JOHANNES R. BECHER
Wenn einer fragen sollte, wer wir waren –
Ich sage offen: nichts. Nichts ist geschehn.
Ich möchte manchmal mit den Zügen fahren,
Die gegen Abend gehn.
nach 1945
aus: Johannes R. Becher: Meine ersten Gedichte (Nr. VII), in: Gesammelte Werke. 18 Bde. Bd. 3: Gedichte 1926–1935. Hrsg. v. J.R. Becher-Archiv d. dt. Akademie der Künste Berlin. Aufbau Verlag, Berlin 1966
Als stürmischer Expressionist hatte der begabte Juristensohn Johannes R. Becher (1891–1958) begonnen, wobei er früh auf ruinöse Weise harten Drogen wie Kokain und Morphium verfiel und in einem Ausnahmezustand einen Doppel-Selbstmord inszenieren wollte, wobei seine Geliebte starb. Der späte Becher wusste sich als gereifter Sozialist darzustellen. Als erster Kultusminister der DDR trat er als ein Intellektueller auf der felsenfest vom Weg des Sozialismus in der DDR und den sozialistischen Bruderländern überzeugt schien. Aber viele seiner Gedichte sprechen eine andere Sprache.
Die schöne Miniatur über „das Nichts“, die einem größeren Zyklus entnommen ist, verbreitet das Gegenteil von Zuversicht. Becher ist hier zu den fatalistischen Einsichten des jungen Bertolt Brecht zurückgekehrt, dem auch schon „das Nichts“ als „letzter Gesellschafter“ gegenübersaß. Dem konstatierten Stillstand versucht das Ich durch eine Flucht- oder Reise-Bewegung zu entkommen – ungewiss bleibt, ob diese Fahrt in den Abgrund führt.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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