Gottfried Benns Gedicht „Was meinte Luther mit dem Apfelbaum?…“

GOTTFRIED BENN

Was meinte Luther mit dem Apfelbaum?
Mir ist es gleich – auch Untergang ist Traum –
ich stehe hier in meinem Apfelgarten
und kann den Untergang getrost erwarten –
ich bin in Gott, der ausserhalb der Welt
noch manchen Trumpf in seinem Skatblatt hält –
wenn morgen früh die Welt zu Bruche geht,
ich bleibe ewig sein und sternestet –

meinte er das, der alte Biedermann
u. blickt noch einmal seine Käte an?
und trinkt noch einmal einen Humpen Bier
u. schläft, bis es beginnt – frühmorgens vier?
Dann war er wirklich ein sehr grosser Mann,
den man auch heute nur bewundern kann.

1950

aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Stuttgarter Ausgabe. Band II: Gedichte 2. In Verb. mit Ilse Benn hrsg. von G. Schuster. Klett Cotta, Stuttgart 1986

 

Konnotation

Als Pastorensohn dürfte Gottfried Benn (1886–1956) frühzeitig mit Martin Luther und seinem sprachschöpfenden Wirken vertraut gewesen sein und kannte natürlich den ihm zugeschriebenen Ausspruch: „Auch wenn ich wüsste, dass morgen die Welt zugrunde geht, würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen.“ Das heißt nichts anderes, als dass wir angehalten sind, das scheinbar Sinnlose zu tun und das Leben auf der Erde bis zum letzten Atemzug zu unterstützen.
Im Mai 1950, als Deutschland noch in Trümmern lag, schrieb er dieses Gedicht als Kommentar zu einem Rundfunkvortrag Thilo Kochs, in dem dieser die Frage „Was meinte Luther mit dem Apfelbaum?“ gestellt hatte. Benn griff die Frage auf und machte sie zum ersten Vers des aus dem Nachlass stammenden Gedichts. Luther pflanzt hier keinen Baum in letzter Sekunde, er steht vielmehr als selbstgerechter Biedermann in seinem Garten und blickt dem Untergang, wie Benn selbst, erstaunlich gelassen, fast zynisch entgegen.

Michael Buselmeier (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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