und das Verlassensein der Elterngeneration.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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