Helmut Heißenbüttels Gedicht „Bruchstück 4“

HELMUT HEISSENBÜTTEL

Bruchstück 4

Die Linden riechen wie Tote.
Unermüdlich wiederholt die Nacht die
immer gleichen Takte der Schlagermelodie.
Schreibmaschinengeklapper in einem offenen Fenster.

Die Nacht steht regungslos wie eine
Unterwasserpflanze. Ich weiß nicht wo.
Es ist ein Traum und kann nicht möglich sein.
Heimweh nach Einst. Sag nein sag nein.

Halber Mond und hoch im dichten Blau und
über Haufen verstreuter Häuser.
Wie ein Geschoß glänzt die S-Bahn.
Irgendwo dort unerreichbar.

1954

aus: Helmut Heißenbüttel: Kombinationen. Topographien. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. Lyrikedition 2000, München 2000

 

Konnotation

Das Jahr 1951 markierte für Helmut Heißenbüttel (1921–1996), den großen Theoretiker der experimentellen Literatur, den Aufbruch in eine neue Poesie, die vor allem von Techniken des Rückgriffs lebt: von Zitat, Montage und Rekapitulation. Ein neues Gedicht-Genre ist für ihn das „Bruchstück“, das er als Grundelement der lyrischen Rede definiert: „Bruchstücke eines Textes in den ständig andere / Texte eingeschoben werden.“ In diesem Sinn sind „Bruchstücke“ torsohafte Gebilde, in denen aber durchaus herkömmliche impressionistische Bilder Platz finden können.
Wer die „Bruchstücke“ Heißenbüttels eingehend studiert, wird feststellen, dass diese Texte, die eine innovative Struktur und den „Bruch“ mit alten Gedichtformen für sich beanspruchen, doch sehr viele traditionell-stimmungshafte Momente aufweisen. So enthält Heißenbüttels Debütband Kombinationen (1954) nicht so sehr streng methodisch-serielle Texte, als vielmehr protokollhafte Deskriptionen, mithilfe derer die Welt inventarisiert wird.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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