STOFFWECHSEL
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaHieronymus Bosch
Ich öffne das buch. Ich betrete ein haus.
Dort wird einer geboren: ich. Aber
ich öffne ein fenster und klettre hinaus.
Auf der straße am kandelaber
hängt einer, schwarzhäutig, streckt
seine zunge heraus: ich. Indessen
verlaß ich die stadt. Im kornfeld neckt
einer nackt eine nackte: ich. Sie fressen
eines das andre – abendmahl. Doch
ich steh schon am kreuzweg. Dort stritten
zwei. Nun hat der eine ein rotes loch
im bauch und schreit: ich. Der andere, mitten
im dom auf der säule, entmannt sich: ich.
Ich senke den blick. Unter mir schimmert
die weltzentrale. Dort schläft einer: ich.
Einer bedient dort den knopf und wimmert:
ich. Ich wende mich ab, ich steig in den zug.
Wir rollen durch nächte und spielen
schach: ich gegen mich. Draußen im funkenf1ug
glüht einer: ich. Falle, ohne zu zielen,
finde das weiße blatt: mich. Brenne aus.
Springe frisch aus dem feuer, gesalbt und erkoren:
ein buch wird geöffnet, betreten ein haus,
dort einer geboren… Ich, ich, ich, ich…
Hans Richter: Vorne daheim
Neue Deutsche Literatur, Heft 6, 1973
(…) Paul Wiens (1922–1985) mußte als Elfjähriger aus rassischen Gründen mit seinen Eltern emigrieren. Über mehrere Länder gelangten sie schließlich nach Österreich, als die Nazi-Deutschen auch dort einmarschierten. Wiens wurde als Jugendlicher inhaftiert. Im Lager stieß er auf den Marxismus.
1947 kehrte er – 25jährig – nach Ostberlin zurück und arbeitete zunächst als Lektor. Er brachte seine eigenen Verse ein, um das Staatsschiff mit dem Kapitän Partei lenken zu helfen:
Und vorwärts!
Denn vorn
schwimmt auf roter Barkasse,
den Blick zu den Feuern der Frühe gewandt,
den Kurs klug bestimmend,
die Karte zur Hand,
der Käpt’n:
– die kühne Partei der Klasse
Matrose von morgen!
Das Steuer
fasse!1 (439/143)
Und Wiens wurde zum flinken Reimer für die Arbeiterklasse, der seine flotten Sprüche rasch zur Hand hatte. Um den 17. Juni 1953 schrieb er sein frommes vermächtnis, das in die Schullesebücher kam und zu Jugendweihfeiern als Weihspruch fortan obligatorisch wurde:
Das sei unser vermächtnis:
ein gutes, ein scharfes gedächtnis –
und unsere hinterlassenschaft:
ein sommer voller licht und saft,
ein sommer – windig, aber weich,
tief, tief der wald, die äcker reich,
die straßen um die erde breiter ,
die leute herzlicher, gescheiter,
haut und gedanken ohne beulen,
gedichte an den anschlagsäulen,
mit liebe jedes haus umlaubt,
froh jedes kind – und überhaupt
ein tropfen nur des volkes bitterkeit,
sein glück jedoch – wie alle meere weit…2
Optimistisch, witzig, spritzig floß es ihm aus der Feder. In den fünfziger Jahren stand er dann mit den FDJ-Bataillonen auf der Wacht und reflektierte über Träume:
Über dem panzerturm
wehn sie, dem wind zu willen.
Sie sind die ruhe im sturm,
sie sind die unruh im stillen.
Mitten im blutigen streit
glutet ihr schimmer.
Wann ist für träume zeit?
Nie.
Und immer.3
Und als laut Parteiauftrag die heitere Muse mobilisiert werden sollte, schrieb Wiens ein heiters Knüpflied, das später besonders von den Singeklubs gesungen wurde und dann tatsächlich so etwas wie kurzlebiges Volksgut geworden war.
Doch bald wandte er sich hehreren Gegenständen zu: Zwischen mir und dem Nichts und dem All. Ob seiner Gesellschaftseuphorie von H.M. Enzensberger kritisiert, schlug Wiens im Vorwort seines Dienstgeheimnis-Bandes 1968 hämisch-polemisch zurück, den Dichter im Dienst als großen gesellschaftlichen Vorzug und als ideologische Hängepflicht anpreisend:
Auf ein schlagwort, meine mal werten, mal unwerten Hänse und Magnusse von der frankfurter würstchenschule!
Freilich, während ihr wertfreies hochwertet, neige ich dazu, vollwertiges für wertvoller zu halten. Mit macht. Ich bin und bleibe mein kleines leblang und mein kleines liedlang im dienst, ich habe meine vorschriften.
So tu ich denn, was ich muß, und treibe es tendenziös in die richtung… Ich segne dauernd das zeitliche, wortwörtlich – ich hänge daran.4 (462/10)
Das war 1968, und die frankfurter würstchenschule war Zentrum einer gewaltigen Außerparlamentarischen Opposition, die – ob ihrer Sozialismus-Revision und massiven gegenstaatlichen Renitenz – in der DDR zur Zeit des Prager Frühlings mindestens ebenso gefürchtet und daher vehement verdrängt wurde wie die Idee von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz.
Doch bald schon verfing sich Wiens in seinen abstrakten Wortspielen. Die Sprache blähte sich und trieb zusehends künstliches Geblüh hervor. Zwischendrin allerdings auch originelle Bilder und Vergleiche: Wir stürzen ins ohnwort… der augenblick lebenslang… das flußbett der erinnerung… lebenszeit / fragezeit auf windiger Brücke…
Das ließ aufhorchen, aber der Weizen saß allzu gewollt in der Wortespreu, die spruchweis und vollmundig von Siegesgewißheit kündete:
Das jahr zweitausend naht,
das jahr dreitausend dämmert.
Hol dir beizeiten rat
bei einem, der sie hämmert!5 (463/57)
Eine verschwollene, ausgeblutete Lyrik, die sich laut in abstrakter Rhetorik erging. Da hatte einer versucht, Parteiwort und -programm poetisch umzunieten, und er war damit genauso gescheitert wie einst ein B. Brecht, als der das Kommunistische Manifest in antike Hexameterschläuche abfüllen wollte.
(…)
Edwin Kratschmer: Dichter · Diener · Dissidenten. Sündenfall der DDR-Lyrik, Universitätsverlag – Druckhaus Mayer GmbH Jena, 1995
Richard A. Zipster: DDR-Literatur im Tauwetter. Band III. Stellungnahmen
PAPIERBLUME
Für Paul Wiens
Nicht dumpfen Rocks aufs taube Gelege gehockt (das dauert,
das dauert), sondern von fremden Blüten verlockt.
Nicht auf erbender Scholle versauert.
Mit langem Schnabel Honig gesucht, nicht Tafelkrumen
gepickt. Nicht fremde Muster umgebucht.
Feinere Fäden verstrickt.
Die eigenen Eier bebrütete Gott. Herr, sei ferner
ihr Hirt. Manch blasser Kelch trug ihm Kompott.
Das Hofhuhn krähte. Der Kolibri schwirrt.
Richard Pietraß
DAS ENDE DER GITARREN
In memoriam Paul Wiens
Für Hilde und Wytse Noordhof
Die Aufrichtigkeit kennt ein Gebot: den Hunger. Der Hunger
ist aufrichtig. Seine Ödeme, von allesverletzender
Deutlichkeit, ersetzen die Metaphern in den Gedichten des
einundzwanzigsten Jahrhunderts. Sie werden – dafür
vermenschliche ich mich! – reimlos sein. Und unausschreibbar.
Die Entlastungsschrift für meine Existenz wird unauffindbar
bleiben. Ich bin so hartbesaitet. Die Wirbel am Hals
meiner Kultur, noch am Boden verhelfe ich ihr zu Resonanz,
sind die Drehpunkte meiner logischen Exzesse.
Ich kann nicht so tun, als könnte ich für nichts. Ich
kann für alles, wovon ich weiß. Manchmal, nach der Liebe
und nach dem Essen, nach dem reichlichen Trinken, kotze
ich mich an. Es wäre gelogen, wenn ich sagte, daß ich das
wollte.
Jürgen Rennert
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