JAKOB MICHAEL REINHOLD LENZ
An die Sonne
Seele der Welt, unermüdete Sonne!
Mutter der Liebe, der Freuden, des Weins!
Auch ohne dich erstarret die Erde
Und die Geschöpfe in Traurigkeit.
Und wie kann ich von deinem Einfluß
Hier allein beseelt und beseligt
Ach wie kann ich den Rücken dir wenden?
Wärme, Milde! Mein Vaterland
Mit deinem süßesten Strahl, nur laß mich
Ach ich flehe, hier dir näher,
Nah wie der Adler dir bleiben.
1776
Einige Monate vor seinem traumatisierenden Zerwürfnis mit Goethe versuchte der Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) den Lockrufen seines Vaters, eines streng pietistischen Pfarrers, zu widerstehen. Lenz’ Eltern wollten den Dichter aus den von ihm geliebten südlichen Gefilden, speziell aus Straßburg, wo er seine erfolgreichen Dramen geschrieben und sich unglücklich verliebt hatte, in seine livländische Heimat zurückholen. In einer lyrischen Epistel an den Vater hatte sich Lenz aber zu den „wärmeren Gegenden näher der Sonne“ bekannt.
Im Februar 1776 entstand dann als lyrische Reaktion auf die Wünsche der Eltern jener Hymnus an die Sonne, der das Licht und die Wärme zum Lebenselixier des Dichters und zur „Seele der Welt“ erklärt. Bald darauf setzten bei Lenz jene Depressionen und Verwirrtheitszustände ein, die ihn schließlich bei dem Pfarrer Oberlin im elsässischen Waldersbach Zuflucht suchen ließen – dieser Lebensabschnitt stand dann im Zentrum von Georg Büchners (1813–1837) berühmter „Lenz“-Novelle.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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