KURT SCHWITTERS
Auf einem blauen Kinderbuch
Auf einem blauen Kinderbuch
Lag ruhig schlummernd ein Herr Kuch.
Er kam von einer Platte Kuchen
War weggesteckt, man sollt ihn suchen.
Doch niemand hatte ihn gefunden,
Und langsam rannen ihm die Stunden.
Da schlief er ein aus Langeweile,
Kuch hatte eben keine Eile.
Da kam ein Kind und sah den Kuch
Festschlafend auf dem blauen Buch,
Das aß ihn auf mit Wohlbehagen,
Da kam der Kuchen sozusagen
Hinunter in des Kindes Magen.
nach 1920
aus: Kurt Schwitters: Das literarische Werk. Bd. 1: Lyrik. Hrsg. v. Friedhelm Lach. DuMont Verlag, Köln 1973
Der Universalkünstler, „Merz“-Dichter und experimentelle Grafiker Kurt Schwitters (1887–1948) hat immer von einer „Paradiessprache der Zeichen“ geträumt, in der neue, überraschende Bedeutungsordnungen auftreten. Aus dem Spiel mit Klang und Reim vermochte er eine teils ironische, teils komische oder fantastische Spannung aufzubauen. In einigen hinreißenden Kindergedichten hat er den gängigen Märchen-Ton mit einer alogischen Handlung und kalauernder Banalität in schöner Konsequenz verbunden.
Was dem „Herrn Kuch“ in diesem nach 1920 entstandenen Gedicht widerfährt, ist nicht durchweg heiter. Schließlich wird er das Opfer von vorsätzlichem Kannibalismus. Aber es tröstet der Umstand, dass der ominöse „Herr Kuch“ ja nur um des Reimes willen einen Personenstatus genießt. Man kann ihn auch aus seiner Menschen-Identität entlassen und ihn nur als temporär verschollenen Teil eines Gesamtkuchens begreifen. Sicher ist, dass „Herr Kuch“, wie viele andere lyrische Erfindungen aus Kurt Schwitters’ Feder, eine Menge Lesespaß bereitet.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
Schreibe einen Kommentar