Karl Kraus’ Gedicht „Der Tag“

KARL KRAUS

Der Tag

Wie der Tag sich durch das Fenster traut,
schau ich auf den Platz,
staunend, daß der Nacht
noch ein Morgen graut,
die ich so durchwacht
ohne Freudenlaut,
aber immer bauend Satz auf Satz.

Wie der Blick sich durch das Fenster traut,
geht ein Wagen, geht,
langsam geht er hin
ohne Klagelaut.
Liegt ein Toter drin,
eine arme Haut.
Und ich geh zurück an mein Gebet.

1930/31

 

Konnotation

In seiner Lyrik gab sich Karl Kraus (1874–1936), der scharfzüngige Kritiker der „papiernen Schande“ namens Zeitung, als poetischer Traditionalist. Erst spät, unter dem Eindruck wachsender Kriegsstimmung im Europa, hatte der Herausgeber der Fackel 1914 mit dem Gedichteschreiben begonnen, Texte, die er selbst „Worte in Versen“ nannte. Während er im Journalismus seiner Zeit hinter jeder konventionellen Phrase ein falsches Bewusstsein vermutete, gestattete er sich in seiner Dichtung durchaus Pathos und Feierlichkeit.
Ein Schlafloser schaut in der Morgenfrühe aus dem Fenster und sieht einen Wagen, in dem ein Toter liegt – es ist eine kleine memento mori-Szene, die Kraus in einen poetischen Zyklus des Jahres 1930/31 aufgenommen hat. Da ist nichts von jenem entlarvenden Gestus, den Kraus in seiner Publizistik kultivierte. Hier dominieren vielmehr ein romantischer Ton und eine klassische Form. Es spricht ein einsames Ich, das auf seine Vergänglichkeit verwiesen wird.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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