Gottfried Benns Gedicht „Was schlimm ist“

GOTTFRIED BENN

Was schlimm ist

Wenn man kein Englisch kann,
von einem guten englischen Kriminalroman zu hören,
der nicht ins Deutsche übersetzt ist.

Bei Hitze ein Bier sehn,
das man nicht bezahlen kann.

Einen neuen Gedanken haben,
den man nicht in einen Hölderlinvers einwickeln kann,
wie es die Professoren tun.

Nachts auf Reisen Wellen schlagen hören
und sich sagen, daß sie das immer tun.

Sehr schlimm: eingeladen sein,
wenn zu Hause die Räume stiller,
der Café besser
und keine Unterhaltung nötig ist.

Am schlimmsten:
nicht im Sommer sterben,
wenn alles hell ist
und die Erde für Spaten leicht.

1953

aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Stuttgarter Ausgabe. Band I; Gedichte 1. In Verb. m. Ilse Benn hrsg. v. Gerhard Schuster. Klett-Cotta. Stuttgart 1986

 

Konnotation

In einem Rundfunkgespräch im Mai 1951 formulierte der Dichter Gottfried Benn (1886–1956) seine wachsende Abneigung gegen die Verwendung des Reims, der ihm „zu edel, zu gläubig, zu religiös“ erscheine. Viel interessanter findet der alte Benn Versuche mit „journalistischer Lyrik“, welche die „Realistik“ des Lebens ausschöpfen. Zu den schönsten und unprätentiösesten Gedichten seiner letzten Jahre gehört das kleine Daseins-Protokoll, das ganz lapidar „schlimme“ Alltagssituationen inventarisiert.
Gegen Ende des Lebens sind es – wie beim späten Brecht – die kleinen Vergnügungen, denen der Dichter einen prosaischen Lobgesang widmet: ein Bier, ein englischer Kriminalroman, stille Stunden im eigenen Heim – mehr braucht man nicht zur Erfüllung des Lebens. Die 1953 im Band Destillationen erstmals veröffentlichte Daseins-Inventur hat etwas Hellsichtiges: Denn es kam tatsächlich zum ersehnten Tod im Sommer: Benn starb an einem Julitag.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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