MAX BENSE
MEIN Standpunkt und der Kirschbaum oder die Wegfahrt und der Überblick
oder die Handhabe und das Fortbleiben oder Josef K. und der Vormärz
oder die Polizei und das dritte Fenster oder ein Horizont und das
zerrissene Blatt oder der Duft und der Anflug das Verwelkte und das Schiff
oder das Unerwartete und das Wort oder die Zärtlichkeit und das Gehn
oder das Lesebuch und das Selbst oder die Nachwelt und Paris oder das
ermüdete Sein und noch ein Händedruck oder irgendwo und Niemand
1961
aus: Max Bense: Bestandteile des Vorüber. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1961
Der Sprachphilosoph und experimentelle Poet Max Bense (1910–1990), hat sich ein intellektuelles Vergnügen daraus gemacht, in einer zeichentheoretischen Analyse (von 1966) die unterschiedlichen Dimensionen seines Textes freizulegen. Der Wortvorrat seiner experimentellen Übung, so bekannte Bense, bestand aus „rund 1.200 Wörtern der Literaturbeläge einer Tageszeitung mittlerer Auflage“. Bei der Verknüpfung der einzelnen Substantive sollte ein direkter Aussage-Charakter (eine „dicentische Bedeutung“) vermieden werden.
In der willkürlich erscheinenden Reihung von Substantiven, die durch die Konjunktionen „und“ oder „oder“ verbunden sind, gibt es durchaus Motivkerne, skizzenhaft miteinander verschränkte Bedeutungs-Felder, die nicht im einzelnen ausgeführt werden: das Thema der Trennung, der Vergänglichkeit, der Melancholie („das ermüdete Sein“). Der entschlossene Subjektivismus des Gedicht-Eingangs („MEIN Standpunkt“) wird am Ende durch den Verweis auf „Niemand“ aufgehoben.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
Schreibe einen Kommentar