NATHALIE SCHMID
die kindheit ist eine libelle
sie schwirrt um den teich im garten
wenn es schnee hat hackt sie eis bis man die fische wieder
atmen sieht für das kind
das kind hat es auch einen namen
es heisst lisabelle
und wie punkte im schnee
fallen die buchstaben wie krähenfüsse
im himmel schwarz und deutlich
sie kann jetzt lesen endlich kann sie lesen
immer wieder am meisten ihren namen
nach 2000
aus: Nathalie Schmid: Die Kindheit ist eine Libelle. Lyrikedition 2000, München 2005
Gedichte leben manchmal von der Magie der Namen und deren lautlicher und semantischer Strahlung. Die junge Schweizerin Nathalie Schmid (geb. 1974), die ein Studium am Literaturinstitut in Leipzig absolviert hat, entwickelt ihr Gedicht im Assoziationsfeld zwischen einem Tiernamen und einem (fiktiven) Personennamen. In seinem Kern lässt sich das Gedicht auf das unablässige Murmeln eines Kinderverses reduzieren: „libellelisabelle“. Nathalie Schmid verwebt diesen Namenszauber in eine märchenhafte Szenerie.
Die Libelle erscheint hier als Wundertier, die sich in die Existenz eines Kindes, „lisabelle“, gleichsam eingeschrieben hat. Die zweite Strophe spricht von der Initiationsszene der Kindheit: dem Erwerb der Lesefähigkeit. Und nun sind die Buchstaben die Wunderkörper, von denen sich das Kind faszinieren lässt, um jenes in der ersten Strophe entfaltete Namensspiel zu realisieren: „libelle-lisabelle“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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