Günter Eichs Gedicht „Ende eines Sommers“

GÜNTER EICH

Ende eines Sommers

Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!

Wie gut, daß sie am Sterben teilhaben!
Die Pfirsiche sind geerntet, die Pflaumen färben sich,
während unter dem Brückenbogen die Zeit rauscht.

Dem Vogelzug vertraue ich meine Verzweiflung an.
Er mißt seinen Teil von Ewigkeit gelassen ab.
Seine Strecken
werden sichtbar im Blattwerk als dunkler Zwang,
die Bewegung der Flügel färbt die Früchte.

Es heißt Geduld zu haben.
Bald wird die Vogelschrift entsiegelt,
unter der Zunge ist der Pfennig zu schmecken

1954/55

aus: Günter Eich: Gesammelte Werke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1973, 1991

 

Konnotation

Als Günter Eich 1954/55 dieses Gedicht schrieb, vermochte die Natur noch Trost zu spenden. Das lyrische Ich wähnt sich jedenfalls noch im Einverständnis mit den Naturerscheinungen, denn der „Vogelzug“ und das „Blattwerk“ bergen offenbar geheime Botschaften, deren Sinn entziffert werden kann. Eich (1907–1972) verweist auf eine magische Korrespondenz zwischen dem Werden und Vergehen der Naturphänomene und dem Sterben der Menschen. Alles kreist um Zeit, Vergänglichkeit und Tod.
Aus der „Geduld“ und „Gelassenheit“ der Naturzyklen gewinnt das lyrische Ich seine stoische Ruhe. Was am Ende jenseits der „Geduld“ bleibt, ist der Geschmack des Pfennigs unter der Zunge: Es ist das Fährgeld, das an Charon, den Fährmann im Totenreich, zu entrichten ist. Der späte Eich hat dann auf allen Trost verzichtet, auch auf den „Trost der Bäume“. Am „ewig nachgestammelten Naturgeheimnis“ wollte er nicht mehr teilhaben.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

1 Antwort : Günter Eichs Gedicht „Ende eines Sommers“”

  1. Guten Tag, da ich für eine Abschlussarbeit, das Gedicht und Ihre Konnotation, lieber Herr Braun, zitieren möchte, brauche ich die Seitenangabe im Kalender. Sollten Sie die zur Hand haben, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sie mir schreiben würden, vielen Dank!

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