WALTHER VON DER VOGELWEIDE
Ich hab mein Lehen
Ich hab mein Lehen, alle Welt, ich hab mein Lehen!
Nun fürchte ich nicht mehr den Februar an den Zehen
und werde alle schlechten Herren um nichts mehr bitten.
Der edle König, der mildtätige König hat für mich gesorgt,
dass ich im Sommer kühle Luft und im Winter Wärme habe.
Bei meinen Nachbarn bin ich viel geschätzter:
Sie sehn mich nicht mehr als Schreckgespenst, wie sie es einst taten.
Ich bin zu lange arm gewesen ohne meine Schuld:
ich war so voller Schelte, dass mein Atem stank.
Das hat der König rein gemacht und mein Singen dazu.
(übersetzt von Margherita Kuhn)
um 1220
Dieser berühmte Jubelruf des mittelalterlichen Dichters und Minnesängers Walther von der Vogelweide (um 1170–1230) ist die Reaktion auf die Befreiung aus einer Notlatge. Denn die Lage des freien, autonomen Künstlers, der keinem Fürstenhof, keiner Partei und keinem Staat dient, ist seit je prekär. Nach vielen Jahren des poetischen Vagabundierens hatte Walther einen Gönner gefunden, der durch die Gewährung eines „Lehens“ – meistens ein Grundstück, Landgut oder ein Adelsbrief – sein materielles Elend beendete.
Bis zu dem Zeitpunkt der Gewährung des Lehens durch den Stauferkönig Friedrich II. – vermutlich um das Jahr 1220 – hatte Walther bereits eine unrühmliche Geschichte von Zerwürfnissen mit Fürsten hinter sich gebracht. Kein Wunder, dass sein „Atem“ voller Scheltworte war: Denn verhöhnt hatte er zuvor die Herrscher, wie zum Beispiel den Kaiser Otto IV., die ihm das ersehnte Lehen verweigert hatten.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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