JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Beherzigung
Ach, was soll der Mensch verlangen?
Ist es besser, ruhig bleiben?
Klammernd fest sich anzuhangen?
Ist es besser, sich zu treiben?
Soll er sich ein Häuschen bauen?
Soll er unter Zelten leben?
Soll er auf die Felsen trauen?
Selbst die festen Felsen beben.
Eines schickt sich nicht für alle!
Sehe jeder, wie ers treibe,
Sehe jeder, wo er bleibe,
Und wer steht, daß er nicht falle!
Um 1775
Wenn Goethe (1749–1832) gegen Ende seines Lebens konstatierte, er habe in den ersten zehn Jahren am Weimarer Hof des Herzogs Carl August „nichts Poetisches von Bedeutung“ hervorgebracht, so war das ein Urteil von übertriebener Strenge. Denn er verfasste von 1775 bis 1779 nicht nur das Iphigenie-Drama und die ersten Umrisse des Wilhelm Meister-Romans, sondern auch einige Gedichte von betörender Qualität. Allenfalls kann man diesen Gedichten aus der frühen Weimarer Zeit eine Neigung zum milden Pragmatismus nachsagen.
Der menschliche Wunsch nach fester Verankerung und Bindung in seiner Lebenswelt wird hier auf seine Möglichkeiten und Grenzen hin geprüft. Es wird vom lyrischen Ich aber nicht entschieden, welches Lebensmodell tragfähiger ist – die nomadische Existenz oder die enge Bindung an vermeintlich unerschütterbare Fundamente. Die vier Zeilen der zweiten Strophe haben sprichwörtliche Bedeutung erlangt. Sie appellieren an die Eigenverantwortung des einzelnen: „Sehe jeder, wo er bleibe“!
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
Schreibe einen Kommentar